Urs Augstburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger

Würde man die Romane Urs Augstburgers mit „Bergroman“ etikettieren, würde man seinen Büchern ebenso wenig gerecht werden wie mit „Ökoroman“ oder „Unterhaltungsroman“. Urs Augstburgers Romane sind nahe an der Zeit, virtuos erzählt und zusammen mit seinen Auftritten der verschriftlichte Teil eines Gesamtkunstwerks.

Nach dem ersten Teil seiner Trilogie „Das Dorf der Nichtschwimmer“ erzählt Urs Augstburger in „Das Tal der Schmetterlinge“ wieder von einem Stück aktueller Geschichte, die beim Erzählen bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg greift. Von einem Dorf im Berner Oberland, von Althäusern, einem still gewordenen Dorf im Schatten einer mächtigen Felswand, die ein explosives Geheimnis birgt. Nach dem letzten Krieg wurden in weit verzweigten Kavernen im Innern des Felsmassivs, wie an verschienenen anderen Orten in der Schweiz, explosives Kriegsmaterial gelagert. Obwohl es kurz nach dem Krieg zu einer fatalen Explosion gekommen war, die Althäusern in Schutt und Asche legte und nicht nur Tote und Verwundete forderte, sondern Generationen traumatisierte, verschwieg man der Bevölkerung, dass selbst nach dem verheerenden Unglück noch immer hunderte Tonnen im Berg wie eine Zeitbombe ticken. Man baute das Dorf an gleicher Stelle wieder auf und demonstrierte mit der Anwesenheit von Soldaten im Wiederholungskurs Sicherheit. Bis kurzfristig eine Versammlung im Ort einberufen wird und eine Bundesrätin beruhigen soll.

Urs Augsburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger, 2023, 390 Seiten, ca. 39.00 CHF, ISBN 978-3-03762-103-5

Die Szenerie dieses Buches erinnert sehr an die Geschehnisse rund um die Katastrophe im Bernischen Mitholz, als im Dezember 1947 durch unkontrollierte und völlig überraschende Explsionen in einem Munitionslager im Fels tonnenschwere Felsbrocken durch die Luft geschleudert wurden und riesige Stichflammen eine Explosion begleiteten, die noch in über hundert Kilometern Entfernung registriert wurde. Die Detonationen brachten nicht nur Tod und Verletzungen und zerstörten grosse Teile des Dorfes Mitholz. Weil noch immer riesige Mengen hochexplosiven Materials im Berg lagern, wird man gezwungen sein, zumindest einen Teil der momentanen Bevölkerung des Dorfes umsiedeln zu müssen. Ein Prozess, bei dem Regierung und Verantwortliche über Jahrzehnte ein „Spiel mit offenen Karten“ verweigerten.

Urs Augstburger transformiert die Geschehnisse in ein fiktives Dorf, ein Dorf, das mit sofortiger Wirkung geräumt werden muss, in dem sich die Geschehnisse überstürzen und nichts darüber hinwegtäuschen kann, dass die Felswand hinter dem Dorf zum Inferno werden wird.

Meret Sager, eine inovative Wissenschaftlerin und Sartupgründerin, die sich um Nachhaltigkeit und zukunftsgerichtete Energiegewinnung bemüht, wird von einem geheimnisvollen Auftraggeber nach Althäusern gerufen. Sie soll in einem Seitental unweit des Dorfes ein ernergieautarkes Dorf planen und bauen. Meret Sager ist sich nicht sicher, ob sie nur für ein versponnenes Grossprojekt gelockt wurde, oder ob hier in den Bergen genau das umgesetzt wird, was in ihren Augen unumgänglich ist. Meret ist nicht gezwungen den Auftrag anzunehmen und weil der geheimnisvolle norwegische Geldgeber, der sich im Schloss unweit des Dorfes eingerichtet hatte, durch Corona unabkommlich ist, rutscht Meret in ein Dazwischen, in dem sich die nicht mehr ganz junge Frau klar werden muss, wie ihre eigene Zukunft aussehen soll.

„Im Tal der Schmettlinge“ erzählt in zwei Strängen, von den Geschehnissen damals, als in den Jahren nach dem Krieg Althäusern fast ganz zerstört wurde und das Leben vieler Familien aus der Bahn warf, vom noch fünfzehnjährigen Res, dem die Explosion nicht nur einen Grossteil seiner Familie wegriss, sondern jene Liebe, die die seines Lebens hätte werden können. Vom Wiederaufbau eines Dorfes und der scheinheiligen Sicherheit, die Militär und Regierung an den Tag legten, um die weiter drohende Katastrophe hinter dem Fels zu verbergen. Und in der unmittelbaren Gegenwart, in der immer wieder auftretenden Gewässerverschmutzungen und langsam durchsickernde Tatsachen nicht mehr verheimlichen lassen, dass eine erneute Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Von einer starken Frau mit einer Vision, von jahrzehnte langer Schuld, von versuchter Wiedergutmachung und einem Land, einem Staat, die sich schwer tun, sich nicht wieder gutzumachenden Fehlern zu stellen.

Mag sein, dass das eine oder andere des Romans reichlich konstruiert erscheint. Ich hätte dem Roman mehr Unaufgelöstes gegönnt, jene unfertige Dramatik, die die Realität ausmacht. Aber „Das Tal der Schmetterlinge“ ist sattes Kino, Spannung pur und in seiner Erzählweise erfischend unschweizerisch.

Interview

Die Bergwelt hat es Ihnen ganz offensichtlich angetan, längst nicht erst mit „Das Tal der Schmetterlinge“. Auf der Einen Seite suggeriert die Begwelt Ewigkeit, Beständigkeit, Festigkeit. Auf der anderen Seite demonstrieren Ihre Romane sehr oft, dass dieser Fels alles andere als ewig starr ist. Und dass das Starre etwas mit den Menschen dort macht. Ich als Unterländer kann nur schwer verstehen, dass man sein Haus unter einer steilen Felswand bauen kann, mit oder ohne Munition dahinter. Steckt in Urs Augstburger ein Bergler?
Oh ja, ich bin rund drei Monate im Jahr in Disentis und immer wieder in all den andern Bergregionen. In Disentis meist im Winter, dort entstanden viele meiner Bücher. Und tatsächlich, auch ich fühle mich am Fuss einer Wand immer wohl, eher beschützt als erdrückt. Früher zumindest. Wenn man Zeit in diesen Bergdörfern verbringt, kommt man bald mal hinter die Klischees. Im Klimawandel sind die Bergler derzeit die ersten, die bitter erfahren müssen, dass gerade bei ihnen nichts für ewig ist. Schon in meinem Roman Wässerwasser von 2009 sahen sich die Romanfiguren gezwungen, den alten Glauben vom Reich der armen Seelen im ewigen Eis neu zu denken, weil das ewige Eis bald verschwunden sein wird. Der sagenhafte Zug der armen Seelen den Berggräten entlang hinauf zu den Gletschern verliert so sein Ziel. Und zugleich beginnen diese scheinbar unerschütterlichen Berge auch noch zu bröckeln. Die Bergler sind die ersten von uns, die all diese Veränderungen am eigenen Leibe erfahren. Jetzt schon. Auch wenn sie es nicht immer zugeben. Aber sie leben zu sehr mit und von der Natur, als dass sie sich noch etwas vormachen können.

Ihr Roman führt ein Stück unrühmliche Geschichte zum Vorschein; die Fähigkeit von Regierung und Bürokratie, in diesem Land die Dinge im Verborgenen zu lassen. Kein speziell eidgnössisches Verhalten. Ob CS-Skandal, Fischenaffäre oder wie in ihrem Roman die Mitholz-Geschichte. Schönreden und Verschweigen – eine urmenschliche Fähigkeit? Eine Überlebensstrategie?
Das Munitionsdepot in Mitholz war tatsächlich eine der Inspirationen zum Tal der Schmetterlinge war. Und ja, dort ist für mich das grösste Rätsel, weshalb das Militär siebzig Jahre lang – siebzig! – verheimlicht hat, dass 3’000 Tonnen Munition im Berg liegen. Die Hälfte der ursprünglichen Gesamtmenge. Dass dem Militär damals niemand ernsthaft auf die Finger schaute, ist begreiflich, im und nach dem 2. Weltkrieg war das Militär allmächtig. Als hätten die Verantwortlichen damals das Unglück und ihre Verantwortung dafür schnellst möglichst verschleiern wollen, bauten sie das Dorf wieder auf, am alten Ort, direkt vor der Felswand. Als sei nichts geschehen. Eine unglaubliche Fahrlässigkeit, für die nun wieder die Opfer von damals oder ihre Nachkommen büssen müssen.

