Vielleicht verändern wir uns nur in der Bewegung – eine literarische Wanderung mit Anne Weber und Lorena Simmel

Ausnahmezustände. Paris mit seinen Banlieues und Ferymont, ein Fleck Erde im Schweizer Seeland, Orte an denen Gegensätze zusammenprallen, sich so lange aneinander reiben, bis die Hitze in Flammen aufzugehen droht. Wie jedes Jahr lädt das Internationale Literaturfestival Leukerbad zur Literarischen Wanderung ein, stets mit zwei Autorinnen oder Autoren. Heuer mit der vielfach preisgekrönten Anne Weber und der jungen Debütantin Lorena Simmel.

Das Wallis, auch ein Ort der Gegensätze; dort das touristische Gesicht eines Kantons, der mit schwarzen Kampfkühen, dem Matterhorn und Weinbergen wirbt, auf der anderes Seite riesige Industriekomplexe und ewige Baustellen, die sich über Jahrzehnte ins Rhonetal hineinfressen. Aber wer nicht nur in die Literatur eintauchen will, wer während dieser Büchertage auch etwas von der Landschaft, den Traditionen, der Geschichte mitnehmen will, ist am eigentlichen Eröffnungstag des Literaturfestivals mit der Literarischen Wanderung, geführt durch einen Guide des Naturparks Pfyn-Finges, bestens bedient, auch wenn sich die Sonne zurückhaltend zeigt.

Die Schriftstellerinnen Lorena Simmel und Anne Weber beschreiben in ihren Romanen verwundete Landschaften. Verwundungen, die bis in die Seelen der Menschen wirken, ob in einem fiktiven Ort im Berner Seeland, zwischen Bieler-, Murten- und Neuenburgersee oder den Banlieues rund um die Megacity Paris. Ob in den Plastiktunnels der Gemüse- und Beerenproduzenten, in denen Hundertschaften vom dortigen Leben gekappt unter menschenfeindlichen Bedingungen für einen Hungerlohn die Supermärkte der Schweiz bedienen oder in den von Touristen geschmähten Banlieues, wo die im Sommer beginnende Olympiade tiefgreifende Veränderungen in eine Subkultur der Metropole hineinbaut, die das Gefüge in diesen heissen Zonen nicht abkühlen wird, da das Geld meist bloss dorthin fliesst, wo das öffentliche Interesse mit Aufmerksamkeit hingiert.

Lorena Simmel liest aus «Ferymont», Verbrecher Verlag

In Lorena Simmels Roman «Ferymont» weiss die Wahlberlinerin sehr gut, wovon sie erzählt, denn ihr fiktiver Ort Ferymont liegt dort, wo sie aufwuchs. Die Erzählerin in ihrem Debüt freundet sich in den Monaten, in denen sie dort Geld verdienen will und bei einer Tante einquartiert ist, mit Daria an. Daria, eine moldawische Saisonarbeiterin, die mit ihrer ganzen Familie weit weg von ihrem eigentlichen Zuhause ihr Stück Sicherheit gewinnen will. Die Erzählerin, als Seeländerin aufgewachsen, wusste schon als Kind von den fleissigen Händen in den langen Plastikröhren und Feldern in ihrer Heimat. Aber erst durch die eigene Arbeit, im Wechsel von einem Aussen in ein Innen, um als junge Frau Geld für Ausbildung und Leben in Berlin zu verdienen, lernte Lorena Simmel, was es heisst, Teil der  «Erntebrigaden» in den künstlich aufgeheizten Subkulturen einer hochgerüsteten Landwirtschaft zu sein. Daria hilft der jungen Frau, manchmal gar zum eigenen Nachteil. Je tiefer die Erzählerin in die begrenzten Lebenswelten der Arbeiterinnen und Arbeiter auf den Feldern sieht, desto grösser wird ihr Befremden darüber, was die Gegensätzlichkeit dieser verschiedenen Welten mit ihr macht. «Ferymont» ist ein starkes Stück engagierter Literatur, das sich mit seiner Gesellschaftskritik nicht zurückhält!

Anne Weber mit «Bannmeilen», Matthes & Seitz

Genauso «Bannmeilen» von Anne Weber! In ihrem «Roman in Streifzügen» macht sich die Erzählerin auf in jenen Teil ihrer Heimatstadt, der bisher ihrer literarischen Aufmerksamkeit entging. Mit einem befreundeten Filmemacher, der auf Recherchegängen für ein Filmprojekt, das sich mit den Auswirkungen der Sommerolympiade auf das filigrane Ungleichgewicht in den Banlieues der französischen Hauptstadt auseinandersetzt, macht sich die Erzählerin auf in eine Welt, die ihr selbst nach 40 Jahren Paris verborgen blieb. Zu zweit besuchen sie die Unorte einer Stadt, die im Bewusstsein der Allgemeinheit als Stadt der Liebe gilt. «Bannmeilen» ist ein Versuch zu verstehen, ein fast reumütiger Versuch, den Menschen dort Aufmerksamkeit zu schenken, die sie/man bisher mit Ignoranz auszublenden verstand. Ein Buch über jene Orte, die sich mehr und mehr den Zugriffen eines Rechtsstaats entziehen, in denen die Gewalt alles frisst und sich Generationen der Hoffnungslosigkeit ergeben. „Bannmeilen“ ist ein Mahnmal, ein mutiges Buch, das einem beschämt zurücklässt.

