Ein Abend in Tiefe getaucht – Milena Michiko Flašar im Literaturhaus Thurgau

Milena Michiko Flašar las aus ihrem neusten Roman «Oben Erde, unten Himmel» im Literaturhaus Thurgau und lockte trotz des sommerlichen Abends einen vollen Saal ins schmucke Haus am Seerhein. Ein Buch, ein Abend, eine Autorin, die glücklich machen!

«Alles hat gestimmt – das schöne Zusammensitzen am Wasser, die kleine Führung durch das Bodmanhaus, das Publikum, unser Gespräch, das Weintrinken in kleiner Runde. Vielen, vielen Dank dafür – und ich wünsche dem Literaturhaus noch viele schöne Veranstaltungen. Was für ein guter Ort!» Milena Michiko Flašar

Auch wenn der Begriff „Kodokushi“ ein japanischer ist und mit „Einsamer Tod“ oder „Einsames Sterben“ übersetzt werden kann, ist Einsamkeit beileibe kein japanisches Phänomen. Ausgerechnet in Gesellschaften, die unter Dichtestress leiden, grassiert die Einsamkeit. Suzu ist 25, noch jung, hat ihr Studium, das sich ihre Eltern von ihr wünschten, nicht gemacht, joppte erst in einem Restaurant, wo man sich ihr wegen fehlender Empathie entledigte, bis sie in einer ganz speziellen Reinigungsfirma, einer Leichenfundortreinigung, eine Anstellung findet.
Ihr Chef Sakai zwingt Suzu ganz direkt aus der Einsamkeit. Sie soll sich um einen kranken Mitarbeiter kümmern. Dieser Zwang wird zu einer Aufgabe. Sakai ist ein väterlicher Chef, ein Chef, der im Laufe der Geschichte sein Geheimnis offenbart. Einer, der auch ausgestiegen war, um endlich jenes Leben führen zu können, das er leben wollte. Mit dem Preis, seine Familie zu verlieren. Sakai war mutig, Suzu zum Mut gezwungen.

«Oben Erde, unten Himmel» ist ein Roman über eine junge Frau, die sich den Zwängen der Gesellschaft verschliesst, die sich aber trotzdem stellen muss, die dann spürt, dass das Leben über sie hinausgeht, als das Private aufgebrochen wird. Milena Michiko Flašars Geschichte ist eine Auseinandersetzung mit den Grenzen des Privaten, mit existenziellen Fragen um Familie, Sterben und Tod. Was das ganz Eigene ihres Erzählens ist, ist die Leichtigkeit, die Zartheit, ein nie entblössender Blick, nicht nur auf die Personen, selbst auf die Dinge, die Hinterlassenschaften der Verstorbenen, in denen etwas aus der Geschichte konserviert bleibt.


Da ist Milena Michiko Flašars spürbare Liebe zu ihrem Personal, zu schrulligem Personal, sei das nun Herr Sakai, der während des Bewerbungsgesprächs Whisky trinkt, beim Betreten der Wohnung von Verstorbenen diese laut begrüsst und spricht, als müsste er sein Tun erklären – oder Frau Langfinger, die in Supermärkten sackweise Gummidrops klaut, dass man sie aus ihrer Einsamkeit ins Gefängnis steckt. Diese Liebe, diesen Respekt fühlte auch das zahlreich erschienene Publikum im Literaturhaus Thurgau. Ein Abend in Tiefe getaucht!

Milena Michiko Flašar hat eine frische, oft heitere Sprache für grosse Themen unserer Zeit gefunden. Und sie hat liebenswert verschusselte Figuren erschaffen, die man gern begleitet. Ein unvergesslicher, hellwacher Roman über die „letzten Dinge“.

