Judith Hermann «Daheim», S. Fischer

Dreissig Jahre nachdem sie beinahe mit einem Zauberer und einer Kiste, in der sie dreimal pro Woche zersägt worden wäre, auf eine Kreuzfahrt nach Singapur gegangen wäre, erinnert sich die Frau. Sie erinnert sich in einem Haus, in dem sie sich einrichtete, das ihr Daheim werden sollte. Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist voller überraschender Wendungen, ein einziger Strudel, der Gegenwart und Vergangenheit vermengt.

Ein kleines Haus nicht weit vom Meer. Im Erdgeschoss eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und im ersten Stock ein weiteres Zimmer, das sie aber gar nicht braucht. Es ist das letzte Haus. Danach ist der Weg bloss noch Sand. Sie wohnt in dem baufälligen Haus, weil nicht weit davon ihr Bruder eine Kneipe, einen Schuppen direkt am Meer betreibt, weil er im Frühling die Bretter von den Fenstern nimmt und er eine Hilfskraft braucht, die den Laden am Laufen hält. Ihr Bruder ist Arbeitgeber, vielleicht auch ein bisschen Asylgeber, denn sonst hält sie nichts an dem Ort, schon gar nicht die neue Freundin ihres Bruders, mehr als dreissig Jahre jünger als er, unstet und verschroben, unergründlich, ihren Bruder quälend. Eine junge Frau, die er zwischendurch zur Trailersiedlung fahren und auf sie warten muss, bis sie eine halbe Stunde später einen der Trailer wieder verlässt. Sie heisst Nike!

Judith Hermann «Daheim», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-10-397035-7

Im Frühling gibt es in der Kneipe noch nicht viel zu tun. Sie freundet sich mit ihrer Nachbarin an, mit Mimi, die auch eines der freistehenden Häuschen bewohnt, das sie einst von einer alten Frau übernahm, vollgestellt mit Möbeln und Dingen, die aus der Zeit gefallen sind. Mimi ist nicht weit von den Häusern auf einem Hof aufgewachsen, den ihr Bruder Arild seit dem Auszug seiner Frau alleine führt. Er allein mit tausend Schweinen. Mimi nimmt ihre Nachbarschaft so selbstverständlich wie ihr Bruder die Tatsache, dass sie nun irgendwie dazugehört. Obwohl die Erzählerin eigentlich ihre Ruhe will, tagsüber ihre Arbeit in der Kneipe, die Abende und Wochenenden für sich, für eine Flasche Wein und ihre Erinnerungen.

Sie hatte Familie. Hat sie eigentlich noch immer. Aber nachdem ihre Tochter Ann ausgezogen war, sich auf eine Reise machte ohne Ziel und Rückkehrdatum, gab es keinen Grund mehr bei Otis, ihrem Mann zu bleiben. Auch wenn sie Otis noch immer Briefe schreibt, auch wenn ihr die Erinnerungen an die Zeit als Familie noch immer weh tut, auch wenn Otis irgendwie noch immer ihr Mann ist. Ein Sammler, ein Messi, unter einem Dach, dass er sein Archiv nennt, in dem er alles hortet, was man dereinst, wenn die Welt vor die Hunde geht, brauchen wird. Auch wenn von Ann nur ein paar kurze Mitteilungen kommen, eigentlich bloss Koordinaten von irgendwelchen Orten. Die Liebe aber ist geblieben.

Mimi ihre Nachbarin, Arild ihr Bruder auf dem Hof mit seinen Schweinen, der manchmal rüberkommt, um in der Marderfalle hinterm Haus den Köder zu ersetzen. Und vielleicht noch die Eltern von Mimi und ihrem Bruder, ihr eigener Bruder mit „seiner“ Freundin, der er sich verschrieben hat. Und die Otis und Ann. Eine Welt, die nicht mehr ihr gehört und sie trotzdem in eine Kiste einsperrt, eine Kiste, aus der sie es nicht schafft, trotz der Distanz.

Sie erinnert sich. An die gute Anfangszeit mit Otis, an die Familienzeit, an jenen Moment zuvor, als sie mit dem Zauberer und der Kiste nach Singapur hätte fahren können und es im letzten Moment mit schon gepackten Koffern sausen liess. Ein anderes Leben. Ein Leben ohne Otis, ohne Ann, ohne die Kiste jetzt. Aber dafür mit einer Kiste, mit der der Zauberer sie dreimal pro Woche in zwei Hälften zersägt hätte. Zwei Hälften, in die sie auch ohne den Zauberer damals geworden ist. Eine Hälfte, die existiert und eine Hälfte, die sich erinnert.

Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist unkonventionell, überraschend, verunsichernd, kaum je vorhersehbar. Mit einem Mal eröffnen sich Bilder, die mich ebenso faszinieren wie verstören. Und hinter dem ganzen Roman steckt latent eine Endzeitstimmung, etwas Fatalistisches. Als hätte man allem die Zukunft geraubt. „Daheim“ bleibt hängen!

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark», die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Der Roman «Daheim» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Beitragsbild © Michael Witte