Die Katastrophe in Althäusern kündigte sich schon lange an, sei es mit dem Aussterben vieler Schmetterlingsarten, dem immer wieder auftretenden Fischsterben. Halvorsen, der norwegische Superreiche im Hintergrund plant ein Dorf zur Umsiedlung der Althäuser Bevölkerung, ein Musterdorf, den Prototypen zukünftiger Dörfer. Aber eigentlich ist doch auch das Augenwischerei, denn den Bedrohungen kann man sich nicht (mehr) durch Flucht entziehen. Nicht einmal mit der Flucht auf den Mars.
Doch was sollen wir tun? Was sollen wir in zehn, zwanzig Jahren unseren Kinder erzählen? Wir hätten aufgegeben, als es vielleicht noch Möglichkeiten gegeben hatte? Wir dürfen uns von denen nicht lähmen lassen, die den Klimawandel noch heute verleugnen, um ihre Partikularinteressen nicht zu gefährden und weiter ungestört Geschäfte zu machen. Wir müssen so viel wie möglich tun. Angenommen, alle Dörfer und vor allem die Städte würden ab sofort ökologisch umgebaut werden, sich dem beschriebenen Ökodorf annähern, dann wäre schon viel erreicht und der Temperaturanstieg könnte noch etwas begrenzt werden. Angenommen, es würden endlich genügend Anreize geschaffen, jedes Haus, jeden Wohnblock energiefreundlicher zu machen … Man darf sich ja nicht vorstellen, was man beispielsweise mit den CS-Milliarden im Energiebereich erreichen könnte. Das Militär wiederum spürt durch den Krieg in der Ukraine derzeit Rückenwind und will an allen Fronten aufrüsten, egal, wo es Sinn macht, und wo nicht. Gleichzeitig sorgen sich die Mitholzer, die wegen des Militärs ihre Heimat und ihr Heim verlassen müssen, noch immer, ob sie überhaupt zu ihren Entschädigungen kommen.

Meret Sager, die Protagonistin in der Gegenwart glaubt als Wissenschaftlerin an die Segnungen durch die Technik, glaubt an die Utopie einer Zukunft, die mittels technischer Errungenschaften den Kampf gegen das drohende Desaster aufnehmen kann. Es gibt nicht viele AutorInnen, die sich in der Literatur diesen Fragen stellen, zumindest nicht in der „ernsten“ Literatur. Ist doch eigentlich erstaunlich. (Ich pesönlich glaube, dass uns Wissenschaft und Technik helfen können. Aber vor allem wird er in Zukunft eine Frage des Verzichts werden.)
Diese Themen finden generell in der Schweiz und im ganzen deutschsprachigen Raum zu selten in literarische Stoffe. Schon gar nicht in spannende erzählte Stoffe. Ich wohl immer wieder versuchen, die perfekte literarische Parabel darauf zu finden. Der Kampf gegen den Klimawandel ist das wichtigste Thema unserer Zeit und ich staune, wie wenige darüber schreiben. Zu Ihrer Anmerkung: Verzicht liegt leider nicht in der Natur des Menschen, schon gar nicht in der der Männer, muss ich zu unserer Schande sagen. Verzichten werden wir erst, wenn wir dazu gezwungen sind. Das wird schon bald der Fall sein. Doch Verzicht allein wird nicht nützen, deshalb brauchen wir zugleich visionäre WissenschaftlerInnen, die gerade in den Bereichen der Brennstoffzellen und der Wasserstoff-Technik die Innovation vorantreiben. Dort sehe ich grosse Chancen.

Meret, die junge, dynamische, lösungsorientierte, anpackende Frau. Halvorsen, der alte weisse, reiche Mann im Hintergrund. In Ihrem Roman finde ich viele starke Frauenfiguren und viele Männer, die nur am Rand, marginal in die Geschichte eingreifen. Hätte die Geschichte auch mit vertauschter Rollenverteilung geschrieben werden können?
Nein. Das hat mit dem zu tun, was ich vorher angetönt habe. Männer können nicht verzichten, sind selten selbstlos, ich nehme mich da gar nicht aus. Frauen überlegen sie viel intensiver, welche Welt sie ihren Kindern überlassen, sie handeln grundsätzlich nachhaltiger. Hoffnung habe ich nur dank ihnen. Halvorsen ist der alte, reiche Mann im Hintergrund, ja. Spät hat er seine Lektion gelernt, immerhin aber, er will eigentlich das Richtige tun. Weil er jetzt, am Ende seines Lebens sieht, dass er zu lange das Falsche getan hat. Dass er aus Norwegen kommt, ist nicht zufällig. Das hat mit meinen eigenen Geschichten zu tun, aber auch mit der Wirtschaftsgeschichte des Landes. Dank des Erdöls ist es reich geworden, dank dieses Reichtums könnte es führend werden in der Greentech-Revolution. Im Grunde absurd! Aber wenn solche Länder wie Norwegen, wie die Schweiz auch, nicht voran gehen, wer soll es dann tun?

Der Schriftsteller Urs Augsburger zusammen mit Monika Schärer, Filmemacherin, Moderatorin und Journalistin, mitten in «Das Tal der Schmetterlinge – live!»

Urs Augstburger, geboren 1965 in Brugg, Journalist, lebt und schreibt in Ennetbaden und Disentis. 1997 erschien sein erster Roman «Für immer ist morgen». Mit «Graatzug» (2007) schrieb sich Urs Augstburger endgültig in die Herzen der Leserinnen und Leser. «Wässerwasser» schloss 2009 die Bergtrilogie ab und führte sie dreissig Jahre in die Zukunft. Nach einem Verlagswechsel 2012 erschien sein vielbeachteter Alzheimer-Roman «Als der Regen kam» bei Klett-Cotta. Ebenfalls dort 2015 der Roman «Kleine Fluchten» und 2017 der brandaktuelle Medienthriller «Helvetia 2.0», der den Griff der Rechtspopulisten nach der Medienmacht widerspiegelte. «Das Tal der Schmetterlinge» ist nach «Das Dorf der Nichtschwimmer» und der Rückkehr zu Bilger der zweite Teil einer Trilogie, die Schweizer Geschichte und Geschichten über sieben Jahrzehnte und drei Generationen erzählt.

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Thomas Kunst «Irische Traumung. Ein Küstenspiel», Plattform Gegenzauber

I

Geduckter Rauch

Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser hochbegabten Steppe aus kurz
Geschorener Musik. Wie das klingt. Frag Ihm doch.
Ihm seine Augen, ich beginne immer mit den
Augen, wirkten, aber waren braun und
Zerstritten.
Als hätte
Ihm
In einer verschärften Situation
Die Brille zu lange auf –
Behalten. (Siehst du.) Die enge Allee
Durch den stahlblonden Heimat ist eine
Verschorfte Situation. Da passen zwei März Ärzte
Ohne Schwestern nebeneinander. Warum ausgerechnet
Zwei. Das kann ich dir sofort sagen, weil du nur so, schon von
Weitem mit Mitte rechnest. Heimat kannst du schon auswendig
Lernen, sobald sie nur über Wörter verfügt, die
Freiwillig bei dir bleiben. Draußen, aber nicht unbedingt, zerriss der
Schnee. Ich wusste, dass du nur Gas lachst, die blasse Allee in einer
Angenehmenen Stadt, von der links und 
Rechts Flammen ab –
Gehen. Pass doch auf, wo du hin 
Trittst, Kleiner, das
Schöne Feuer.
Zuerst ist es ganz sacht und spielt mit dir Mutter, Vater,
Mitte. Dann ist es ganz Mitte und spielt mit dir Mutter, Vater,
Feuer. Ist die Asche schon fertig. Wie lange braucht
Ihr denn noch. Einsblondundachtzig. Das müsste doch in
Einem Land zu machen sein, auch wenn es
Hier nicht ganz für die sieben Winden reicht, aber vier,
Dürre, flache würden sich schon auf –
Treiben lassen. Einer davon hat Strandgut geatmet, ein wenig
Schaum, ein wenig Flaschen –
Rost. Dieser wäre Ihm sicher der liebste. Ich habe das
Land nicht im Reim erstickt. Dabei ersticke ich
Es gar nicht so gern. Ihm hat es so gewollt.
Trafen sich ein Mann.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihm Düren.
Trafen sich in dieser kurzbegabten Steppe aus hoch –
Geschorener Musik.

