Marion Poschmann «Die Kieferninseln», Suhrkamp

Gilbert Silvester nimmt seinen Traum ernst, sehr ernst. Ihm träumte, seine Frau Mathilde hätte ihn betrogen. Und weil ihre Vehemenz, die Aufgeregtheit, als er ihr ihre Untreue vorwirft, ihn nur bestärken, packt er seine Sachen, fährt zum Flughafen und besteigt eine Maschine nach Tokjo, möglichst weit weg.

“Als läge die Schuld plötzlich bei ihm. Sie ging zu weit. Das liess er nicht mit sich machen.“

Marion Poschmann schrieb mit viel Lust eine Parabel darüber, wodurch unsere Welt zugrunde geht. In keinem Moment der Menschheitsgeschichte waren wir weniger Herr über die Wahrheit wie in der absolut vernetzt scheinenden Gegenwart. Nie verschoben sich, verfransten Realität und Fiktion so sehr wie jetzt, wo man bei jeder Gelegenheit nachprüfen zu können glaubt. Die verschiedensten Seiten schwören uns auf ihre Wahrheit ein. Wahrheit als vielseitige Projektionsfläche. Und ausgerechnet der Traum, vom dem wir wissen, dass er gelesen werden muss, katapultiert den Wissenschaftler und Dozenten aus seiner Wirklichkeit. In ein Flugzeug, das ihn in ein Land trägt, das sich eigentlich in maximaler Distanz, weit entfernt und kaum lesbar von der seinigen zeigt. Er fühlt sich hintergangen, überzeugt, „aus dem Echten“ ausgesperrt zu sein. Nicht nur von seiner Frau Mathilde, der er sich nie ebenbürtig fühlte, sondern einer ganzen Welt, die ihn wegschiebt. Nicht zuletzt in seinen halbherzigen Studien zur „Wirkung von Bartdarstellungen im Film, Aspekte der Kulturwissenschaft, Gendertheorie und religiösen Ikonographie“. Er, der Experte für Bartfrisuren, ein bis ins Innerste Altbackener, fliegt in ein Land, wo Bärte allerhöchstens Zeichen mangelnder Hygiene sind oder wenn, dann schütter und spärlich bleiben. Er flieht in der Überzeugung, seine Frau sei verrückt geworden, sei sich „der fundamentalen Konstanten zwischenmenschlichen Umgangs“ nicht mehr im Klaren, zwinge ihn, auf grösstmögliche Distanz zu gehen.

Und ausgerechnet er, Gilbert Silvester, gabelt an einem japanischen Hochgeschwindigkeitsbahnhof einen zögerlichen Selbstmörder auf. Einen jungen Studenten, der in seiner Tasche ein Handbuch mit sich trägt, den „Complete Manual of Suicide“ (Den gibt es wirklich!). Den Sprung vor den fahrenden Zug verhindert, nimmt Gilbert den jungen Mann mit auf sein Hotelzimmer. Yosa ist Student, getrieben von seiner Angst des Scheiterns. Beide machen sich auf den Weg, Gilbert auf eine Pilgerreise auf den Spuren des klassischen Dichters Bashõ, Yosa mit seiner ganz anderen Reiselektüre von einem zum nächsten Selbsttötungshotspot. Eine Reise nach Erkenntnis, Erlösung und Erleuchtung. Wie einst japanische Wandermönche. Eine Reise nach ganz ungewöhnlichen Massstäben, an Orte der absoluten Gegensätze, nicht zuletzt europäischer und japanischer Lebensauffassung und Wahrnehmung. An Orte wie jenen Wald am Fusse des Fuji, den Aokigahara-Wald, den Wald der Erhängten. (Auch den gibt es!) Ein Wald, der mit Verbotstafeln warnt, voll mit Zurückgelassenem, Schuhen, Kleidern und Taschen, Hängengelassenem, abgeschnittenen Stricken und Überresten. Gilbert begleitet Yosa, hofft, dass der Schrecken, das Grauen sie beide vertreibt. Ausgerechnet hier geraten sie in eine Sackgasse, sie, die nichts anderes wollen, als das Ende ihrer Sackgassen. Sie verlieren sich im Wald, verirren sich auf dem Rückweg, müssen im Freien, ohne Licht im Wald der Erhängten übernachten. Zwei Verlorene, Verirrte, Vergessene. So wie die Kieferninseln an der Küste von Matsushima ein Ende einer Reise werden, ist das Buch voller Doppelbödigkeiten.

Gilbert Silvester ist vollkommen isoliert. Auch wenn er auf seiner Reise durch Japan seiner Frau eine Reihe Briefe schreibt. Keine Silbe steht da, mit der er auf die Gründe und Ursachen seiner Reise eingeht, kein Wort, das seine Frau anspricht, kein Satz, der über die eigenen Kopfverschlingungen hinausgeht. Briefe eines Immunen. Einer Gattung, von der es in der Gegenwart immer mehr zu geben scheint. Menschen, die nicht wirklich zu leben scheinen, selbst dann nicht, wenn sie mit dem Elementarsten konfrontiert sind.

So skurril die Handlung, so knirschend das Geräusch der kulturtektonischen Kontinentalplatten, die sich reiben und reissen, so poetisch das Buch. Dann, wenn Marion Poschmann ihren Silvester dichten lässt. Dann, wenn sie ihn die japanische Hochkultur suchen lässt. Dann, wenn die begnadete Schriftstellerin beschreibt, Bilder erzeugt, die genau wiedergeben, was Irrsinn zu erzeugen vermag. Grosse Literatur!

Marion Poschmann, 1969 in Essen geboren, studierte Germanistik und Slawistik und lebt heute in Berlin. Für ihre Prosa und Lyrik wurde sie vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Peter-Huchel- Preis und den Ernst-Meister-Preis für Lyrik; ihr Roman Die Sonnenposition stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises und gewann den Wilhelm-Raabe-Literaturpreis 2013.