Rezension von «Oben Erde, unten Himmel» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Milena Michiko Flašar «Oben Erde, unten Himmel», Wagenbach

Am 9. Juni Gast im Literaturhaus Thurgau

Milena Michiko Flašar schreibt über gesellschaftliche Phänomene, die in Japan einen Namen haben. Vom Hikimori in ihrem Roman „Ich nannte ihn Kravatte», von Menschen, die sich vor dem Leben in einem Zimmer verschliessen. Von einer fehlenden Geschichte, einem fehlenden Leben, das man sich mieten kann in „Herr Katō spielt Familie“ und vom unbemerkten, stillen Sterben in ihrem neusten Roman „Oben Erde, unten Himmel“. Von Phänomenen, für die man bei uns nicht einmal einen Namen hat.

Als ich Milena Michiko Flašars neuen Roman „Oben Erde, unten Himmel“ zu Ende gelesen hatte, war ich glücklich. Gute Bücher zu lesen ist ein Geschenk. Und doch macht die Lektüre guter Bücher nicht immer glücklich. Vielleicht reisst das Thema an der Seele, vielleicht steht der Sound des Buches quer, vielleicht kämpfe ich mit inneren Bildern. Nicht so bei Milena Michiko Flašar, und zwar nicht erst mit ihrem neusten Roman. Warum das der Autorin gelingt, erahne ich nur, denn die Themen, in die sie taucht, sind alles andere als jene, mit denen es sich leicht leben lässt. Milena Michiko Flašar konfrontiert mich mit derart viel Körperlichkeit, mit Vergänglichkeit, dem Sterben und dem Tod, dass es unmöglich wird, das eigene Sein, das eigene Leben mit der Lektüre nicht zu befragen. Welche Ordung, welche Unordung hinterlasse ich, wenn ich dereinst meinen letzten Umzug antrete? Wie habe ich mein Leben ein- und ausgerichtet? Lebe ich ultimativ oder noch immer im Glauben, mit dem tatsächlichen Leben auch noch morgen beginnen zu können?

„Leben probiert man nicht aus. Man lebt es einfach. Es gibt keine Generalprobe. Keine Wiederholungen.“

Suzu ist jung und lieber allein. Das Zusammensein mit ihrem Hamster reicht ihr, auch wenn er ihr Sorgen bereitet, weil er sich nur nachts zeigt. Und weil man ihr ihre Stelle in einem Restaurant gekündigt hat mit der Begründung, sie zeige sich zu wenig kommunikativ, zu wenig empathisch, macht sie sich widerwillig auf die Suche nach einem neuen Job, schreibt Bewerbungen und bekommt auch wirklich einen Anruf, der sie zu einem Vorstellungsgespräch einlädt. Der Mann im zugestellten Büro stellt sie ein, obwohl Suzu erst im Verlauf des Gespächs merkt, worauf sich die Reinigungsfirma spezialisiert hat. Herr Sakai führt eine Leichenfundortreinigung, erst seit ein paar Jahren, zur Expansion gezwungen, meist von Ämtern gerufen, in Wohnungen von Menschen, die unbemerkt sterben, für Wochen, manchmal sogar Monate in ihren Wohnungen liegen bleiben, bis Gerüche und Ungeziefer nicht mehr zu leugnen sind.

Milena Michiko Flašar «Oben Erde, unten Himmel», Wagenbach, 2023, 304 Seiten, CHF 35.50, ISBN 978-3-8031-3353-3

In Japan nennt man dieses Phänomen Kodokushi (einsames Sterben). Nicht der unbemerkte Tod ist das eigentlich Erschreckende, sondern die Volkskrankheit „Einsamkeit“. Ein gesellschaftliches Phänomen, das sich nicht auf Japan beschränkt, nur vielleicht die Art und Weise, wie man mit einer solchen Entwicklung umgeht. Herr Sakai versteht sich nicht nur als Dienstleister. Wenn er die Wohnung eines still Verstorbenen betritt, spricht er zu allererst ein Gebet und beginnt mit den abtransportierten Verstorbenen einen Dialog, ein vorsichtiges Beschwörungsritual, um der Hinterlassenschaft eines Lebens mit grösstmöglichem Respekt zu begegnen.