 

II

Ihrisches Crescendo

Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hochgesteppten Musik aus kurz –
Geschorener Begabung. Ich habe das Land nicht
Im Reim erstickt. Dabei ersticke ich es gar nicht so
Gern. Ihm hat es so gewollt. Ihr hat es so
Gewollt. Schaum, 
Elektrischer Süden rückt von den Rändern nach 
Innen, Lehn –
Sucht bleibt unser Ledergewächs, das Lager
Hinauf, frisch
Gerissene Ängste ändern die Sätze 
Auf, was ist
Schon eher zu Ende (sag an) als kaum zu
Beginnen, Belwas.
Ihr hatte ihr glänzendes Haar, ich beginne immer mit dem
Haar, aus frischen Kastanien gezogen. Weiß lag noch Mehl
Auf dem Nabel. Ihrs Monat war der Oktober, geflochten aus Segel –
Bekleideten Stürmen und den Überresten der Stranddorn –
Kolonnen. Ihrs Heirat war folgerichtig mit dem Tag zusammen –
Gefallen, da sie sich entschlossen hatte, allein zu
Lieben. Doch nun trug sie einmal den Ring. Und das
War schon immer so. Ihr hatte darauf bestanden, 
Ihren Mann nicht weiter zu erwähnen. Ich hatte
Ihrs Schmerzen längst begriffen und willigte ein, natürlich
Auch, um ihr, als Figur weiter folgen zu dürfen, ihr, der von
Vornherein nichts anderes übrigblieb, sie bis ins
Feinste auszukosten, die Technik des Scheiterns,
Belwas, wenn du das durch –
Hältst, finde ich dich zum Kosten. Schmerz gegen
Schmerz ergibt irgendwann weit hinten an der Küste
Einen neutralen Aufprall. In Ihrs Fall war es anders, sie
Konnte nicht schwimmen, und das machte sich
Ihr zunutze. Nach drei Tagen wurde
Ihr, an den Strand geworfen, gefunden. Weiß platzte
Der Schaum auf dem Nabel. 
Trafen sich eine Frau.
Trafen sich und hatten nur den Namen bei. Ihr Belwas.
Trafen sich in dieser hoch –
Begabten Steppe aus kurz –
Geschorener Musik. Frag Ihm doch. Frag
Ihr doch.

 

III

Verwaschene Grafschaft

Traf sich eine Mann und ein Frau.
Traf sich und hatte nur den Namen bei. Ihm Düren. Ihr 
Belwas.
Der golfene Strom hatte seine flache Wärme ins Land
Gespült und das Januarmittel aufgeheizt auf sieben Komma sieben 
Grad, so dass Sich selbst hier, in dieser 
Abgeraschelten, bröckeligen Gegend Palme
Und Rhododendron als zarte Requisiten entfalten konnten, was sich als
Äußerst günstig erwies, denn dieser subtropische Hauch hatte die
Beiden Toten ein wenig grün betastet. Verwesung ist doch auch nichts
Anderes als nachlassende Kondition. Ihm hatte ein aschfahles Gesicht. Ich
Beginne immer mit Asche. Ihrs Körper hatte die ausgeschlafene Form fleisch –
Farbenen Wassers. Ich beginne immer mit Wasser. Nur, dass sie nicht weinte, schien
Ihren Körper noch zusammenzuhalten. Es ist natürlich einfach, zwei
Verendete Körper leger in dieselbe Landschaft zu streuen. Ich hatte ziemlich
Genau darauf geachtet, dass es sich dabei um eine Region
Handelte, so wie die Grafschaft Galway, die ziemlich dünn besiedelt
War, so dass ich einigermaßen sicher sein konnte, nicht in die Lage zu
Geraten, ländliche Bauern und deren Hütten skizzieren zu müssen, sobald
Es Ihm und Ihr darauf anlegten, auf etwas Lebendiges zuzuhalten. Obwohl
Eine schon vor Jahren verlassene Lehmmauer doch auch etwas
Hat. Dass sich Ihm und Ihr vorher noch nie gesehen hatten, blieb erstmal
Ihre einzige Verwandtschaft. Doch was willst du mit zwei Menschen
Anfangen, die frieren, Hunger haben, doch keine Hütte aus ungefähr gleich –
Langem Holz. Hier ist ein Hochlandrind zum Umwickeln. Hier
Sind die Beeren. Hier sind neun besonders eng stehende
Bäume. Bevor ich die Beiden jedoch sich näherkommen
Ließ in der geölten Mechanik der Küste, nahm ich von
Schafen, nahm von den Schultern und Säften, das, was sich eignet zur
Scham. Jetzt bist du dran, Düren. Darf ich Sie zu einem Fell
Einladen. Darf ich Sie zu den Beeren einladen. Darf ich Sie zu den
Neun besonders eng stehenden Bäumen einladen. Am Ende solcher
Sätze, die auch immer in einen Dschungel von nicht –
Gesagten Sätzen münden, die jedoch nie den gemeinsamen
Kern preisgeben, am Ende solcher Sätze entzündete sich immer
Beinahe das schmale Fest des Fleisches. Ein wenig zuckten
Die Lenden auf, in ihrer deutlichen, ledernen
Sprache. Jetzt bist du dran, Belwas. Ihr sagte zwar
Nichts. Ihr berührte zart mit dem Ellenbogen
Ihms Kinn.

 

IV

Tage ja Monatelahm

trug ständig das Meer die gleichen Klänge nach innen, vor
Die Hütte aus ungefähr gleichlangem Holz.
Die neun besonders eng stehenden Bäume hatten Ihm und
Ihr mit Schlamm und Steinwerk höhergezogen, so dass keine
Behaarten Sterne mehr dazwischenfahren konnten, nur die Geräusche
Gestrandeter Seevögel hatten noch gute Aussichten eingelassen zu
Werden. Düren hatte mit Feuer, das Feuer habe ich ihnen zukommen
Lassen, falls es Fragen gibt, Düren hatte mit Feuer einen majestätischen Stamm
Gehöhlt, den er in den frühen Stunden der kaum behinderten Sonne zum
Fischen benutzte, bis das Netz, das Netz habe ich ihnen zukommen lassen, falls 
Es Fragen gibt, bis das Netz gefüllt war mit beweglichem Bronzebesteck. Belwas
Hatte in Ihms Abwesenheit ihr glänzendes Haar zu weichen, fließenden Kastanien
Geflochten, die langsam und feucht auf die Lenden zu –
Strömten. Den ganzen Tag nur die braune See, der Regen roh und in Würfel
Geschnitten. So hielt die Insel ihren genauen
Unterricht ab. Düren, nach vorn, an die Tafel, an welche denn
Sonst. Hat ein Wort wie Heimat, wenn es dich ständig in einer beengenden
Situation betrifft, nicht auch außerhalb solcher Zustände seine
Neutrale Geschlossenheit. Sind nicht die Worte selbst zu 
Einem Täuschungsobjekt einer nicht eingestandenen, einer
Verhinderten Liebe geworden, runtergehandelt zu dem Preis, für etwas
Anderes nur Schmiere zu stehen. Erst wenn die Scham zerrissen,
Zuckend vor unseren Füßen liegt, krümmt sich die Sprache
Zurück in ihren tierisch zarten Zustand, gehört so noch
Enger an die Zähne. Die wesende Geburt des Herbstes, beige faulten
Die Bäume ineinander über, hatte es längst bewiesen, selbst die Liebe war
Nur eine Schlichtungsform der Neugier. Jetzt, nach überstandenen Monaten
Der Ähnlichkeit, hielt ich es für angebracht, ihm und ihr eine gleich –
Mäßige und bedächtige Zerstörung der Insel durch das Wasser vorzu –
Schlagen. Ihms und Ihrs Reaktionen darauf waren diesem
Traurigen Programm angemessen. Belwas löste ihre erstaunlichen Kastanien 
Zu einem allmählichen Wasser. Golf, Rhododendron und eine
Schon vor Jahren verlassene Lehmmauer hatten sich in feinen
Fasern verbunden. Auch wenn es hier nicht ganz
Für die sieben Winde reicht. Aber vier dürre, flache
Würden sich schon auftreiben lassen. Und es kam wie ein trockenes, hoch –
Triftiges Gas, das in den feinen Fasern ein zittriges Sirren
Erzeugte und beim Berühren das Wasser
Verähnelte in eine starre, elektrische
Weide. Tage ja monatelahm trug ständig das Meer die gleichen
Klänge nach Hütte, vor die Holz aus ungefähr gleich –
Langem Innen. Jetzt bist du dran, Ihm. Darf ich Sie zu den nass
Gewordenen Beeren einladen. Darf ich sich zu den neun besonders eng
Unter Wasser stehenden Bäumen einladen. Darf ich dich in das Fell
Tun. Ein wenig zuckten die Lenden auf, in ihrer
Deutlichen, ledernen Sprache. Sehgestöber, Sanddornperlen von der Schnur
Gelassen, Schlamm und Steinwerk in weicher
Veränderung, Geräusche aufgespülter Seevögel, nur, dass 
Sie nicht weinte, schien Ihrs Körper noch zusammenzu –
Halten. Es gelang ihr nicht mehr, ihm zu zeigen, wie sehr
Sich über ihnen die See schloss. Das gefiel ihm an
Ihr. Und ihr machte es Spaß, Ihm nicht zeigen zu
Müssen, wie sehr sich über ihnen die See schloss.
(Dürwas)

