Ein Abend in Tiefe getaucht – Milena Michiko Flašar im Literaturhaus Thurgau

Milena Michiko Flašar las aus ihrem neusten Roman «Oben Erde, unten Himmel» im Literaturhaus Thurgau und lockte trotz des sommerlichen Abends einen vollen Saal ins schmucke Haus am Seerhein. Ein Buch, ein Abend, eine Autorin, die glücklich machen!

«Alles hat gestimmt – das schöne Zusammensitzen am Wasser, die kleine Führung durch das Bodmanhaus, das Publikum, unser Gespräch, das Weintrinken in kleiner Runde. Vielen, vielen Dank dafür – und ich wünsche dem Literaturhaus noch viele schöne Veranstaltungen. Was für ein guter Ort!» Milena Michiko Flašar

Auch wenn der Begriff „Kodokushi“ ein japanischer ist und mit „Einsamer Tod“ oder „Einsames Sterben“ übersetzt werden kann, ist Einsamkeit beileibe kein japanisches Phänomen. Ausgerechnet in Gesellschaften, die unter Dichtestress leiden, grassiert die Einsamkeit. Suzu ist 25, noch jung, hat ihr Studium, das sich ihre Eltern von ihr wünschten, nicht gemacht, joppte erst in einem Restaurant, wo man sich ihr wegen fehlender Empathie entledigte, bis sie in einer ganz speziellen Reinigungsfirma, einer Leichenfundortreinigung, eine Anstellung findet.
Ihr Chef Sakai zwingt Suzu ganz direkt aus der Einsamkeit. Sie soll sich um einen kranken Mitarbeiter kümmern. Dieser Zwang wird zu einer Aufgabe. Sakai ist ein väterlicher Chef, ein Chef, der im Laufe der Geschichte sein Geheimnis offenbart. Einer, der auch ausgestiegen war, um endlich jenes Leben führen zu können, das er leben wollte. Mit dem Preis, seine Familie zu verlieren. Sakai war mutig, Suzu zum Mut gezwungen.

«Oben Erde, unten Himmel» ist ein Roman über eine junge Frau, die sich den Zwängen der Gesellschaft verschliesst, die sich aber trotzdem stellen muss, die dann spürt, dass das Leben über sie hinausgeht, als das Private aufgebrochen wird. Milena Michiko Flašars Geschichte ist eine Auseinandersetzung mit den Grenzen des Privaten, mit existenziellen Fragen um Familie, Sterben und Tod. Was das ganz Eigene ihres Erzählens ist, ist die Leichtigkeit, die Zartheit, ein nie entblössender Blick, nicht nur auf die Personen, selbst auf die Dinge, die Hinterlassenschaften der Verstorbenen, in denen etwas aus der Geschichte konserviert bleibt.


Da ist Milena Michiko Flašars spürbare Liebe zu ihrem Personal, zu schrulligem Personal, sei das nun Herr Sakai, der während des Bewerbungsgesprächs Whisky trinkt, beim Betreten der Wohnung von Verstorbenen diese laut begrüsst und spricht, als müsste er sein Tun erklären – oder Frau Langfinger, die in Supermärkten sackweise Gummidrops klaut, dass man sie aus ihrer Einsamkeit ins Gefängnis steckt. Diese Liebe, diesen Respekt fühlte auch das zahlreich erschienene Publikum im Literaturhaus Thurgau. Ein Abend in Tiefe getaucht!

Milena Michiko Flašar hat eine frische, oft heitere Sprache für grosse Themen unserer Zeit gefunden. Und sie hat liebenswert verschusselte Figuren erschaffen, die man gern begleitet. Ein unvergesslicher, hellwacher Roman über die „letzten Dinge“.

Rezension von «Oben Erde, unten Himmel» auf literaturblatt.ch

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Beitragsbilder © Sandra Kottonau