Aus 14 Nationen reisen Mitwirkende ins Oberwallis und bringen Geschichten und Gedichte in den verregneten Leukerbadner Bergsommer. An drei Tagen wird sich zum 28. Mal alles um die Literatur drehen, auf den Terrassen und Wiesen von Leukerbad, beim Dalaschluchtspaziergang, im «James-Baldwin-Zelt» und natürlich um Mitternacht auf dem Berg. Insgesamt warten zwischen 50 und 60 Veranstaltungen auf das Publikum, bei denen auch 12 aus der Schweiz auftreten werden.

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher

Generation Setzlinge

Die Kieler Schriftstellerin Zara Zerbe bietet mit ihrem Debüt-Roman PHYTOPIA PLUS elegante und kluge Unterhaltung. Nebenher nimmt sie sich das Genre der ‚Climate Fiction‘ zur Brust.

Gastbeitrag von Frank Keil
Der Journalist lebt und arbeitet in Hamburg und Norddeutschland, Schwerpunkte Kunst und Kultur, Geschichte sowie Bildung und Soziales.

Das hätte auch schiefgehen können! Hätte ein Anklagestück werden können, schwer und düster, das man bald halbgelesen liegen lässt: wo wir doch alle wissen, das es nicht gut aussieht mit den Gletschern, den Polarkappen, den Regenmengen, die auf uns niederprasseln und den Südsee-Atollen, an denen der wachsende Meeresspiegel nagt – also mit dem Klima und der Zukunft, um mal zu untertreiben.
Doch das Gegenteil ist der Fall: Man liest Zara Zerbes dystopisches Roman-Debüt schnell ein wenig wie früher, als man erstens Bücher las, um sich zu unterhalten, zweitens um den Kopf weit hinaus in die Welt zu strecken und drittens um sie unbedingt weiterzuempfehlen. Was alles auch an dem präzisen und gleichzeitig so lockeren Erzählstil liegt und überhaupt an dem dramaturgischen Geschick, mit dem Zerbe zu Werke geht.

Der Clou und vielleicht auch der Trick: Zara Zerbe führt uns in eine durchweg vertraute Welt wie der von heute, nur ist sie einige Jahrzehnte in die Zukunft verlagert, so dass alles ein bisschen schief und verdreht ist und doch zugleich vertraut.

Die Stadt, in der wir nun eine Zeitlang lesen lebend, Hamburg nämlich, ist dabei in einem durchaus desolaten Zustand: Das Vorland hat sich in eine sumpfige Elbuferlandschaft zurückentwickelt, entsprechend drückt das Flusswasser beständig in die Straßen, unterhöhlt die Straßen und Gebäude, weshalb im Süden die Menschen leben, schon immer nicht zu den Gewinnern unseres Wirtschaftssystems gehörten. „Ich fand es sehr eindrücklich, als ich mir mal den Überschwemmungsstatus von Hamburg angeschaut habe; also was wäre, gäbe es all die Deiche nicht“, sagt Zara Zerbe. Längst gibt es dort mehr Waschbären als Menschen; die Waschbären randalieren des Nachts in den Hinterhöfen, holen sich aus den Mülltonnen, was zu holen ist; so sieht das also aus, wenn das, was wir Natur nennen, aus den Fugen geraten ist.

In den im doppelten Sinne höheren Norden der Stadt dagegen haben sich die der zurückgezogen, die genügend Geld und gesellschaftliche Kontakte und damit Beziehungen haben, um auch in schwierigen Lebenslagen nicht ganz verzagen zu müssen; leben hier hinter hohen Mauern in gut abgesicherten Wohnquartieren, wortkarges Wachpersonal sorgt für zusätzliche Sicherheit; an den Pforten kreiseln die Überwachungskameras.

Und wie eine Art Zwischenwelt, fast wie eine Schleuse fungiert der Gewächshäuserkomplex der Drosera AG, ein fiktives Biotech-Unternehmen, in dem es sprießt und wächst (und wer jetzt kurz an den Science Fiction Film „Lautlos im Weltall“ von 1972 denkt, der ist zumindest atmosphärisch auf keiner falschen Spur).

Zara Zerbe «Phytopia Plus», Verbrecher, 2024, 300 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-95732-581-5

Doch es geht dem Unternehmen, dass wir anhand seiner MitarbeiterInnen nach und nach kennenlernen, nicht allein  um die Pflege oder der Erhalt der Pflanzenwelt: Man vielmehr ein Verfahren entwickelt und erprobt es jetzt, um das menschliche Bewusstsein so zu digitalisieren, dass es sich in der DNA ausgewählter Pflanzen speichern lässt. „Länger bleiben mit Phytopia Plus“, lautet entsprechend der Werbespruch, der ein Weiterleben auf einer mehr als bedrohten Erde verspricht, denn wer weiß, was in den nächsten Jahrzehnten noch alles passiert. Und das mit dem Weiterleben funktioniert so: Noch zu Lebzeiten wird dem Speicherwilligen ein Bio-Chip in die Hirnrinde implantiert, der nach dem Ableben dann in den Gewebeteil einer Pflanze wechselt, der das Pflanzenwachstum steuert.