(Veröffentlicht in «Die Verteilung des Lächelns bei Gegenwehr» (Gedichte und Texte 1986-1988, Connewitzer Verlagsbuchhandlung, Leipzig))

Thomas Kunst „Zandschower Klinken“, Suhrkamp, 254 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-42992-1

Thomas Kunst wurde am 09.06.1965 in Stralsund geboren. Nach dem Abitur studierte Thomas Kunst zunächst 3 Monate Pädagogik in Leipzig und ist seit 1987 als Bibliotheksassistent der Deutschen Nationalbibliothek tätig. Er schreibt Gedichte und Romane. Kunst debütierte 1991 bei Reclam Leipzig mit dem Buch »Besorg noch für das Segel die Chaussee. Gedichte und eine Erzählung«. Bislang sind 20 Einzeltiteln veröffentlicht worden. 2021 war er mit seinem Roman «Zandschofer Klinken» auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. 2023 überreichte man ihm den Kleist-Preis. 2024 wir bei Suhrkamp sein neuer Gedichtband «Wü» erscheinen.

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Beitragsbild © Franziska Reck

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer

Die Literaturhäuser St. Gallen und Thurgau laden ein:

In ihren Frankfurter Poetikvorlesungen unter dem Titel „Wir hätten uns alles gesagt“ steht der Untertitel „Vom Schweigen und Verschweigen im Schreiben“. Was Judith Hermann in ihrem berührend ehrlichen Buch mir als Leser offenbart, sind Geheimnisse aus ihrem Leben, die die Formen ausmachen, in die die Autorin ihr Schreiben bisher gegossen hat.

Mir gefiel in der Verlagsvorschau schon der Titel, zumal er im Vergleich zu den anderen ihrer Bücher erstaunlich lang ist. Aber das muss so sein, denn mit diesem Buch umarmt Judith Hermann ihre bisherigen Bücher, ihr bisheriges Schreiben. Sie klärt und umkreist erzählend. Von ihren 1000 Stunden Psychoanalyse bei Dr. Dreehüs, der in den 10 Jahren, in denen sie sich in seiner Praxis auf die Couch legte, kaum je etwas kommentierte, selten eine Frage stellte, einfach nur zuhörte, selbst dann, wenn sie schwieg. Von Ada, ihrer Freundin, die sie aus den Augen verlor, die sie an einem Geburtstag überraschend besuchte und niemanden sonst antraf, nur Ada selbst mit einer warmen Flasche Sekt. Von ihrer Grossmutter, die ihr mehr Zuhause gab, als es die mit sich beschäftigten Eltern je hätten geben können. Von ihrem Grossvater, vor dem sie sich fürchtete, der mehr und mehr abrutschte, bis er wieder sich selber wurde. Von Marco, einem Freund, einem Künstler, der am Schluss im Altenheim vor sich hindämmerte.

Und dabei ist „Als hätten wir uns alles gesagt“ alles andere als eine Familienaufstellung, die Erklärung dafür, warum das Schreiben zu einer Welt wurde, in der sie sich selbst wiederfindet. Eine Geschichte ist ein Schutzraum für die Erzählerin, ein Gehäuse wie die Schale einer Nuss. Judith Hermann schreibt, als würde sie ihr Leben offenbaren, macht aber klar, wie sehr das Geschriebene das Wirkliche verbirgt und das Ungeschriebene deutlich macht. Judith Hermann erzählt von der Auseinandersetzung, nicht so sehr von jener mit ihrer Umgebung, als mit der in ihrem Inneren. Wie sehr das Schreiben eine Linie zieht, die von allen anderen Möglichkeiten des Seins entfernt. Schreiben heisst auslöschen.

„Geschichten schreiben heisst misstrauisch sein. Lesen heisst, sich darauf einzulassen.“

Judith Hermann «Wir hätten uns alles gesagt», S. Fischer, 2023, 192 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397510-9

Judith Hermann entmystifiziert das Schreiben, dass das Schreiben sehr wohl aus dem Erlebten schöpft, aber nicht abbilden will, nicht einfach nur nacherzählen, ein Bild an eine leere Wand malen. Schreiben ist das Ausschliessen aller anderen Möglichkeiten.

Sie erzählt von ihrer Familie, einem Haus in dem vor allem geschwiegen wurde, von einem Leben, dass die Analyse zu brauchen schien, um aufzubrechen. Hier hörte jemand zu, so wie der Leser der Schreibenden zuhört. In ihrer Familie vergass man das Zuhören, auch wenn das Haus, in dem sie aufwuchs voll mit materialisierter Geschichte zu sein schien, zwischen Bücherregalen, Büchern in Stapeln.

Judth Hermann umkreist Menschen, die ihr nahestehen, um festzustellen, dass jene nicht die sind, von denen sie glaubt, sie zu kennen. So wie sie die Annäherung an ihre Prozesse des Schreibens nicht als eigentliche Annäherung versteht, sondern als wachsendes Bewusstsein nicht zu überwindender Distanz. Ein allmählich dämmerndes Bewusstsein dafür, dass du selbstverständlich doch allein auf der Welt bist.

Aus einer Laune heraus folgt sie auf der Strasse ihrem ehemaligen Psychoanalytiker, eigentlich nur, weil sie ihn fragen wollte, wie er die Beschreibung seiner selbst in einer ihrer Erzählungen gefunden habe, nachdem sie ihm ihr Buch („Lettipark“) mit der Erzählung «Träume» in den Briefkasten gelegt hatte. „Weshalb waren Sie sicher, dass ich klarkommen würde?“, fragt sie. „Weil ich Sie, trotz allem, immer als ein wenig wehleidig empfunden hatte.“ Weh und Leiden. Judith Hermann schreibt: ein Wort wie ein Talismann, ein Schutzwort. Vielleicht liegt genau darin der Schlüssel für Judith Hermanns Erfolg, für die Resonanz, die sie mit ihren Büchern erzielt. Jene Empfindsamkeit. Und mit Sicherheit sind es auch einzelne Sätze und Bilder, die bei der Lektüre ihrer Bücher unweigerlich zu eigenen Empfindungen werden, die sich einbrennen.

Judith Hermanns Sprache ist von grosser Zartheit. Es ist, als würde sie mit mir allein ein Geheimnis teilen.

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark«, die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Im Frühjahr 2021 erscheint der Roman «Daheim«, der für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert wurde. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin.  

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Helga Schubert «Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe», dtv

Helga Schubert schreibt über die ganz grossen Themen des Lebens; die Liebe, die Arbeit, die Gesundheit, das Sterben und den Tod. Helga Schubert tut dies auf eine dermassen feine, behutsame, ehrliche und zärtliche Art, dass ihr Buch mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ zu einer einzigen, grossen Liebeserklärung wird, eine an ihren Mann, eine an das Leben, an das Schreiben und die Schönheit des erlebten Moments.

