Milena Michiko Flašar «Oben Erde, unten Himmel», Wagenbach

Am 9. Juni Gast im Literaturhaus Thurgau

Milena Michiko Flašar schreibt über gesellschaftliche Phänomene, die in Japan einen Namen haben. Vom Hikimori in ihrem Roman „Ich nannte ihn Kravatte», von Menschen, die sich vor dem Leben in einem Zimmer verschliessen. Von einer fehlenden Geschichte, einem fehlenden Leben, das man sich mieten kann in „Herr Katō spielt Familie“ und vom unbemerkten, stillen Sterben in ihrem neusten Roman „Oben Erde, unten Himmel“. Von Phänomenen, für die man bei uns nicht einmal einen Namen hat.

Als ich Milena Michiko Flašars neuen Roman „Oben Erde, unten Himmel“ zu Ende gelesen hatte, war ich glücklich. Gute Bücher zu lesen ist ein Geschenk. Und doch macht die Lektüre guter Bücher nicht immer glücklich. Vielleicht reisst das Thema an der Seele, vielleicht steht der Sound des Buches quer, vielleicht kämpfe ich mit inneren Bildern. Nicht so bei Milena Michiko Flašar, und zwar nicht erst mit ihrem neusten Roman. Warum das der Autorin gelingt, erahne ich nur, denn die Themen, in die sie taucht, sind alles andere als jene, mit denen es sich leicht leben lässt. Milena Michiko Flašar konfrontiert mich mit derart viel Körperlichkeit, mit Vergänglichkeit, dem Sterben und dem Tod, dass es unmöglich wird, das eigene Sein, das eigene Leben mit der Lektüre nicht zu befragen. Welche Ordung, welche Unordung hinterlasse ich, wenn ich dereinst meinen letzten Umzug antrete? Wie habe ich mein Leben ein- und ausgerichtet? Lebe ich ultimativ oder noch immer im Glauben, mit dem tatsächlichen Leben auch noch morgen beginnen zu können?

„Leben probiert man nicht aus. Man lebt es einfach. Es gibt keine Generalprobe. Keine Wiederholungen.“

Suzu ist jung und lieber allein. Das Zusammensein mit ihrem Hamster reicht ihr, auch wenn er ihr Sorgen bereitet, weil er sich nur nachts zeigt. Und weil man ihr ihre Stelle in einem Restaurant gekündigt hat mit der Begründung, sie zeige sich zu wenig kommunikativ, zu wenig empathisch, macht sie sich widerwillig auf die Suche nach einem neuen Job, schreibt Bewerbungen und bekommt auch wirklich einen Anruf, der sie zu einem Vorstellungsgespräch einlädt. Der Mann im zugestellten Büro stellt sie ein, obwohl Suzu erst im Verlauf des Gespächs merkt, worauf sich die Reinigungsfirma spezialisiert hat. Herr Sakai führt eine Leichenfundortreinigung, erst seit ein paar Jahren, zur Expansion gezwungen, meist von Ämtern gerufen, in Wohnungen von Menschen, die unbemerkt sterben, für Wochen, manchmal sogar Monate in ihren Wohnungen liegen bleiben, bis Gerüche und Ungeziefer nicht mehr zu leugnen sind.

Milena Michiko Flašar «Oben Erde, unten Himmel», Wagenbach, 2023, 304 Seiten, CHF 35.50, ISBN 978-3-8031-3353-3

In Japan nennt man dieses Phänomen Kodokushi (einsames Sterben). Nicht der unbemerkte Tod ist das eigentlich Erschreckende, sondern die Volkskrankheit „Einsamkeit“. Ein gesellschaftliches Phänomen, das sich nicht auf Japan beschränkt, nur vielleicht die Art und Weise, wie man mit einer solchen Entwicklung umgeht. Herr Sakai versteht sich nicht nur als Dienstleister. Wenn er die Wohnung eines still Verstorbenen betritt, spricht er zu allererst ein Gebet und beginnt mit den abtransportierten Verstorbenen einen Dialog, ein vorsichtiges Beschwörungsritual, um der Hinterlassenschaft eines Lebens mit grösstmöglichem Respekt zu begegnen.

Suzu gibt sich in ihre Arbeit, weil die Arbeit Aufgabe ist, weil sie sich in der kleinen Mannschaft von Herrn Sakais Firma zum ersten Mal als ein Teil eines Ganzen erlebt. Weil ihr Herr Sakai das gibt, was ihr nicht einmal die Familie geben konnte. Nicht nur geforderte Ergebenheit und die Erfüllung ausgesprochener und unausgesprochner Erwartungen, sondern jenen Respekt, den Herr Sakai den Lebenden und den Toten entgegenbringt.

„Wer liebt einem denn? Am Ende? Wen wird man geliebt haben?“

Milena Michiko Flašar reisst eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin erzählt mit grosser Nähe und aller verfügbarer Liebe für menschliche Eigenheiten, von Suzu, die auf der Suche nach ihrem Glück ist, von Herrn Sakai, der sich durch seine eigene Geschichte in jene Bestimmung gestellt weiss, die er zuvor ein Leben lang vermisste, von Frau Langfinger, die sackweise Gummidrops aus Geschäften klaut und sie überall verteilt, in der Hoffnung, möglichst bald wieder im Gefängnis zu landen, wo man sie von ihrer Einsamkeit befreit, von Takar, der mit Suzu bei Herrn Sakai beginnt und sich im Fieber seiner Einsamkeit beinahe verliert.

Milena Michiko Flašar erzählt derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfroniert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Ihr Roman «Ich nannte ihn Krawatte» wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.  2019 erschien «Herr Katō spielt Familie«. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.

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