Heldin des Geschehens ist Aylin. Eine junge Frau, die bei der Drosera AG als Aushilfsgärtnerin arbeitet, sich um Setzlinge kümmert, deren Wurzeldichte scannt, sie vor Pilzbefall schützt, für den entsprechend kargen Mindestlohn, bis ihr etwas Besseres einfallen sollte. Ein bisschen verpeilt ist Alyin, wie wir Norddeutschen das nennen, wenn jemand sehr engagiert sein kann und es zuweilen auch ist, aber sich zugleich ständig verzettelt und daher nicht zu Potte kommt, auch das eine lokale Formel. Oft kommt sie zu spät und leicht zerzaust zum Arbeitsbeginn, ermahnt von der KI-Stimme Bella, die alles im Blick hat und entsprechend schwer auszutricksen ist. Und um all das gut auszuhalten, um zugleich wenigstens finanziell ein bisschen besser über die Runden zu kommen, hat sie sich eine Art Nebenerwerb ausgedacht: Sie knipst hier und da den einen und anderen Trieb ab, pflanzt ihn daheim ein, zieht das Gewächs groß und verkauft es unter der Hand weiter. Ist das streng verboten, könnte das Konsequenzen haben, wenn es auffliegt, stände der Rauswurf bevor oder würde sich der Ärger in Grenzen halten, so ganz genau weiß Aylin das nicht. Und diese diffuse Spannung wird uns bald durch die Seiten tragen.

Und weil ein Mensch eine Familie braucht, auch in der Zukunft wird das so sein, bleibt Aylin nicht ganz allein. Und Zara Zerbe lacht: „In einer meiner frühen Geschichte taucht gleich im ersten Satz meine Mutter gleich auf, aber ich wollte meine arme Mutter nicht noch mal nerven; also dachte ich, ich gönne es mir mal, die Elterngenerationen auszulassen.“ Dabei ist ihre Mutter Gärtnerin!
„Ich wollte den Stoff in der Zukunft ansiedeln, aber ich wollte auch gerne eine Figur aus der gegenwärtigen Generation haben; Elternbeziehungen sind ja immer so schwer, sind nicht mein Ding, mit einem Großvater kann ich ganz gut arbeiten, wobei der mit meinem tatsächlichen Großvater nichts zu tun hat“, setzt Zara Zerbe hinzu.

Und so muss den familiären Bindungsjob Aylins Großvater übernehmen, ein einstiger Gärtner, ursprünglich hat er Philosophie studiert, doch dann ist er vor langer Zeit aus Kroatien nach Norddeutschland eingewandert, hat hier sein Leben lang hart gearbeitet und muss sich nun Mühe geben, mit Aylins jugendlichem Tempo mitzuhalten. Jedenfalls mögen sich die beiden, und wieder einmal klappt das Spiel mit dem Aufeinandertreffen der jungen und übernächsten Generation, entwickelt sich aus dem Aufeinandertreffen von von Opa und Enkelin immer wieder ein munteres Geschehen.

Erst recht weil Aylin sich um ihren Großvater nicht nur sorgt, sie will auch sein durch Lebenszeit und -sinn gewonnenes Wissen nicht kampflos dem Vergessen übergeben, nur kostet es flotte 350.000 Euro, sein Bewusstsein in eine pflanzliche Form zu überführen – wobei Aylin als Mitarbeiterin der Drosera AG auf einen Rabatt von 50 Prozent zählen könnte, was immer noch 175.000 Euro wären! Und was nun passiert, wird facettenreich und spannend, wird so kunst- wie humorvoll erzählt, auf ein durchaus offenes Ende hin. Und Zara Zerbe sagt: „Oh, ob es eine Fortsetzung gibt, das werde ich immer wieder gefragt“, und wenn dem so ist, dann scheint es dafür ja gute, wenn nicht beste Gründe zu geben.

Zara Zerbe lebt und schreibt und arbeitet in Kiel, immerhin eine bundesdeutsche Landeshauptstadt, die Ostsee fast vor der Tür, davor verbreitert sich nur die Förde, gesegnet mit erstem Wind und Wellen; Kiel ist eine lebenswerte Stadt, die zugleich einen schlechten Ruf hat: verbaut und langweilig, ach wie provinziell und dergleichen mehr hört man, wenn man etwa in Hamburg oder Berlin bekennt, dass man gerne nach Kiel fährt und sich dort auch noch wohlfühlt. Mag alles sein, doch zugleich und vor allem ist Kiel ein Ort, von Fläche und Einwohnerzahl nicht zu klein und nicht zu groß und damit geradezu geschaffen, sich einigermaßen anstrengungsfrei durchzusetzen, wenn man ein junger Mensch ist, den es nun mal ins Kreative verschlagen hat. Und so sagt Zara Zerbe mit der ihr eigenen Lässigkeit: „Kiel als Literaturort, das passt schon.“ Und dass der Nachteil, dass man das, was man kulturell erleben möchte, selbst organisieren und auf die Beine stellen müsse, sofort durch den Vorteil ausgeglichen werde, dass man dieses in Kiel auch könne und wenn man das ein paar Jahre mache, dann kenne man alle interessanten Leute. Von daher gelte auch: „Die Leute, die meine Konkurrenten sein könnten, mit denen bin ich eh befreundet.“ Mithin: Die Wege sind kurz und vor allem sind sie nicht versperrt.
Also gehört sie auch zum Team der Kieler Literaturzeitschrift „Der Schnipsel“, auch das ein Name, der in Berlin, Hamburg oder München sofort Spott und Hohn auslösen würde, in Kiel geht er aber sowas von in Ordnung. 23 Nummern hat man so seit 2012 realisiert. Und nebenher hat sie in den vergangenen Jahren alle lokalen Literatur-Preise eingeheimst; für das Schreiben an ihrem Debüt etwa konnte sie zuletzt auf das Arbeitsstipendium der Kulturstiftung Schleswig-Holstein zurückgreifen.