Wahrscheinlich kann man gewisse Bücher erst schreiben, wenn man im Alter mit gewonnener Reife und Weisheit auf sein Leben zurückschaut. Schon allein das macht mir bei der Lektüre dieses Buches Mut, weil mit Lesen Hoffnung wächst. Nicht die Hoffnung, die Früchte meines Lebens im Alter geniessen zu können, aber mich über jeden Bissen in jene Früchte freuen zu können. Da schreibt eine Frau, die weiss, was sie am Leben hat, die weiss, wie viel sie von der Liebe geniessen durfte, die nicht verzagt, wenn die Quellen des Lebens nur mehr tröpfeln.

„Jede Sekunde mir dir ist ein Diamant.“

„Der heutige Tag“ ist kein Roman. Mit dem Untertitel „Stundenbuch der Liebe“ verweist die Autorin auf das Stundenbuch als Gebets- und Andachtsbuch. Helga Schubert vergewissert sich ihres Schatzes, den sie mit sich trägt. Da liegt im Haus zwar ein kranker, müde und gebrechlich gewordener Ehemann, der alles abverlangt, fast alle Energie der über Achtzigjährigen absaugt, aber sie blickt zurück auf eine Liebe, die ihr während Jahrzehnten all das gab, was die Liebe am Leben hielt. Sie huldigt dieser Liebe, weil sie weiss, dass sie es war, die sie so werden liess, wie sie ist. Sie weiss, wie zerbrechlich dieses Gefüge sein kann. Sie weiss, wie sehr es zu einem Ungleichgewicht geworden ist. Sie weiss, wie schmal die Aussichten in eine gemeinsam erlebte Zukunft geworden sind.

Helga Schubert «Der heutige Tag. Ein Stundenbuch der Liebe», dtv, 2023, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 78-3-423-28319-9

„Stundenbuch“ verweist aber auch auf den Tagebuchcharakter des Buches, auch wenn keine Daten über den Einträgen stehen. Nach vielfach unterbrochenen Nächten, den täglichen Verrichtungen, dem sich immer wiederholenden Alltags im Umgang mit einem Ehemann, der immer mehr in seiner Demenz eingesperrt ist, im immer kleiner werdenden Lebensradius muss sich die Autorin jene Zeit zum Schreiben nehmen, die ihr noch bleibt: Jenes Fenster am Abend, wenn sie ihren Mann in die Nacht verabschiedet hat, wenn sie noch Zeit und Kraft findet, sich an ihren Laptop zu setzen, um in ihrer ganz eigenen Welt zu versinken. Auch wenn sich in dieser Welt fast alles ausschliesslich um das dreht, was ihren Alltag ausmacht. Nur ist in ihrem Schreiben die Perspektive eine andere. Vielleicht sogar ihre Rettung.

„Manchmal trauere ich nur um mich. Diese Traurigkeit ist einsam und kalt. Sie ist voll Vorwurf und Enttäuschung und Bitterkeit.“

So wie Helga Schubert schildert und schreibt, hätte sie allen Grund zu hadern und zu zweifeln. „Der heutige Tag“ ist weder ein Buch des Ordnens noch ein Buch der Verklärung. Die Autorin gibt vieles preis; erzählt von Momenten grosser Erschöpfung, tiefen Unverständnisses, lähmender Verzweiflung. Aber sie schreibt in einem Ton, dem stets Zuversicht und das Bewusstsein eines grossen Geschenks unterlegt ist. Ein Hohelied der Liebe. Sie weiss um die kleinen Geschenke des Lebens, die unsäglich wichtig werden können; die Momente der Ruhe, ein Blick in den verwilderten Garten, eine zärtliche Berührung, die all die Erinnerungen weckt, die das gemeinsame Leben mit ihrem Mann ausmachen. Einem Mann, der zuerst als Dozent, später als Maler stets seine Stimme nach aussen suchte, der in seiner Krankheit, seiner Demenz immer mehr verstummt und nur noch ein Schatten dessen ist, was er einst war.

„Der heutige Tag“ wächst einem ganz nah ans Herz!

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, war Psychotherapeutin und Schriftstellerin in der DDR. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte «Vom Aufstehen» den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann. Der gleichnamige Erzählband erschien 2021 bei dtv und war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt

Ein Abend in Tiefe getaucht – Milena Michiko Flašar im Literaturhaus Thurgau

Milena Michiko Flašar las aus ihrem neusten Roman «Oben Erde, unten Himmel» im Literaturhaus Thurgau und lockte trotz des sommerlichen Abends einen vollen Saal ins schmucke Haus am Seerhein. Ein Buch, ein Abend, eine Autorin, die glücklich machen!

«Alles hat gestimmt – das schöne Zusammensitzen am Wasser, die kleine Führung durch das Bodmanhaus, das Publikum, unser Gespräch, das Weintrinken in kleiner Runde. Vielen, vielen Dank dafür – und ich wünsche dem Literaturhaus noch viele schöne Veranstaltungen. Was für ein guter Ort!» Milena Michiko Flašar

Auch wenn der Begriff „Kodokushi“ ein japanischer ist und mit „Einsamer Tod“ oder „Einsames Sterben“ übersetzt werden kann, ist Einsamkeit beileibe kein japanisches Phänomen. Ausgerechnet in Gesellschaften, die unter Dichtestress leiden, grassiert die Einsamkeit. Suzu ist 25, noch jung, hat ihr Studium, das sich ihre Eltern von ihr wünschten, nicht gemacht, joppte erst in einem Restaurant, wo man sich ihr wegen fehlender Empathie entledigte, bis sie in einer ganz speziellen Reinigungsfirma, einer Leichenfundortreinigung, eine Anstellung findet.
Ihr Chef Sakai zwingt Suzu ganz direkt aus der Einsamkeit. Sie soll sich um einen kranken Mitarbeiter kümmern. Dieser Zwang wird zu einer Aufgabe. Sakai ist ein väterlicher Chef, ein Chef, der im Laufe der Geschichte sein Geheimnis offenbart. Einer, der auch ausgestiegen war, um endlich jenes Leben führen zu können, das er leben wollte. Mit dem Preis, seine Familie zu verlieren. Sakai war mutig, Suzu zum Mut gezwungen.

«Oben Erde, unten Himmel» ist ein Roman über eine junge Frau, die sich den Zwängen der Gesellschaft verschliesst, die sich aber trotzdem stellen muss, die dann spürt, dass das Leben über sie hinausgeht, als das Private aufgebrochen wird. Milena Michiko Flašars Geschichte ist eine Auseinandersetzung mit den Grenzen des Privaten, mit existenziellen Fragen um Familie, Sterben und Tod. Was das ganz Eigene ihres Erzählens ist, ist die Leichtigkeit, die Zartheit, ein nie entblössender Blick, nicht nur auf die Personen, selbst auf die Dinge, die Hinterlassenschaften der Verstorbenen, in denen etwas aus der Geschichte konserviert bleibt.


Da ist Milena Michiko Flašars spürbare Liebe zu ihrem Personal, zu schrulligem Personal, sei das nun Herr Sakai, der während des Bewerbungsgesprächs Whisky trinkt, beim Betreten der Wohnung von Verstorbenen diese laut begrüsst und spricht, als müsste er sein Tun erklären – oder Frau Langfinger, die in Supermärkten sackweise Gummidrops klaut, dass man sie aus ihrer Einsamkeit ins Gefängnis steckt. Diese Liebe, diesen Respekt fühlte auch das zahlreich erschienene Publikum im Literaturhaus Thurgau. Ein Abend in Tiefe getaucht!

Milena Michiko Flašar hat eine frische, oft heitere Sprache für grosse Themen unserer Zeit gefunden. Und sie hat liebenswert verschusselte Figuren erschaffen, die man gern begleitet. Ein unvergesslicher, hellwacher Roman über die „letzten Dinge“.

Rezension von «Oben Erde, unten Himmel» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Paul Bowles «Der Garten» – ein Denkkristall – eine szenische Lesung im Literaturhaus Thurgau

Die Schauspieler Dagny Goulami und Klaus Henner Russius bringen ihn an dem Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mit dem Herausgeber und Übersetzer Florian Vetsch zum Leuchten.

