Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)

«Verpuppt» – je eine Lesung von Ana Marwan im Literaturhaus Thurgau und am «Wortlaut» St. Gallen

Ana Marwans Sprache beeindruckt. An zwei Lesungen in der Schweiz, im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben und am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen, bezauberte die slowenische Schriftstellerin mit Bild- und Sprachkraft, die noch lange nachhallen wird!

“Die Anreise per Boot und Zug nach Gottlieben und der wild blühende Baum vor dem Zimmer im Literaturhaus waren ein Anfang, dem der Rest im gleichen Takt folgte. Es war eine wunderbare Lesereise, meine erste in die Schweiz. Danke, Gallus, für die Einladung, Moderation, und besonders für deine vertieften Leseweisen und bereichernden Gespräche!“ Ana Marwan

„Verpuppt“ („Zabubljena“) wurde in Slowenien 2021 als „Bestes Buch des Jahres“ ausgezeichnet. 2022 gewann Ana Marwan den Bachmannpreis mit ihrem Text „Wechselkröte“. Ana Marwan hat Romanistik studiert, hat sich mit Fotographie auseinandergesetzt und widmet sich seit bald 10 Jahren nun ganz dem Schreiben. 2019 kam ihr Roman „Der Kreis des Weberknechts“ auf die Bühne der deutschen Literatur, ein Roman, dessen Dichte und Kunst schon damals überraschte und überzeugte. Im vergangenen Jahr trat Ana Marwan im Otto-Müller-Verlag die nicht ganz einfache Nachfolge von Karl-Markus Gauß an, als Herausgeberin der Zeitschrift „Literatur und Kritik“.


Die junge Rita landet in der geschlossenen, psychiatrischen Klinik, ohne Möglichkeiten mit der Aussenwelt, ausser durch gelegentliche Besuche, in Kontakt zu kommen. Sie war schon als Mädchen anders, viel mehr nach innen orientiert, als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Warum Rita in die Psychiatrische eingeliefert wurde, kann zumindest ich bloss erahnen. Aber eine nicht unwesentliche Rolle dabei hat wohl ihre Mutter gespielt – Frau Klammer. Im Laufe einer Therapie ermuntert man Rita zu schreiben. Und Rita schreibt, beschreibt ihre Innenwelt. Eine Innenwelt, die kein Abbild der Realität ist, sie aber sehr wohl spiegelt. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klink, aber von einem Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt, in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einen Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet.


Ana Marwans Roman liest sich, als wäre es der aufgewickelte Seidenfaden jener Puppe, die die Protagonistin Rita umwickelt, der sie einengt und einschnürt, der sie aber auch schützt vor der Welt „draussen“. „Verpuppt“ ein Versuch, die Welt ausserhalb dieser Puppe zu verstehen. „Jede Geschichte ist Gewalt über das Leben.“ Rita fürchtet sich, ihre Sprache zu verlieren. Eine Angst, die angesichts dessen, was aktuell in der Welt passiert, nachvollziehbar ist. Ritas Therapeuten legen ihr ans Herz, Herr Jež sei der Schlüssel. Rita schreibt sich immer mehr in die Nähe dieses Herrn Jež, seinem Leben, seiner verlorenen Ehe, seiner Einsamkeit. Rita erzählt von der Welt, die sie sich macht, einer Welt im Kopf.

Ana Marwans Roman ist nicht plottorientiert, entzieht sich in vielem den gängigen Mustern der Unterhaltung. Bei der Lektüre ihres Buches hatte ich das Gefühl, als ob die Synapsen meines begrenzen Verstands dauernd gezwungen sind, neue Verbindungen, Kopplungen einzugehen. Sie schreibt, um Bilder zu erzeugen (Fotografie, die sich dem reinen Abbilden entziehen), um Geschichten zu erzählen, aber nie, um zu erklären, zu klären, schon gar nicht, warum Rita dort ist, wo sie ist, in der Psychiatrie. Ana Marwan möchte „schön verbergen“.

Lesung am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen

Ihr Roman ist voller Sätze, die man wie Sprachperlen mitnehmen und nicht mehr hergeben möchte. Ein Beispiel: «Das schöne an verpassten Gelegenheiten ist, dass uns nichts hindert, sie Gelegenheiten zu nennen.“ Immer wieder Sätze, über die man mit Vergnügen stolpert. „Jeder Künstler ist lieber begabt als fleissig, eher ein König denn ein Arbeiter.“ Noch so ein Satz. Oder „Gott sei dank schützt uns die Etikette vor allem, zu was uns der Wusch zwingen möchte, sie schützt uns wie eine starre Ritterrüstung.“ Oder „In der Handtasche hatte sie einen Taschenspiegel, um sich von Zeit zu Zeit zu vergewissern, wer sie war.“

Rezension zu «Verpuppt» auf literaturblatt.ch

Ana Marwan «Die Wechselkröte» Siegertext Bachmannpreislesen 2022 auf der Plattform Gegenzauber

Rezension zu «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Philipp Frei