Und so strahlt sie die gelassene Zufriedenheit einer jungen Autorin aus, die wichtige Schritte gegangen ist: Die Kritiken waren durchweg positiv, erste Lesungen hat sie hinter sich, nächste sind verabredet, auch wenn es sich noch immer ein wenig unwirklich anfühle, dass nach diversen einzelnen Erzählungen nun ihr erster Roman tatsächlich gedruckt und gebunden vorliege. Und der will ja auch verkauft werden, will unter die Leute, und so geht sie regelmäßig bei sich um die Ecke zum Buchladen ihres Herzens, schaut dort vorbei, signiert weitere Bücher und hilft gelegentlich auch dem Buchhändler, einem Herrn alter Schule, mit dem Genre der Online-Bestellung besser klarzukommen, auch das ist Kiel.

Zara Zerbe wurde 1989 in Hamburg-Harburg geboren, hat Literatur- und Medienwissenschaften studiert und lebt als freie Autorin in Kiel. Sie ist Mitherausgeberin des Literaturmagazins „Der Schnipsel“ und veranstaltet die „Lesebühne FederKiel“ in der Hansa48 in Kiel. Ihre Erzählung „Limbus“, für die sie mit dem Preis Neue Prosa Schleswig-Holstein 2018/2019 ausgezeichnet wurde, ist 2020 im Sukultur Verlag erschienen. 2021 erschien die Novelle „Das Orakel von Bad Meisenfeld“ im stirnholz Verlag. 2022 wurde sie mit dem Kunstförderpreis des Landes Schleswig-Holstein ausgezeichnet. „Phytopia Plus“ ist ihr Debütroman.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Corinna Haug

„Wir verstehen nicht, was geschieht» – eine Reise in einen sowjetischen Gulag

Seit in Europa mit Bomben beladene Drohnen Wohnhäuser zerreissen, Panzer Radfahrer beschiessen und ein unüberwindbarer Graben zwischen Europa und Russland gähnt, ist das Interesse vieler, verstehen zu wollen, gross. Vielleicht auch ein Grund, warum das Interesse am Schriftsteller und Historiker Viktor Funk so gross war.

«Wir haben uns lange auf den Besuch in Gottlieben gefreut, und ihr habt uns mit eurer Gastfreundschaft gezeigt, dass unsere Vorfreude gerechtfertigt war. Danke für Deine sehr empathische und herzliche Moderation, Gallus, danke an Sandra für die Bilder und auch an das Publikum für alle die Aufmerksamkeit und die Neugierde. Und danke auch, dass wir dank euch Gottlieben kennengelernt haben.» Viktor Funk

Wir leben in beängstigen Zeiten. Hätten wir uns vor 13 Monaten vorstellen können, was in Europa geschieht? Viktor Funk kam 1978 in Kasachstan, einer ehemaligen Sowjetrepublik zur Welt und zusammen mit seiner Familie als Zwölfjähriger nach Deutschland. Wenn man auf seiner Webseite liest, muss das für jenen Viktor damals mehr als nur eine schwierige Zeit gewesen sein. Trotzdem gelang es ihm, Geschichte zu studieren und mit einer Magisterarbeit über den Vergleich von mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden abzuschliessen.

2017 debütierte Viktor Funk in der Literatur mit seinem Roman „Bienenstich“, eben genau mit jenen Krisen junger MigrantInnen, die sich überall abspielen, seit dem von Russland angezettelten Krieg millionenfach, bis vor unsere Haustüren. 
Seit 2006 ist Viktor Funk Redakteur bei der Frankfurter Rundschau im Ressort Politik, schreibt aber nicht nur dort, sondern engagiert, intensiv und emphatisch Romane, die aktueller nicht sein könnten.
Als ich seinen aktuellen Roman „Wir verstehen nicht, was geschieht“ vor ein paar Monaten zu lesen begann, wusste ich schon während der ersten Seiten, dass ich darüber schreiben musste und am Ende der Lektüre, dass ich es versuchen musste, den Schriftsteller in die Schweiz, nach Gottlieben einzuladen. Dass Viktor Funk die Einladung annahm, freute mich ungemein.

In den Konzentrationslagern der Sowjetzeit starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Es ist nicht anzunehmen, dass im Nachfolgestaat Russland die Gulags zu Geschichte wurden. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist aber nicht einfach ein Versuch des Wachrüttelns und schon gar kein Vorwurf an ein träges Westeuropa, das sich neben all dem gegenwärtigen Schrecken nicht auch noch mit jenem in der Vergangenheit beschäftigen möchte.