Die Entstehungsgeschichte von The Garden, dem einzigen Theaterstück des US-amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles (1910–1999), ist in der Tat bemerkenswert:

Im Herbst 1966 war Bowles in Bangkok angekommen, um ein Buch über Thailand zu schreiben. Da der gesundheitliche Zustand seiner Frau, der Autorin Jane Bowles (1917–1973), instabil war, hatten die beiden beschlossen, dass sie während Pauls Aufenthalt in Asien bei ihrer Mutter in Florida leben würde. Doch Jane bekam bald den Rappel und beschloss bereits im August, nach Tanger zurückzureisen, wo sie seit 1948, Paul seit 1947 lebte. Dort angekommen, bereute sie ihren Entschluss bitter; eine Welt brach über ihr zusammen, Ängste bedrängten sie, fixe Ideen, Mutlosigkeit, Schreibblockaden, Sehschwierigkeiten, Lähmungen – immer wieder aus dem Ruder laufender Alkoholkonsum und unkontrollierte Medikamentencocktails verschlimmerten ihre Lage nur. Mit ihrer verfrühten Rückreise hatte sich die kranke Schriftstellerin „in eben die Lage gebracht, die wir so dringend hatten vermeiden wollen“, schrieb Paul Bowles in seiner Autobiografie Without Stopping (1972). Er machte sich grosse Sorgen um Jane, mit deren Ärztin Dr. Roux er im Austausch war, und beschloss, seinen Thailandaufenthalt, der auf ein Jahr geplant gewesen war, frühzeitig abzubrechen und nach Tanger zurückzukehren. Dass Bowles die Reise nach Tanger per Schiff antreten und kein Flugzeug nehmen sollte, war für seine Art zu reisen bezeichnend.

In dieser Situation erreicht ihn in Chiang Mai Joseph McPhillips‘ Brief mit der Idee, die Short Story The Garden in Tanger auf die Bühne zu bringen. Obschon er anfangs die Idee verwirft, reizt ihn die Vorstellung, und er beginnt das Stück Szene für Szene zu schreiben und es McPhillips in Tranchen zu schicken.

Die Entstehung des Stücks widerspiegelt eine verloren gegangene interkontinentale Brief- und Telegrammkultur, eine andere prädigitale Zeitlichkeit, in der Bowles nichtsdestotrotz alle Szenen rechtzeitig liefert. Doch noch durch seine Aerogramme hindurch ist die Ansteckungskraft von McPhillips zu spüren: Dessen Begeisterungsfähigkeit war der Motor des Ganzen.

Joseph McPhillips (1936–2007) hatte seit 1964 die Aufführungen der Theatergesellschaft der Amerikanischen Schule von Tanger geleitet; bis zu seinem Tod realisierte er für deren Bühne zahlreiche Stücke von der Antike bis zur Postmoderne. Dabei kombinierte er die Professionalität der hinzugezogenen Spitzenleute mit der Hingabe und dem Enthusiasmus der Studenten zu einer einmaligen Symbiose. Dies entsprach der produktiven Auffassung des Princeton-Abgängers von einer elitären Theaterpädagogik, welche den intrinsischen Kräften der Jugend durch qualitativ hochstehende Bühnenbildner, Designer, Autoren, Komponisten etc. Flügel verleihen sollte.

Paul Bowles: «THE GARDEN» – Dokumentation über Entstehung und Uraufführung von Paul Bowles‘ einzigem Bühnenstück DER GARTEN, aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Florian Vetsch, gestaltet von Dario Benassa, Bilgerverlag, 2022, 184 Seiten, durchgehend farbig illustriert, CHF 56.00, ISBN 978-3-03762-094-6

Die Short Story The Garden spielt in einem kleinen Dorf am Rand einer Oase in der Sahara. Ein Mann arbeitet still und zufrieden in seinem der Wüste mittels Wassergräben abgerungenen Garten und bewundert oft bis nach Sonnenuntergang dessen Schönheit. Seine Frau vermutet, dass er einen Schatz in seinem Garten vergraben habe. Um ihn gesprächig zu machen, wendet sie sich an eine Hexe, die ihr ein schwarzmagisches Gift für ihren Gatten mitgibt. Die Frau verabreicht diesem aber eine Überdosis. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verlässt die Frau das Dorf und flieht zu ihrer Familie. Doch das Gift hat den Mann lediglich in einen komatösen Zustand versetzt, aus dem er wieder erwacht; das Gift hat ihn aber das Gedächtnis gekostet. Als der Imam den wieder zu Kräften Gekommenen in seinem Garten besucht und ihn ermahnt, freitags in die Moschee zu kommen und Allah für seinen Garten zu danken, versteht der Mann nicht, worum es geht. Alsbald geht das Gerücht um, er habe seine Frau umgebracht, in Stücke zerlegt und in seinem Garten vergraben. Aus dieser Konstellation entwickelt sich für den ahnungslosen Mann eine tödliche Spirale…

Bowles‘ anfängliche Ablehnung von McPhillips’ Ansinnen zeigt sein vornehmes Understatement: Zwar nicht als Autor, aber auch nicht nur als Zuschauer im Publikum, sondern als Komponist von Bühnenmusik zu Stücken etwa von Tennessee Williams und Orson Welles, als jahrelanger Broadway-Kritiker sowie als Übersetzer von Bühnenstücken u.a. von Jean-Paul Sartre und Federico García Lorca war Bowles mit dem Theater in vielerlei Hinsicht mehr als vertraut. Diese Erfahrungen kamen ihm zugute, als er die Szenen für The Garden unterwegs, wie aus dem Ärmel geschüttelt, niederschrieb – anfangs noch ohne den Text der Short Story, die er 1963 geschrieben hatte, vor Augen zu haben.

1963 hatte Bowles den Sommer in einem schönen, von einem früheren Besitzer aus Bombay indisch eingerichteten Haus an der portugiesischen Ufermauer der Medina von Asilah verbracht – das rund 40 km südlich von Tanger gelegene Städtlein ist bis heute eine Perle am Atlantik. Das Haus liege, wie er am 17. April an William S. Burroughs schrieb, südlich von Raisulis Palast und sei, mit den Wellen, die sich unter den Fenstern auf dem Sand brächen, ein wundervoller Aufenthaltsort für den Sommer. Jane besuchte Paul 1963 in Asilah ab und an mit ihrer Begleiterin Cherifa. Damals sprühte sie noch vor Witz und brillierte mit einem blitzschnellen, messerscharfen Verstand. Doch als Paul Anfang März 1967 endlich in Tanger ankam, traf er seine Frau in einem verzweifelten, völlig zerrütteten Zustand an. Auf Dr. Roux‘ Anraten brachte er sie Mitte April nach Malaga, wo sie ins Sanatorium des Heiligen Herzens, eine psychiatrische Klinik für Frauen, eingewiesen wurde. Paul besuchte sie häufig; erst Ende Juli jedoch sollte es ihr wieder so gut gehen, dass sie nach Tanger zurückkehren konnte. So war Bowles während der letzten Proben und der Aufführung von The Garden allein im Inmueble Itesa, dem Apartmenthaus im Quartier Ain Hayani, wo die Bowleses seit 1960 auf zwei Stockwerken wohnten. Zweifellos war er froh um die Ablenkung, welche die Zusammenarbeit mit der tangerinen Künstlerclique und den Jugendlichen von der „Amschotan“ ihm in der Sorgenzeit bescherte!

Der Hauptprotagonist von The Garden ist, um einen Begriff von Helmut Salzinger einzubringen, kein „Gärtner im Dschungel“: Er lässt die Natur nicht einfach machen, sondern greift in deren Gang ein. Er trotzt der Wüste am Rand einer Oase Land ab, bewässert es durch das Ziehen von Gräben, macht es zu einem biodivers reichhaltigen, fruchtbaren Garten. Dabei betrachtet er diesen nicht primär als Nutzobjekt, sondern als Selbstzweck. Das ästhetische Erlebnis, das ihm der Garten jeden Abend bei Sonnenuntergang schenkt, wenn er die Schleusen öffnet und das Wasser durch die Seguias fliesst, die kontemplative Ruhe, die er tagsüber in ihm findet – dies alles ist ihm wichtiger als der Gewinn, den der Garten abwerfen könnte.