Suzu gibt sich in ihre Arbeit, weil die Arbeit Aufgabe ist, weil sie sich in der kleinen Mannschaft von Herrn Sakais Firma zum ersten Mal als ein Teil eines Ganzen erlebt. Weil ihr Herr Sakai das gibt, was ihr nicht einmal die Familie geben konnte. Nicht nur geforderte Ergebenheit und die Erfüllung ausgesprochener und unausgesprochner Erwartungen, sondern jenen Respekt, den Herr Sakai den Lebenden und den Toten entgegenbringt.

„Wer liebt einem denn? Am Ende? Wen wird man geliebt haben?“

Milena Michiko Flašar reisst eine Tür auf, eine Tür, hinter der es stinkt, hinter der sich Fliegen und anderes Krabbelgetier über jene Säfte hermachen, die übrigbleiben, wenn Tote liegenbleiben. Die Autorin zelebriert aber weder den Schrecken noch die Abscheu. „Oben Erde, unten Himmel“ erzählt von jenem Dazwischen, vor dem wir allzu gerne die Augen verschliessen. Die Autorin erzählt mit grosser Nähe und aller verfügbarer Liebe für menschliche Eigenheiten, von Suzu, die auf der Suche nach ihrem Glück ist, von Herrn Sakai, der sich durch seine eigene Geschichte in jene Bestimmung gestellt weiss, die er zuvor ein Leben lang vermisste, von Frau Langfinger, die sackweise Gummidrops aus Geschäften klaut und sie überall verteilt, in der Hoffnung, möglichst bald wieder im Gefängnis zu landen, wo man sie von ihrer Einsamkeit befreit, von Takar, der mit Suzu bei Herrn Sakai beginnt und sich im Fieber seiner Einsamkeit beinahe verliert.

Milena Michiko Flašar erzählt derart liebevoll, dass man das Buch nach der Lektüre nur ungern zur Seite legt. Gleichzeitig konfroniert sie nicht nur ihr Personal, sondern auch mich als Leser mit Fragen rund ums Sterben. Warum es in einer Welt, in der man von Dichtestresse spricht, immer mehr Menschen gibt, die sich in ihrer Einsamkeit verlieren und keinen Weg mehr herausfinden.

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Ihr Roman «Ich nannte ihn Krawatte» wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt.  2019 erschien «Herr Katō spielt Familie«. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.

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Milena Michiko Flašar „Herr Katō spielt Familie“, Wagenbach

Herr Katō ist pensioniert, aber so gar nicht im Ruhestand. Da ist sein Herz, der Druck auf seinem Brustkorb, das Schwitzen, für das er sich schämt. Das Drängen seiner Frau, sich untersuchen zu lassen und die Liste, auf der sich all die Dinge sammeln, die schon so lange zu tun wären. Bis Herr Katō auf dem Friedhof eine junge Frau trifft, die ihm ein ganz eigenartiges Angebot macht.

Milena Michiko Flašar, die mit ihrem 2012 erschienenen Roman «Ich nannte ihn Krawatte» auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis stand und ihr unspektakuläres Buch über 100000 Mal verkaufen konnte, erzählt wieder über einen einfachen Mann. Einem Mann, der mit seiner Pensionierung aus seiner Welt fällt, dem man seine Aufgabe nahm, der sich trotz Familie und langer Ehe alleine und fremd fühlt.

Milena Michiko Flašar antwortete mir auf ein paar Fragen über ihr neustes, beim Wagenbach Verlag erschienenes Buch.

