Paubry: Neues zum Lehrermangel – Der Zusammenzwang, BLOX, 4

Der Lehrermangel hat sicherlich verschiedene Gründe, aber nicht alle sind im Gespräch. Zum Beispiel der Zusammenzwang. Damit meine ich die Erwartung, dass die Schule regelmässig in der Öffentlichkeit als Einheit auftreten soll. Das erfordert ständige Teamarbeit, wie von Reformern dringend gewünscht, und somit Ablenkung von einem Kerngeschäft, das anspruchsvoll geworden ist.


Die Stofffülle auf Primarstufe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gefühlt verdreifacht. Die Lehrkräfte haben also mit ihrem Kerngeschäft alle Hände voll zu tun. Neun Fächer oder mehr sind unter einen Hut zu bringen, sprich neun ausgefeilte Jahrespläne. Um so erfreulicher ist es, wenn Schulleitungen mitsamt Logopädie, Schulischer Heilpädagogik und Psychomotorik in Inseraten ihre «tatkräftige Unterstützung» zusichern. Leider ist das Augenwischerei. Einerseits deshalb, weil diese Unterstützung erst erfolgt, wenn es Probleme gibt. Bis dahin bleibt die Lehrperson mit ihrem Kerngeschäft wie seit je allein. Andererseits ist diese Unterstützung dann mit einem bürokratischen Aufwand verbunden, der beträchtlich ist. Zum Beispiel muss neuerdings die Lehrkraft bei der Anmeldung zu einer schulpsychologischen Abklärung in drei getrennten Gesichtspunkten angeben, ob das Kind seine Wünsche angemessen äussert, seine Meinung angemessen äussert und seine Kritik an anderen angemessen äussert, wobei die Angemessenheit mit drei bis fünf Graden zu qualifizieren ist.

Die wohlwollende Unterstützung von allen Seiten lenkt also vom Kerngeschäft ab, indem sie zusätzliche Belastung bringt.

Aufschlussreich ist die Unterstützung vonseiten der Schulleitung besonders deshalb, da sie dafür sorgt, dass die Schule als Einheit auftritt. Bei allem Wohlwollen, das die Schulleitung den Lehrpersonen entgegenbringen mag, ändert sich nichts daran, dass sie letztlich Funktionärin der Bildungspolitik ist, sowie eine insgeheime Beschwerdestelle für Eltern und Sonstige. Zu den Disziplinen, die für Einheitlichkeit sorgen, gehören Quartalsbriefe an die Elternschaften mit möglichst vielen Daten zu Anlässen, die belegen, dass die Schule dynamisch am Ball bleibt: Sportanlässe, Adventsanlässe, klassenübergreifende Kleinprojekte, Lager, Exkursionen, Pausenevents, Sonderwochen, bei der ganzen Stufen zusammenwirken, sowie Projektwochen vornehmlich gegen Ende des Jahres, an der alle teilnehmen, vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse. Da schlagen die Herzen höher, wenn Frühpubertierende die Kleinsten an der Hand nehmen, die erst halbwegs trocken sind. Ein pädagogischer Kitsch sondergleichen. Die älteren Kinder tun das gewiss nicht von sich aus, sondern auf Anweisung hin. Auch beschweren sie sich, warum man sie andauernd mit den Kleinen mischt. Ein gemeinsamer Sporttag, bei dem sich die älteren Kinder gerne mit Weitsprung und Ballwerfen messen würden, gerät für sie zu läppischen Spielen, wie etwa ein Wettrennen auf Holzskiern quer über den Rasen, wobei sie sich unentwegt um die Kleinen zu besorgen haben. Dieser Kitsch vom Zusammenzwang missachtet Befunde der Entwicklungspsychologie. Diese hebt klar hervor, dass die Bedürfnisse unterschiedlicher Alter in diesem eng bemessenen Zeitraum weit auseinanderklaffen. Diese Wissenschaft empfiehlt ihre beliebige Mischung wohl nur unter Vorbehalt. Und wir wären eigentlich demokratisch verpflichtet, ernst zu nehmen, was die Wissenschaft sagt. So kommt es also wiederholt zu Grossanlässen, mit einer beispiellosen Organisierwut und viel Pressarbeit. Musicalevents oder Zirkusaufführungen. Mit allem, was dazu gehört, vom Poppkorn bis zur Programmgestaltung. Landauf landab wetteifern Landschulen mit prunkvolleren Events. Zwar gibt es dafür pfannenfertige Angebote einzukaufen. Ganze Zirkusse, die mit schulischen Anlässen ihr Geld verdienen. Auch einzelne Spezialisten bieten Workshops an, die auf die Schule zugeschnitten sind. Das mag die Arbeit der Lehrperson auf den ersten Blick erleichtern. Der besondere Rahmen dazu gehört gleichwohl organisiert und betreut: Sonderzeiten, Sonderfahrten der Schulbusse, Verköstigung, Betreuung in Leerzeiten, Kommunikation zu den Fachkräften, die man eigens beizieht, Ausnahmeregelungen mit einzelnen Eltern, Gruppenbildung und die Schwierigkeiten regeln, die damit einhergehen. Dies alles versteht sich derart von selbst, dass man sich fragt, was daran zu kritisieren wäre. Nun ganz einfach: Diese Anlässe lenken andauernd vom Kerngeschäft ab. Das führt mich zu einer Art Formel:

Der Lehrermangel beruht darauf, dass nicht nur das Kerngeschäft in erheblichem Masse ausgebaut wurde. Auch die verpflichtenden Ablenkungen davon, die dazu dienen, die Schule als Einheit zu bekräftigen, hat man aufgestockt.