Da der Mann das Ästhetische über das Ökonomische stellt, mag die Parabel The Garden dem einen oder anderen Leser das Scheitern des Künstlers oder des ästhetischen Menschen überhaupt in der Gesellschaft vorführen. In einem weiteren Ansatz deckt die Geschichte die nihilistische Wirkung des islamistischen Fundamentalismus schonungslos auf.

Paul Bowles‘ Geschichte The Garden ist auf jeden Fall ein Denkkristall.

Florian Vetsch

Raoul Schrott «Inventur des Sommers», Hanser

«das unüberbrückbare des Lebens in jedem moment in dem es sich vollzieht vervielfacht den sinn den man ihm geben kann» – Genau das kann Raoul Schrott mit seinem neusten Buch «Inventur des Sommers»; Er nimmt mich mit und setzt Spuren, die überraschen, faszinieren und Türen öffnen, die mir sonst verschlossen blieben.

Raoul Schrott ist ein literarischer Gigant. Kann sein, dass er diese Bezeichnung nicht mag und sie genau das suggeriert, was Raoul Schrott nicht will; Distanz. Ein Gigant nur schon deshalb, weil sich ein Regalbrett allein mit seinen Büchern durchbiegen würde. Ein Gigant deshalb, weil eine Verleihung des Georg-Büchner-Preises, der vielleicht grössten literarischen Auszeichnung im deutschsprachigen Raum, längst logische Konsequenz wäre und dem äussert breitgefächerten Werk des Dichters und Schriftstellers, Übersetzers und Essayisten gerecht werden würde.

Zudem hat Raoul Schrott etwas geschafft, was vielen oder den meisten Lyrikern vergönnt bleibt: Man kennt ihn. Man kennt ihn sogar vom Fernsehen, von Filmen und Sendungen wie dem SRF-Literaturclub. Man kennt seine Leidenschaft für das anspruchsvolle Buch, für das gute Gedicht. Und welcher Kritiker in dieser Runde hätte jemals derart euphorisch Lanzen für die Lyrik gebrochen, nie schulmeisterlich, obwohl er Lehrer und Dozent war und ist, nie elitär, obwohl durch sein Wissen eine ganze Enzyklopädie der Literatur mitzureden scheint, von den Griechen bis in die Neuzeit.

Ich lernte Raoul Schrott mit seinem ersten Roman kennen, mit dem er vor bald 30 Jahren das Bachmannpreislesen aufmischte, «Finis Terrae», eine phantastische Reise in eine erfundene Vergangenheit, die sich in der Wirklichkeit spiegelt. Ein Roman, der funkelt und von den Farben der Sprache lebt. Zweites Buch war «Hotels», tagebuchartige Aufzeichnungen in Gedichtform – zwei Bücher, die schon einmal zeigten, dass es für den Dichter und Schriftsteller weder in Themen, Form und Zugang Grenzen gibt.

TRAUREDE

der alte boden unter neuen schuhen verschwunden
wirst du dich aus der luft greifen
mit einem mal · unumwunden
eine zeitlang wirst du noch an den dingen streifen
doch vor lauter glück fühlt sich hernach alles anders an
der himmel breit · eine einzige stoffbahn
faltenlos und aus vogelseide
               dein hochzeitskleid das schneide
dir daraus zurecht · zeige- und mittelfinger als schere
für diese wunderbare drehung in der leere
rüschen und rauschen · dazwischen gesplissener saum
               schönheit zeigt sich in unterschiedlichen posen
sie ist deine selbst wenn du sie nicht siehst
sie stellt dich in den raum
mit diesen deinen dunklen augen · unverdrossen
solange du weiterhin dem unerwarteten entgegen ziehst

oruro 19.11.17

 

platons sokrates erklärt, dass zwischen zwei formen des begehrens zu unterscheiden sei: ›himeros‹ als verlangen, das sich auf anwesendes richtet, und ›pothos‹ als jenes nach dem abwesenden – die leidenschaft für etwas, das gerade anderswo ist oder ganz fehlt. vorstellen lässt sich dieses abwesende als geisterhaftes ›phasma‹, ablesen an den von ihm hinterlassenen spuren und darstellen in form von ›kolossoi‹, unter denen man ursprünglich puppen verstand, wachs- oder tonfigürchen als lebensähnliche nachbildungen einer person.

(mit freundlicher Genehmigung des Verlags wiedergegeben)


Raoul Schrott kommentiert, untermalt seine Gedichte mit Ergänzungen, Gedanken, Erklärungen, Reisenotaten, macht aus seinem Gedichtband eine Mischung zwischen Poesie und Essay. Wie immer lädt diese Form der Präsentation zum Verbleiben ein; Man möchte das Buch auf einem separaten Möbelstück offen liegen lassen, um immer wieder zu verweilen, um etwas in den Tag mitzunehmen.

Raoul Schrott «Inventur des Sommers. Über das Abwesende», Hanser, 2023, 176 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27633-8

Raoul Schrott zeigt mit «Inventur des Sommers» seine grenzenlose Lust, sich mit Welt auseinanderzusetzen, auch wenn es die dunklen Seiten der Gegenwart sind. Wir wissen sehr wohl, dass da mehr ist, als was sichtbar ist. In der Literatur weiss man das schon lange, liest man doch auch zwischen den Zeilen. «Inventur des Sommers» ist eine Sprachreise ins Dazwischen. Im Intro zu seinem neusten Buch steht der Satz: „Denken braucht Distanz, um abstrahieren, sich von den Dingen, abziehen, entfernen und trennen zu können.“ Raoul Schrotts Distanz, aus der er schreibt, ist aber nie distanziert und unterkühlt. Raoul Schrott ist nicht nur ein Freund der Muse, wartet auch nicht, bis er gnädigst von ihr geküsst wird. Er reist ihr entgegen, reist ihr nach – mit Kopf, Herz und Hand. «Inventur des Sommers», ein Buch, das auch in den kommenden Sommer passen wird.

Raoul Schrott, geboren 1964, erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Peter-Huchel- und den Joseph-Breitbach-Preis. Raoul Schrott arbeitet zurzeit im Auftrag der Stiftung Kunst und Natur an einem umfangreichen Atlas der Sternenhimmel. 2023 wird er die Ernst-Jandl-Dozentur der Universität Wien innehaben.

Beitragsbild © Wortlaut-Literaturfestival St. Gallen (Raoul Schrott bei seiner Lesung in der Kellerbühne)

«These words are everything or maybe words are just my only thing» – Robert Prosser und Lan Sticker im Literaturhaus Thurgau

Das Zitat aus dem Poem «These Words Are Everything» des US-Rappers Jonwayne hätte auch das Motto für die Performance zu Robert Prosser Roman «Verschwinden in Lawinen» sein können. Was dieser zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker auf die Literaturhausbühne brachte, war Sprache durch und durch.

Robert Prosser so einfach „Schriftsteller“ zu nennen, wird dem, was der Mann tut, nicht gerecht. Zwar wird Robert Prossers literarischer Fussabdruck weit über die österreichischen Grenzen hinaus schon seit 15 Jahren stetig grösser, aber der Erschaffer des Romans mit dem Titel „Verschwinden in Lawinen“ ist, wie alle, die sich an diesem wunderschönen Sommerabend ins Literaturhaus Thurgau trauten, sinnlich erlebten; Performer mit Leib und Seele, Vermittler, Kurator, Dichter, „Experimentierer“, in seiner Vergangenheit Graffitikünstler und seit einigen Jahren, nach einem Schreibaufenthalt in England, Boxer.
Robert Prosser ist körperlich durchdrungen von Sprache. Dass er schon seit mehreren Jahren zusammen mit dem Percussionisten Lan Sticker tourt und international auftritt, mit dem Drumbadour den Rhythmus der Sprache noch verdichtet, ist vielleicht auch ein bisschen aus dem Boxen entstanden; einer sprichwörtlich körperlichen Auseinandersetzung mit Rhythmen und Ein-drücken.

Lan Sticker, der an der Anton-Bruckner-Privatuniversität in Linz Schlagzeug studierte und sich in seiner Musik zwischen Pop und Jazz bewegt, verschmolz sicht- und hörbar mit dem sprachlichen Metronom seines Gegenübers. Ein Tiroler und ein Kärntner zusammen über die vielfachen Verschüttungen durch Lawinen aller Art. Ein Text über das Monster und das Verschwinden, über den Versuch der Befreiung und das erdrückende Gewicht sich verschiebender Sedimente – ob Schnee oder die Gesellschaft selbst, ob Schuld oder die pure Wucht der Vergangenheit.