Als „Motto“ Ihres Buches stehen fünf japanische Schriftzeilen, ohne Übersetzung, wie Wortgeister. Verraten Sie, was dort geschrieben steht? Das mit den Wortgeistern finde ich sehr treffend…ohne den Sinn der Zeichen verstehen zu können, vermitteln sie dem Leser, der Leserin dennoch eine bestimmte Gestalthaftigkeit. Sie strahlen etwas aus.
Hier aber meine – zugegeben: laienhafte – Übersetzung (die Zeilen sind Teil eines Pop-Songs):
„Wie war doch gleich die Zukunft, die ich mir erträumt hatte?
Lebwohl, mein gestriges Ich.
Am Himmel Flugspuren –
wohin soll ich bloß nach Hause gehen?“

Im Roman «Ich nannte ihn Krawatte» war es die Geschichte eines jungen Mannes, der sich nach Jahren in seinem Zimmer, eines freiwilligen Einschliessens und Ausschliessens, zurück in die Welt ausserhalb seiner kleinen Welt traut. Ein gesellschaftliches Phänomen, das in Japan schon lange zu beobachten ist und jene Menschen als Hikikimori benennt, ein Phänomen, das aber längst bis in den Westen aufzuspüren ist. Im neuen Roman «Herr Katō spielt Familie» ist es der ältere Mann, pensioniert, der in den Raum zischen Türen fällt, einen bodenlosen Raum, selbst zuhause, wo seine Frau Moos von der Treppe vor dem Haus kratzt, den Raum vor den für immer verschlossenen Türen seines Arbeitsplatzes.

Die Wunde der Trennung von Arbeit, Pflicht, Aufgabe, Sicherheit und Rhythmus blutet noch stark. Eine Lebenssituation, die nicht nur in der japanischen Gesellschaft zu grosser Verunsicherung führen kann. Obwohl Sie mit Ihrem Jahrgang noch weit weg davon sind, was liess Sie Herr Katō erfinden? Die Idee vom Ruhestand, der einem dann doch keine Ruhe lässt, hat mich schon jahrelang beschäftigt, wohl weil das ja – sowohl für Jung als auch Alt – eine grundlegende Thematik ist: Womit identifizieren wir uns? Mit dem, was wir leisten? Oder gibt es da noch einen anderen Teil in uns, der – egal, wie viel wir auch leisten mögen – davon unberührt bleibt? Sehr umgetrieben hat mich u.a. auch das sog. Retired Husband-Syndrom – das späte Zeichen für einen Zusammenbruch, der eigentlich schon viel früher stattgefunden hat. Es macht die vielen nicht wieder gut zu machenden und zunächst kleinen Fehler deutlich, die in einer Ehe – aber auch in anderen Beziehungen – große Folgen haben können. 

Manchmal trifft Herr Katō auf seinen ziellosen Spaziergängen einen Obdachlosen, «den einzigen, den sie hier haben, eine Art lebendiges Denkmal», einer, dem man gibt, was man nicht mehr braucht, der einem mit kantigen Sprüchen bedient, solchen, die Herr Katō tiefer treffen, als er sich zugestehen will. Vor allem dann, wenn der Obdachlose den Zwist mit seiner Frau in seinem Gesicht zu erkennen scheint.

Sie schreiben über Herr Katōs Ehe „Die Fremdheit, die zwischen ihnen stand, sie das einzig Vertraute war, was sie miteinander verband.“ Niemand in Ihrem Buch ist dem andern wirklich nahe, nicht einmal die Kinder den Eltern. Viel mehr Nähe entsteht in Zufälligkeiten, in der Welt neben der Wirklichkeit. Wo bleibt das „Erkennen“? Das «Erkennen» ist hier ein flüchtiger Moment und passiert – paradoxerweise – nur dort, wo Herr Katō jemand anderen spielt als sich selbst, ja, es scheint fast so, als ob er im Unechten echt, im Echten aber unecht wäre. Etwas, was wir wohl alle zu einem Großteil nachempfinden können: Wie oft freuen wir uns etwa auf das Treffen mit alten Freunden und Bekannten, nur um danach festzustellen, dass wir dem anderen im Grunde kaum nahe gekommen sind? In der phantasierten Vorfreude haben wir Worte gesagt und Dinge getan, zu denen wir uns dann, aus welchem Grund auch immer, beim tatsächlichen Wiedersehen nicht aufraffen können – eine Schieflage, die uns wiederum dazu aufruft, uns in unseren Unzulänglichkeiten zu «erkennen», uns ihrer bewusst zu werden.