Viktor Funk hat sich ganz intensiv mit mündlichen und schriftlichen Erinnerungen von Gulag-Überlebenden beschäftigt und stiess dabei auf die Geschichte des Physikers Lew Mischenko und seine Frau Svetlana.
Lev und Svetlana sind keine Fiktion. Genauso wie Petschora, der Gulag, in den man Lev nach seiner Zeit im KZ Buchenwald schickte. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Versuch des Autors selbst zu verstehen; Wie kann man die Jahre in einem Gulag überstehen? Und wie schaffte es ein Mann wie Lev nicht daran zu zerbrechen?

Zentrales Element im Buch und im Überlebenskampf sind die Briefe zwischen Lev und Svetlana. Es gibt viele Gründe, warum Lev die Zeit im Gulag überlebte; sein Glück ein Techniker, ein Physiker zu sein, seine Freundschaften – aber mit Sicherheit diese Liebe zu seiner Frau.

Der Roman ist die Geschichte einer Reise; einer Reise mit dem Zug nach Petschora Richtung Sibirien, eine Reise in die Vergangenheit und eine Reise in die Tiefen eines Lebens. Viktor Funk hat Lev dort zurückgelassen, mit diesem Buch aber eigentlich wieder mitgenommen. 

Vielen Dank für den wichtigen Abend!

Rezension zu «Wir verstehen nicht, was passiert» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau

Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was geschieht», Verbrecher

Der Physiker Lew Mischenko wird während der Stalin-Ära für 14 Jahre in einen  sowjetrussischen Gulag verbannt, ein Straf- und Arbeitslager im kalten Norden Russlands, weg von seiner Frau, weg von seinem Leben. Jahrzehnte später fährt Lew zusammen mit dem Historiker Alexander noch einmal mit dem Zug an den Ort verlorenen Lebens.

In sowjetrussischen Gulags starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Bereits in den 70ern machte Alexander Solschenizyn mit Büchern auf das permanente Massaker in diesen Lagern aufmerksam. Was Stalin als Notwendigkeit in seinem Machtapparat zur Waffe gegen das eigene Volk machte, ist bis heute eine offene Wunde in der gemarterten russischen Seele. Obwohl „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und später „Archipel Gulag“ vom Alexander Solschenizyn millionenfach gelesen wurden und der Autor nicht zuletzt für seinen Kampf gegen Unrecht 1970 den Nobelpreis bekam, ist die Tatsache, dass ein ganzes Volk im tödlichen Würgegriff eines totalitären Machtapparats war, fast vergessen. Was in der Gegenwart passiert, müsste deutlich genug sein, dass Staaten, die sich eine einzig richtige Farbe auf ihr Banner schreiben, noch immer alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Folge davon war nicht zuletzt die faktische Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021. Das Nicht-Erinnern-Wollen wird zur staatlichen Maxime. Und wenn man sich erinnern will, dann an ein geschöntes, verklärtes Zerrbild der Vergangenheit.
Nicht nur in Russland, auch in vielen anderen Staaten, nimmt man Menschen wegen Nichtigkeiten ihre Freiheit, reagiert man mit aller Härte gegen nicht uniformiertes Tun und Denken.

Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)

Der Schriftsteller Viktor Funk ist Historiker mit sowjetrussischen Wurzeln. In „Wir verstehen nicht, was geschieht“ erzählt der Autor die Geschichte des Physikers Lew Mischenko, den er in Moskau besucht. Lew ist alt und wohnt mit seinem ebenfalls alt gewordenen Hund allein in einer kleinen Wohnung. Seine Frau Swetlana, mit der er fast sein ganzes Leben teilte, wenn auch über ein Jahrzehnt unfreiwillig über tausende von Kilometern voneinander getrennt, musste Lew zu Grabe tragen. Was ihm geblieben ist, sind seine Erinnerungen, Swetlanas Briefe, ein paar zerfledderte Bücher aus seiner Zeit im Lager – und der Hund. Im Roman heisst der Historiker Alexander. Wohl darum, um dem Erzählen jene Distanz geben zu können, um sich nicht in Emotionen zu verlieren. 

Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was passiert», Verbrecher, 2022, 156 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95732-536-5

Alexander will jene Menschen interviewen, die den Gulag überlebten. Was gab jenen Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in diesen Lagern aller Menschenwürde beraubt wurden, Hoffnung? Was gab ihnen Kraft, den inneren Kampf aufzunehmen? Wie konnte eine Liebe wie jene zwischen Lew im Lager und seiner Frau Swetlana in Moskau die Zeit der ungewissen Trennung überstehen? Wie kann ein Leben danach funktionieren? Lew empfängt den Historiker in seiner Wohnung, beginnt zu erzählen, etwas, das vielen mit einer Gulag-Vergangenheit auch nach Jahrzehnten schwer fällt.

Doch während der Tage in Moskau bittet Lew den jungen Historiker, ihn nach Petschora zu begleiten, eine Reise zu unternehmen an jenen Ort, der ihm ein grosses Stück seines Lebens nahm, auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Gleichsam überrumpelt wie neugierig geworden treten die beiden die lange Reise in den Norden mit dem Zug an, eine Reise weit weg und ganz nah, eine Reise durch die Gegenwart in die Vergangenheit, eine Reise an einen Ort, von dem Lew gar nie richtig weggekommen ist, eine Reise an einen Ort, an dem viele einen langsamen Tod erleiden mussten und der Physiker Lew nur deshalb überlebte, weil seine Fähigkeiten gefragt waren und Freundschaften hinter den Stacheldrähten ihn am Leben hielten.

„Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Reisebericht eines Historikers in eine eisig kalte Vergangenheit. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Liebesgeschichte zwischen Swetlana und Lew, die allem trotzte. Und „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Geschichte einer zarten Freundschaft zwischen einem jungen suchenden Historiker und einem alten Physiker, der in seinem Leben gefunden hat, wonach andere ewig suchen. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist unsäglich zärtlich geschrieben und von erschütternder Aktualität. Da versucht jemand zu verstehen, was geschieht, im Kleinen und im Grossen.

Das ehemalige Lagergefängnis des Petschor-Lager (Bild: Viktor Funk).

Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman «Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich» erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.

Webseite des Autors

Illustration © leafrei.com

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, der Siegertext von «Wortmeldungen», dem Literaturpreis für kritische Kurztexte

WORTMELDUNGEN-Preisträgerin Marion Poschmann im Gespräch mit der Crespo Foundation zu ihrem Text «Laubwerk»: «Das Ferne nah heranholen, das Abwesende in die Gegenwart bringen, das Unsichtbare sichtbar machen, dem Unsagbaren Ausdruck verleihen!»

Marin Poschmann hat mit ihrem Text «Laubwerk» einen eindringlichen Text darüber geschrieben, wie eine veränderte Wahrnehmung auf die Zeichen der Natur unser Handeln ganz direkt beeinflussen kann. Marion Poschmann zeigt, dass «Engagierte Literatur» direkt in den gesellschaftspolitischen und sozialen Diskurs eingreifen will und kann.

Ihr Text Laubwerk wird mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Mir ist diese Auszeichnung wichtig, weil sie nicht nur einen literarischen Text hervorhebt, sondern auch meinem Anliegen einen besonderen Nachdruck verleiht. Ich bin dankbar, dass mit diesem Preis die Stadtbäume etwas stärker in den Fokus rücken, dass diese Bäume und all das, wofür sie stehen, ein Forum erhalten.

Ihr Schreiben wird häufig dem Nature Writing zugeordnet. Welche Parallelen und welche Unterschiede sehen Sie zwischen Ihrem Schreiben und der angloamerikanischen Tradition des Nature Writings? Was macht zeitgenössisches Nature Writing aus?

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, 2021, 69 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-95732-489-4

Ich selbst verwende für einige Aspekte meines Schreibens eher den Begriff Naturdichtung, aber ich sehe zum Nature Writing durchaus einige Gemeinsamkeiten. Der literarische Naturbezug hat in Deutschland spätestens seit der Romantik eine Tradition, die allerdings nicht so kontinuierlich fortgesetzt wurde wie im angelsächsischen Raum. In Deutschland gab es immer wieder und ganz besonders in der Nachkriegszeit ein politisch motiviertes Misstrauen gegenüber der Natur als einem Sujet der Kunst. Schnell kam der Verdacht auf, sich in eine falsche Idylle zurückzuziehen, wenn man „Petersil und Dill“ besang oder sich ausgerechnet mit Bäumen beschäftigte. Bertolt Brecht hat diese Zeitstimmung in dem berühmten Zitat aus dem Gedicht «An die Nachgebo- renen» zusammengefasst:
«Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!»
In der Ökobewegung der 1980er Jahre kam die Natur zwar wieder als Thema vor, aber mit der zunehmenden Dringlichkeit des Naturschutzes verlor sich auf der Seite der Kunst die ästhetische Qualität. Das Spezifische am Nature Writing ist vielleicht, dass beim Schreiben über Natur der Kunstanspruch nicht vernachlässigt wird, dass ein gewisses Niveau nicht unterschritten wird, weil es zu den Kriterien dieses Schreibansatzes gehört, genaue Beobachtung mit Sorgfalt und Konzentration im Ausdruck zu verbinden. Nature Writing geht mit einer Verfeinerung der Wahrnehmung einher, und diese Sensibilität, sowohl der Welt als auch der Sprache gegenüber, trägt dazu bei, sorgsamer mit dem umzugehen, was wir gewöhnlich unter „Natur“ subsumieren.

„Wenn wir die Natur bewahren und eine ökologische Katastrophe verhindern wollen, ist eine neue Romantisierung der Welt, eine poetische Naturwahrnehmung unumgänglich“, schreiben Sie. Was meinen Sie mit einer solchen Romantisierung konkret und was kann durch sie erreicht werden?

Ich möchte Romantisierung als einen Teilaspekt der Aufklärung verstanden wissen. „Die Welt romantisieren heisst, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt“, schreibt Novalis in seinen Fragmenten. In der Aufklärung war die Devise, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das hat unter anderem den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt befördert, bis zu dem Punkt des Übermasses, an dem wir heute sind. Die Romantik hat den Aspekt der Empfindung hinzugefügt: Das Subjekt kann sich aus seiner Unmündigkeit und Abhängigkeit befreien, indem es einen unendlichen Gefühlsraum betritt. Diese Empfindsamkeit könnte dazu beitragen, sich selbst als einen Teilhaber im Kontinuum der Welt zu akzeptieren, den Punkt, von dem aus alles mit allem zusammenhängt. Das ökologische Ungleichgewicht geht durch den menschlichen Körper hindurch, die Probleme der Natur spiegeln sich in Geist und Psyche, Romantisierung könnte auch ein Schritt sein, dies überhaupt zu bemerken.