Die Frage scheint mir berechtigt: Wozu dient diese Einheit? Warum dieser Zusammenzwang, über den es auch keine Grundsatzdebatte gibt? Sofern es sie denn gegeben hat. Offenbar ist es ausgeschlossen, dass eine einzelne Lehrperson mit ihren Klassen eigenmächtig Sonderwochen, Ausflüge und Projekte durchführt. Diese Eigenbrötlerei wird heute rundweg abgelehnt, sie gilt als anfällig für Willkür. Und dafür gibt es einschlägige Beispiele genug. Aber es gab auch unter Lehrkräften vergangener Semester Sonderlinge, die ihr Kerngeschäft hervorragend betrieben. Ihr Beispiel fiel unter den Tisch, nur die willkürlichen Eigenbrötler bestimmten die Politik, die verlangt, dass man Lehrpersonen zu Teams zusammenzwingt. Ich bin überzeugt, dass hierzu keine Daten greifbar waren, die die Willkür von Einzelgängern unter Lehrkräften signifikant belegt hätten. Die Überzeugung von der Willkür von Lehrkräften infolge ihrer Eigenbrötlerei beruht auf der Erfahrung einer ganzen Generation, die für die Reformen verantwortlich zeichnet und sich auf ein miserables Lehrerbild verständigt hat, das wissenschaftlich nicht aufbereitet ist. Eine weitere Formel, die für diese Leute handlungsweisend war, könnte wie folgt lauten:

Lehrpersonen neigen zu Eigenbrötlerei und damit zu Willkür und Machtmissbrauch. Sie tun, was sie wollen. Also gehören sie kontrolliert durch Lernzielmanagement und Teambildung.

Teambildung ist für wirtschaftliches Projektmanagement von der Sache her unabdingbar, während sie im Bereich Bildung keine Notwendigkeit hat. Im wirtschaftlichen Projektmanagement arbeiten unterschiedliche Fachleute zusammen: Programmierer, Designer, Ingenieure. Lehrkräfte sind Pädagogen ohne Spezialisierung. Dennoch wird ihre Zusammenarbeit für hochdringend befunden. Mitarbeiter eines Wirtschaftsprojekts wirken ausserdem nur auf Zeit zusammen, während die Lehrpersonen einer Schule Jahr für Jahr ihre Teamfähigkeit mit den immer gleichen Leuten zu beweisen haben.

Der notorische Zusammenzwang zu Teams ist vermutlich ideologisch bedingt. Zwar gibt es gewiss eine Handvoll Kompetenzen, die sich dank solch gemeinsamer Anlässe abhaken lassen, wie der Lehrplan sie vorsieht. Diese Anlässe sind also hinreichend zu ihrer Erfüllung, aber sind sie auch notwendig dazu? Ich bin sicher, die nämlichen Kompetenzen liessen sich auch anderweitig beschulen. Dieser Zusammenzwang hat meiner Ansicht nach zwei ideologische Wurzeln. Die eine ist in pädagogischen Reformen zu finden, wo man eben diese autoritäre Eigenbrötlerei durch klassenübergreifende Zusammenarbeit zu überwinden hoffte. Ich erinnere mich an Lehrkräfte alter Schule, die sich weigerten, an einer solchen Vermischung mitzumachen. Dies mit der Begründung, man würde so nichts lernen. Das klingt zugegeben wohl eher abgestanden, als weise.

Dennoch ist es heute der Fall, dass der Lernzuwachs solcher Anlässe nicht gemessen wird. Es bleibt bei der Organisierwut, die Kräfte verzehrt, und bei ein paar Rückmeldungen, die man zehn Minuten vor Ende der gemeinsamen Veranstaltung noch flüchtig einzieht. Wie immer geht es in der Praxis darum, dass man Listen überprüfbar abarbeitet, damit die Kirche im Dorf bleibt. So macht man es sich allabendlich vorwurfsfrei auf dem Sofa bequem.

Die zweite Wurzel sehe ich im Unternehmertum als Vorbild für Schulen. Eine Firma tritt einheitlich auf. Das beginnt damit, dass man Lehrpersonen wie im Management üblich vor dem genau gleichen unscharfen Hintergrund abfotografiert und im genau gleichen Winkel zur Kamera gewandt. Dieses Vorbild hält sich hartnäckig, obwohl Fachleute seit Langem das Ansinnen verneinen, man könne Grundsätze der Wirtschaft einfach so auf Schulen übertragen. Dann wäre nach dem Produkt zu fragen, das die Schule als Unternehmen erzeugt. Allerdings untersagt es sich, dass man junge Menschen, die mit einer Handvoll Kompetenzen ausgebildet sind, als Produkt zu behandeln. Auch findet sich in der Wirtschaft kein Unternehmen mit Zwangskunden. Im Übrigen sorgt das Steuerwesen dafür, dass die Einnahmen einer Schule Jahr für Jahr konstant hereinsprudeln.

Die Schule als Unternehmen erachte ich aus diesen Gründen als naiven Unsinn.

Bleibt der einheitliche, möglichst pompöse Auftritt in der Öffentlichkeit, der eine Schule scheinbar zum Unternehmen macht. Mir sind einige Lehrkräfte bekannt, die gerne beim Kerngeschäft blieben, Unterricht und Elternarbeit miteingerechnet, wenn nur dieser ganze Zirkus rund um die Schule nicht wäre.