Und dann taucht Mie auf, die junge Frau auf dem Friedhof, die eine Agentur besitzt, die Identitäten vermittelt. «Sie sehen mir aus wie einer, der viel zu selten und viel zu wenig gebraucht wird.» Sie trifft nicht nur einen Verlorenen, sondern mitten in sein verwundetes Herz. Ein unmoralisches Angebot? Für ein paar Stunden im Dienste anderer ein paar Stunden jemand anderer sein, der gebraucht wird, in Wahrheit aber nicht zur Verfügung steht? Milena Michiko Flašar zeigt im Kleinen, was im Grossen schon längst begonnen hat. Wird es doch immer schwieriger, zwischen Fake und Wirklichkeit zu unterscheiden. Und in immer mehr Situationen ist es einfacher und leichter, sich mit dem Unwirklichen zu arrangieren.

«Wir lügen nicht, um die Wahrheit zu verfälschen, sondern um sie zu berichtigen»

Herr Katō hat sich im Leben eingerichtet, in Gewohnheiten, Mustern, Bahnen. Wer ihn aus seinen Ängsten und Befürchtungen herausreisst, ist Mie, eine beinah geheimnisvolle junge Frau, die ihn für ihre Agentur als Opa, Ehemann und Festredner an einer Hochzeit engagiert. Etwas, was es in Japan schon zu geben scheint. Aber auch etwas, was Herr Katō aufbricht, seinen Alltag in fixen Bahnen umlenkt. Die irreale Welt als Chance? Die irreale Welt könnte man eigentlich auch mit der Literatur schlechthin gleichsetzen: Wir lesen von Ereignissen, die wir so nicht erlebt haben und auch niemals erleben werden, trotzdem gelingt es uns, sie in dem Augenblick, in dem wir von ihnen lesen, als wirklich zu empfinden und uns in sie hineinzuversetzen. Eine großartige Chance: Mal aus unseren Schuhen zu schlüpfen. Ein paar Schritte in anderen zu laufen.

Herr Katō ist ein Spiesser, einer der stolz sein will, zufrieden mit sich selbst. Einer, der sich das dauernd vor Augen führen muss, der sich geflissentlich darum bemüht, Gegenstimmen zu überhören. Einer, dem es genügt, die Idee im Kopf herumzutragen, so wie die jahrelangen Reisepläne nach Paris. Der damals gekaufte Reiseführer ist längst zerlesen und zerfleddert. Aber Herr Katōs neuer Dienst in der Agentur «Happy family» bricht ihn auf. Nicht nur auf eine Reise aus seiner verkrusteten Gegenwart, auch auf eine Reise hin zur eigenen Familie.

Ihr erster Roman „Ich nannte ihn Krawatte“, die Geschichte eines Hikikimori, war schon stille Kritik an einer leistungsorientierten Gesellschaft. Ihr neuer Roman kritisiert auch, vielleicht noch leiser als ihr letzter. Mögen Sie laute Töne nicht? Dort, wo es laut ist, hört man bisweilen nichts. Die Stille aber – in ihr offenbaren sich auch die kleinsten Geräusche. Vielleicht ist es das, was ich am Leisen schätze: Dass es ein Spektrum an Untertönen zum Klingen bringt.

«Herr Katō spielt Familie» ist der leise Roman darüber, wo man leben will. Möglichst nahe an der Wirklichkeit oder möglichst nah an den Vorstellungen davon. Über uneingelöste Versprechen, nicht nur jene, die in der Vergangenheit ausgesprochen wurden, sondern auch jene, die das Leben gab. Milena Michiko Flašar erzählt unaufgeregt, fein beobachtend und mit grossem Respekt vor ihren Protagonisten. Was im Buch in Japan spielt, ist für den Westen beispielhaft. Das Herz der Autorin pocht im Herzen Herr Katos.