Unter dem Schlagwort Anthropozän findet das Thema Natur derzeit wieder stärker Beachtung. Natur ist nicht mehr Idylle und Moment des Schönen, vielmehr Schauplatz von Umweltproblemen, Verkehrspolitik und Klimawandel. Was ist die besondere Qualität von Kunst in Bezug auf den Klimawandel? Was kann sie – insbesondere auch in Abgrenzung zur Wissenschaft – erreichen?

Ein auffälliger Aspekt am Anthropozän ist die Ungreifbarkeit. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und den damit verbundenen Problemen lassen sich schwer kommunizieren, sie sind oft abstrakt, und die konkreten Auswirkungen für den Einzelnen bleiben vage oder schlagen sich anderswo nieder, weit weg. Die Informationen der Wissenschaft erreichen viele Leute kaum, sie treffen, plakativ gesagt, die Menschen nicht ins Herz. Hier läge das Potential von Kunst: das Ferne nah heranzuholen, das Abwesende in die Gegenwart zu bringen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen.

Die Fragen stellten Sandra Poppe und Katja Schaffer (WORTMELDUNGEN-Team der Crespo Foundation).

Das vollständige Gespräch ist im Band «Laubwerk» von Marion Poschmann erschienen als Band 2 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag abgedruckt.

WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35000 Euro dotiert und wird jährlich für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen. Der mit 15000 Euro dotierte Förderpreis soll junge Autor:innen motivieren, sich mit dem Thema des Gewinner:innentextes auseinanderzusetzen und eine eigene literarische Position zu formulieren.

Marion Poschmann (geb. 1969 in Essen) studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, zuletzt 2021 den Bremer Literaturpreis für den Gedichtband «Nimbus». 2019 hielt sie die Zürcher Poetikvorlesungen und 2020 hatte sie die Kieler Liliencron-Poetikdozentur inne. Ihr Roman «Die Kieferninseln» stand 2017 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2019 auf der Shortlist des Man Booker International Prize.

Beitragsbild © Heike Steinweg / Crespo Foundation

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn», Verbrecher Verlag

Grotesk sezierend könnte man die poetische Herangehensweise der Berliner Schriftstellerin Alexandra Riedel nennen. In ihrem Roman über Eltern-Kind-Beziehungen arbeitet sie sich an großen Themen wie Liebe und Grausamkeit ab. Zuletzt gewann die Autorin mit einem Auszug ihres Romans den Bayern 2-Wortspiele-Preis.

von Karsten Redmann

Vom Ende her gedacht, vom Ende her geschrieben

Mit etwas mehr als hundert Seiten ist «Sonne, Mond, Zinn» ein recht schmaler Roman, der in seiner Kunstfertigkeit Grosses versucht, an vielen Stellen auch Grosses schafft, sich hin und wieder aber auch leicht verhebt.

Die in Berlin lebende Autorin Alexandra Riedel scheint sich bei ihrem Debüt im Verbrecher Verlag einiges vorgenommen zu haben, schreibt rhythmisch, fliessend, aber auch karg und hart. Ihre Sprache ist, von kleinen Ausnahmen abgesehen, sehr reduziert, direkt, ja lakonisch – und das im besten Sinne des Wortes:

«Herr Anton Hamann, dein Vater, mein Großvater: gestorben. Und woran? Ich hatte nicht gefragt.»

Die 40-jährige Riedel, Absolventin des Masterstudiums am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig (DLL), engt ihren Ich-Erzähler, dessen Worte der eigenen Mutter gelten – insofern ist der Roman ein Briefroman – in keiner Weise ein, so dass sich sein Berichten zwischen Wirklichkeiten und Möglichkeiten bewegt. Das an die Mutter gerichtete Schreiben ist insofern ein Erzählen in Möglichkeiten, weil der Berichtende über das, was er weiss oder zu kennen glaubt, immer wieder hinausgeht, und damit fiktive Begebenheiten, im eigenen Kopf Phantasiertes, oft auch Surreales, an tatsächlich Geschehenes koppelt. Der Ich-Erzähler schafft sich somit innere und äussere Freiräume, die er gerne und oft nutzt. Diese Art des Erzählens hat etwas Weitendes, Ausgreifendes, die Sehnsüchte des Erzählers Ausweisendes. Und in diesem narrativen Spannungsverhältnis steckt eine der Stärken des Romans.

Hier ein Beispiel:

«Vierzig Minuten schwebt eine Mondsonde über euch. Um vier Uhr morgens verschickt sie schliesslich ihre Aufnahmen per Funk. Auf siebzehn von neunundzwanzig Bildern seid ihr zu sehen. Vater und Tochter auf der Rückseite des Mondes. Kurze Zeit später taucht ihr auf allen Titelseiten der Welt auf.»