Von Bergidylle keine Spur! Romane, die sich kritisch mit Herkunft und Heimat auseinandersetzen, haben in Österreich eine lange Tradition. Bisweilen werden Bücher fast toxisch, triefen im Schmerz der Auseinandersetzung. In der Schweiz scheint alles viel moderater. «Verschwinden in Lawinen» ist auch eine Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des Tourismus, Veränderungen an Mensch und Landschaft, die ganze Gegenden zu Kulisse und Spielplatz machten und machen. Robert Prossers Herkunftsland Tirol ist Synonym für die verkaufte Vorstellung von Freiheit, Abenteuer, Idyll und karikierter Bäuerlichkeit. «Verschwinden in Lawinen» erzählt von den Auswirkungen dieser Veränderungen, wie sehr sich Menschen nach einem Verschwinden sehnen, wie omnipräsent die Bedrohungen vielerlei Lawinen sind.

In Robert Prossers fiktivem Dorf gibt es die Verschütteten; die wirklich Verschütteten, jene die in jugendlichem Übermut den Schnee ins Rutschen bringen, jene, die über Jahre und Jahrzehnte unter Schneemassen kamen. Aber auch die vom Leben Verschütteten; Mathoi, der Einsiedler und Heiler, der in den Bergen ein ganz eigenes Leben führt, Anna, die Mutter des Protagonisten Xaver, die sich aus ihrem alten Leben in die Berge verabschiedet, Xaver, der eigentlich Schauspieler werden wollte und zum Störmetzger wurde oder Flo, sein Freund, der sich von der Gegenwart einlullen, freiwillig verschütten lässt. 

Robert Prosser ist ein literarisches Ereignis und zusammen mit dem Schlagzeuger Lan Sticker eine Offenbarung.

«Langsam näherten wir uns Gottlieben – Station um Station von Bern kommend, nach relativ kurzer Nacht, und ebenso Schritt für Schritt tasteten wir uns an den Abend heran: Für die Begleitung durch diesen Tag sagen wir Danke, lieber Gallus Frei. Ebenso für die Zeit und den Rundgang durch das Dorf, die Ausblicke auf den See und auf die Literatur. Wie schön, dass sich dieses Gespräch, das so leicht und flink zwischen Themen wie Schreiben, Lesen und Leben tänzelte, auf der Bühne fortsetzen konnte, nach unserem eigenen wilden Tanz durchs Buch, als Lan getrommelt und ich dazu rezitiert hatte, eingenestelt unters Dach des Bodmanhauses.» Robert Prosser

Rezension zu «Verschwinden in Lawinen» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Gallus Frei-Tomic

Andreas Maier «Heimat», Suhrkamp

Andreas Maiers Opus Magnum nennt er „Ortsumgehung“. In elf Bänden (die Anzahl sei rein willkürlich gewählt) kreist er um seine Herkunft, die Gegend, aus der er kommt, die Wetterau, nördlich von Frankfurt, um Deutschland nach dem letzten Weltkrieg bis in die Gegenwart – und in seinem neunten Band um das Thema „Heimat“.

Sonst sind es meist KrimiautorInnen, die Band um Band schreiben, deren Bücher auch im Regal als Einheit sichtbar sind, als wachse da zu Lebzeiten schon eine Gesamtausgabe. Aber Andreas Maiers Schreibe ist maximal entfernt von blosser Unterhaltung, auch wenn sie ein unendliches Geschichtenreservoir speisen würde. Andreas Maiers Romane erinnern an literarische Spaziergänge hinein in die Zeit, von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, soweit zurück, wie das Leben des Autors dauert. Andreas Maier leuchtet die Zeit aus, erkundet mit den Augen seines ehemaligen Ichs die Zeit, die Menschen, Geschichte und Geschichten, die Farben, die sich änderten, das Licht, der Ton. Er lotet aus, stellt Fragen, spürt den Dingen nach, die die Menschen damals mit sich herumtrugen, sei es an der Oberfläche oder in den Tiefen der Verdrängung.

Schon allein die Tatsche, dass man sich mit dem Begriff „Heimat“ herumschlägt, einem Begriff, der von Kitsch bis rechter Gesinnung alles mit sich herumträgt, ist Risiko genug, baucht einiges an Mut. Andreas Maiers Buch ist die Erforschung, dieses Begriffs, eine bitter notwendige Auseinandersetzung mit einem „Gefühl“, dass in den Jahren staatlich brauner Gesinnung Teil der Seelenlandschaft war, in die man faschistische Gesinnung einbettete.

«Wir sind die Kinder der Schweigekinder.»

Andreas Maier «Die Heimat», Suhrkamp, 2023, 245 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-43115-3

Mehr als 20 Jahre nach Kriegsende geboren, wächst Andreas Maier in den 70ern in einem Deutschland auf, das nach einem verlorenen Krieg erst mal nichts zu tun haben wollte mit „Ausländern“. Die wenigen Ausländer in der Schule wurden behandelt wie Ausserirdische, mit aller verfügbaren Distanz. Worte wie Juden, Hitler oder Nazis waren aus dem Sprachgebrauch gelöscht. Man tat, als wär die Zeit schon immer so gewesen wie in den 70ern. Bis mit einem Mal das Leben in eine Schockstarre geriet, weil in den Stuben der Deutschen die us-amerikanische Miniserie „Holocaust“ über die Bildschirme flimmerte und dem kollektiven Schweigen mit einem Mal ein Ende setzte. Bis Söhne und Töchter zu fragen begannen und man eine Generation nach dem Krieg nicht mehr wegschweigen konnte, was einst tausend Jahre hätte dauern sollen. Juden gab es keine mehr und man hätte meinen können, es hätte sie nie gegeben.

„Die grösste metaphysische Unheilskraft ging von einem Mann aus, dessen Namen auszusprechen nicht möglich war. Ihn auszusprechen war in etwa so, wie sich an den eigenen Eltern oder der eigenen Grossmutter zu vergehen.“

In den 80ern waren es die ersten Austauschschüler, die man wie fremde Wesen in ein unbekanntes Land aussetzte. Man beschnupperte sich mit rudimentären Sprachkenntnissen und demonstrierte heile Welt. Fremdsprachen hiessen Fremdsprachen, weil sie einem bewiesen, wie fremd einem die Gattung Mensch sein konnte. Und weil nach der TV-Serie „Holocaust“ mit einem Mal Filme über Hitler wie Pilze aus dem modrigen Grund schossen, schlichen sich Gesten, Wörter und Verwünschungen zurück ins Gehabe der Zeit, die bezeugten, wie dünn die Membran zur verdrängten Vergangenheit war und ist. Erst als mit den langen Haaren und weiten Hosenstössen die RAF auftauchte und mit den Fotos auf Fahndungsplakaten die Urskepsis gegen Polizei, Politik und Verwaltung, als die DDR zu sterben begann und die Mauer fiel, weckte das scheinbare Durcheinander jene aus dem Dauerschlaf.

„Heimat war in dieser Epoche ein Unwort.“

1933 bis 45 stempelte man zum kollektiven Irrtum und was hinter den Grenzmauern zur DDR geschah zu einem misslungenen sozialistischen Versuch. Andreas Maier leuchtet bis in die Jahrtausendwende, als die Suche nach einem Zuhause auch die erneute Suche nach Heimat wurde.

Wenn ich Andreas Maiers Romane lese, die mit einer ungeheuren Leichtigkeit von der Schwere der Vergangenheit erzählen, staune ich über den Sog, den sein Roman „Die Heimat“ entwickelt. Ein Sog, der nicht mit der erzählten Geschichte entsteht, aber mit der überwältigenden Ehrlichkeit. Wer die Romane aus der Andreas Maiers Opus Magnum „Ortsumgehung“ liest, taucht in die Tiefen des Menschlichen.

Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschliessend Altphilologie. Die vielfach preisgekrönte Autor lebt zurzeit bei Frankfurt am Main.

Rezension zu «Die Familie» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Der Kreis» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild: Andreas Maier auf dem Erlanger Poetenfest 2019 (Wikipedia)