Milena Michiko Flašar, geboren 1980 in St. Pölten, hat in Wien und Berlin Germanistik und Romanistik studiert. Sie ist die Tochter einer japanischen Mutter und eines österreichischen Vaters. Ihr Roman Ich nannte ihn Krawatte wurde über 100.000 Mal verkauft, als Theaterstück am Maxim Gorki Theater uraufgeführt und mehrfach ausgezeichnet. Er stand unter anderem 2012 auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in Wien.

Webseite der Autorin 

Lawrence Osborne «Denen man vergibt», Wagenbach

Lawrence Osborne hat einen Roman geschrieben, der unzweifelhaft das Zeug zum Klassiker hat. Umso erstaunlicher, dass es sein erster in Deutsch erschienener Roman ist. Den Namen Lawrence Osborne sollte man sich merken!

Auf dem Weg zu einer Party mitten in der marokkanischen Wüste kommt es zum tödlichen Zusammenstoss. Ein britisches Ehepaar überfährt einen einheimischen Fossilienverkäufer, der urplötzlich aus dem Dunkel der Nacht auf die Strasse tritt. David und Jo steigen aus, vergewissern sich, ob er vielleicht noch lebt, durchsuchen seine Taschen, um dem Toten einen Namen zu geben und packen ihn auf den Rücksitz, weil man ihn doch nicht einfach so liegen lassen kann. David, ein in Verruf geratener Arzt und Jo, seine Frau, einmal eine erfolgreiche Schriftstellerin. Er am Steuer und betrunken, zu schnell unterwegs. Sie beide an einem Ort, an dem sie eigentlich nichts verloren haben. Während der Rücksitz mit fremdem Blut besudelt wird, fahren sie weiter in die Nacht bis zum Anwesen von Richard und Dally, die die Party ausrichten und nicht im Traum daran denken, die Party wegen dieses Zwischenfalls abzublasen. Auch nicht, als die Polizei auftaucht. Auch dann nicht, als sich vor dem Tor zum Anwesen Männer sammeln, Einheimische und man den Vater des Toten in die Garage zum Aufgebahrten vorlassen muss.

Es prallen Welten aufeinander. Hier jene von Richard und Dally, die mit viel Geld eine ganze Siedlung renovieren und sie zu ihrer Spielwiese machen. Dort jene von Driss, dem Toten in der Garage und seinem Vater, der seinen einzigen Sohn zuhause begraben will. Hier die Dekadenz des Überflusses, des Champagners, der spinnigen Parties. Dort die kaputte Gegenwart und Zukunft eines ganzen Volkes, das gezwungen ist, mit längst zu Stein gewordenem Leben das eigene Leben zu erkaufen. Hier die Angst und Arroganz. Dort die Wut, der Zorn und die unterdrückte Aggression.
Bis der Vater des zu Tode Gekommenen erwirkt, dass David den Tross ins Dorf des Verunfallten begleiten soll. Während Jo, Davids Frau, sich die Laune nicht verderben lassen will und weiterfeiert, fährt David in einem übervollen Auto und einem Toten im Gepäck hinaus in die Wüste, in die Berge, ins Ungewisse, vollkommen Fremde, in ein Dorf, wo sie trauernde Frauen erwarten und die Spannung messerscharf wird. Zweimal blinkt eine Klinge auf. Das erste Mal bloss um einen Apfel zu schälen, was demonstrieren soll, wie scharf die Klinge ist. Zum zweiten Mal vor Sonnenaufgang in der Wüste, auf Messers Schneide, zwischen Rachegefühlen und lähmender Wut.