In insgesamt dreizehn Kapiteln wird die Geschichte von Esther Zinn durch ihren Sohn erzählt, nicht aus einem Guss, sondern bruchstückhaft. Dabei wirkt dieses Erzählen hin und wieder wie ein Bedienen aus dem Baukasten. Mit sehr unterschiedlichen Versatzstücken.

Zusammengehalten wird der immer wieder ins Groteske gehende Roman durch eine Rahmenhandlung: Gustav Zinn, Fluglotse auf einer Insel, reist zum Begräbnis seines ihm bis dato unbekannten Grossvaters, und berichtet im weiteren Verlauf über die unangenehme Situation, sich fremd unter den eigenen Verwandten zu fühlen, schliesslich lebte der Grossvater bis zu seinem Tod getrennt von Gustavs Mutter, Esther Zinn, und damit auch getrennt von ihm.

Was den literarischen Gestaltungswillen dieses Romandebüts angeht, machen vor allem die ersten Seiten, sowie die Kapitel ab etwa der Mitte des Buches, Eindruck. Inhaltlich und von der Form her wirken sie sehr durchdacht, konzentriert und genau gearbeitet. Man könnte sie auch als schlackenlos bezeichnen. In diesen recht gelungenen Kapiteln findet sich beispielgebend folgender Textausschnitt:

«Dinge passieren. Menschen auch, sagtest du immer, wenn du von deinem Vater sprachst.»

Auf längere Sicht etwas gekünstelt und gestelzt wirken die Passagen die im Konjunktiv verfasst sind. Auch wenn es naheliegt, diese Erzählform zu wählen, nutzt sich ihre Frische und Kunstfertigkeit mit der Zeit leider ab:

«Ich erinnere mich, wie du mir davon erzähltest. Ganz jung hattest du mit einem Mal wieder ausgesehen. Du lächeltest, strahltest wie ein Kind, schliefst irgendwann ganz ruhig ein.»

Alexandra Riedel «Sonne, Mond, Zinn» Verbrecher Verlag, 2020, 112 Seiten. Verbrecher Verlag, CHF 28.90, ISNB 978-3-95732-423-8

Eine grosse Stärke der Autorin, die in Süddeutschland geboren und in Norddeutschland aufgewachsen ist, sind die Dialoge zwischen den Figuren. Diese sind perfekt gearbeitet, glaubwürdig und in ihrer Machart geradezu aussergewöhnlich. Insbesondere, wenn – wie beiläufig – Stimmen von Vorbeigehenden festgehalten werden. Ein derart eindrucksvolles Einfangen von Sprache klingt so:

«Wirklich schönes Wetter. Wirklich gute Idee. Nochmal die Beine vertreten. Nochmal tief durchatmen. Man fange an zu schwitzen, so ganz in Schwarz. Der heisseste Tag des Jahres. In der Kirche bestimmt angenehm kühl. Bachs Toccata werde gespielt. Da vorne sei es schon. Was? Bach ein Klangredner, seine Stücke Gespräche. Wessen Stücke? Bachs. Wie spät? Gleich elf. Unter all den vielen Menschen finde man sie doch niemals. Doch, doch. Da, da.»

Auf den letzten Seiten kippt Riedels Text leicht ins Surreale, Traumhafte, nimmt erneut an Fahrt auf, verändert die Grundspannung. Das ist durchaus herausfordernd. Alles in allem kann man der Autorin damit gegen Ende des Buches nun wirklich nicht vorwerfen, ängstlich vorzugehen, denn sie treibt den Text – auch was das Symbolische angeht – auf den letzten Metern voran, geht ein Risiko ein, irritiert an manchen Stellen, behält die Fäden aber allzeit in der Hand. Das Poetische ihrer Sprache leuchtet auch hier immer mal wieder auf – wobei die hier genannte Textstelle das Kristalline in Riedels Sprache besonders deutlich macht:

«Das Meer an windstillen Tagen so glatt wie ein Betttuch. Der Horizont ein gerader Strich. Ob du schon mal hinter dem Strich da gewesen seist?, fragte ich dich damals.»

Dem Berliner Verbrecher Verlag ist es zu verdanken, dass mit «Sonne, Mond, Zinn» ein höchst eigensinniger Roman das Licht der Öffentlichkeit erblickt hat. In seiner Machart sticht der Titel unter den vielen Büchern des Frühjahrs besonders ins Auge. Und das nicht nur aufgrund seiner Kürze. Gerade wegen des künstlerischen Anspruchs, den die Schriftstellerin Alexandra Riedel formuliert, ist dem Text eine grosse Leserschaft zu wünschen.

© Nane Dieh

Alexandra Riedel, geboren 1980 in Süddeutschland und aufgewachsen in Norddeutschland, studierte Kunstgeschichte und Neuere deutsche Literatur an der HU Berlin. Danach folgte ein Masterstudium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 2014 war sie unter den FinalistInnen beim 22. Open Mike. Veröffentlichungen in: «Object is Meditation and Poetry», Grassi Museum für Angewandte Kunst (2017) und «Tippgemeinschaft» (2016, 2015). Alexandra Riedel lebt in Berlin. Für ihren Debütroman «Sonne Mond Zinn» wurde Riedel mit dem Bayern2-Wortspiele-Preis 2020 ausgezeichnet.

Beitragsbild © Nane Dieh