Lawrence Osborne hat einen Roman geschrieben, der mir in die Knochen fährt. Osborne tut das in einer derart subtilen Art, die mich gefangen nimmt, die das geschehen nie explodieren lässt, obwohl während des ganzen Romans die Lunte brennt. Während der ganzen Lektüre muss ich mit dem Schlimmsten rechnen. Lawrence Osborne, bisher mit Reportagen in Erscheinung getreten, will ganz offensichtlich zeigen, wie weit sich der Mensch von seinem Bruder, seiner Schwester entfernen kann, wie weit Kulturen auseinanderdriften, was Reichtum und Armut mit Wahrnehmung und Innenwelten anrichten können, wie unversöhnlich diese Welten sind. Wie sehr jeder sich in seiner Sicht auf die Dinge, mit der Sicht auf die andere Seite sich in „Wahrheiten“ verrennt. Wie unüberbrückbar Gräben werden, erst recht dort, wo man in Ländern wie Marokko auf das Geld der reichen Ausländer genauso angewiesen ist wie die Reichen auf die Arbeitskraft der Einheimischen.
Und mitten drin das Drama eines sich abhanden gekommenen Ehepaars, das nicht weiss, ob man sich lieben oder hassen soll, das nicht weiss, warum man noch immer beisammen ist. Ein Paar im permanenten Kriegszustand, tief eingegraben, jeder in seinem Schützengraben, mit Mechanismen bewaffnet, ganz nah und Lichtjahre entfernt. Genauso wie die Menschen auf der Party von jenen, die sie bedienen, ihnen argwöhnisch zuschauen und zuhören, nicht verstehen können, warum den einen nur die Steine bleiben, während man hinter Mauern in Unmengen von Alkohol tanzt und der Wollust fröhnt.

Lawrence Osborne erzählt und verwebt drei Geschichten. Jene von David, der im Dorf der trauernden Marokkaner nicht weiss, ob er um sein Leben fürchten muss. Jenes von Jo, die einem vergangenen Leben, verpassten Chancen und der Jugend nachtrauert und sich dem Rausch hingibt. Und jene von Driss, dem in seiner Geschichte Gefangenen, Hoffnungslosen, der sein Leben am Strassenrand verliert. „Ein Niemand, ein armer Schlucker. So ist das nun mal.“
Der Unfall nachts in der Wüste, Autoblech auf Menschenknochen, macht auf mehrfach schmerzhafte Weise bewusst, wie weit man sich voneinander entfernen kann und wie viel tödliches Potenzial in Begegnungen schlummert. Dabei sind sie alle Gescheiterte, Gestrandete, Zerschlagene. Alle sind Opfer einer langen Folge unglücklicher Ereignisse, der Geschichte ihrer Kultur, der eigenen Lebensgeschichte.

Meisterhaft konstruiert und erzählt, spannend, Innenwelten aufreissend und mitreissend geschrieben. Und nicht zuletzt beweist Lawrence Osborne tiefes Verständnis für die Hoffnungs- und Zukunftslosigkeit der Menschen in der Wüste, die mit Hamid, dem Diener auf dem Anwesen von Richard und Dally erfühlen lässt, was es heisst, wenn dieser zuschaut und denkt. „So sind sie eben. Sie haben ein Herz aus Stein, wenn es um uns geht. Für sie sind wir nicht mehr wert als Fliegen.“
Ein Roman mit ungeheurer Reife geschrieben. Unaufgeregt, aber mitten ins Herz treffend, präzise auf den Nerv gezielt.

Lawrence Osborne, geboren 1958, ist ein Reisender, der mit seinen Reportagen unter anderem für die New York Times bekannt wurde. Ursprünglich aus Großbritannien, lebte er lange Zeit in Paris und jetzt in Bangkok. Inspiration für den Roman »Denen man vergibt« fand er während einer Marokkoreise. Es ist sein erster Roman auf Deutsch. Übersetzt wurde der Roman von Reiner Pfleiderer.

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Titelfoto: Sandra Kottonau