Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, der Siegertext von «Wortmeldungen», dem Literaturpreis für kritische Kurztexte

WORTMELDUNGEN-Preisträgerin Marion Poschmann im Gespräch mit der Crespo Foundation zu ihrem Text «Laubwerk»: «Das Ferne nah heranholen, das Abwesende in die Gegenwart bringen, das Unsichtbare sichtbar machen, dem Unsagbaren Ausdruck verleihen!»

Marin Poschmann hat mit ihrem Text «Laubwerk» einen eindringlichen Text darüber geschrieben, wie eine veränderte Wahrnehmung auf die Zeichen der Natur unser Handeln ganz direkt beeinflussen kann. Marion Poschmann zeigt, dass «Engagierte Literatur» direkt in den gesellschaftspolitischen und sozialen Diskurs eingreifen will und kann.

Ihr Text Laubwerk wird mit dem WORTMELDUNGEN-Literaturpreis 2021 ausgezeichnet. Was bedeutet Ihnen diese Auszeichnung?

Mir ist diese Auszeichnung wichtig, weil sie nicht nur einen literarischen Text hervorhebt, sondern auch meinem Anliegen einen besonderen Nachdruck verleiht. Ich bin dankbar, dass mit diesem Preis die Stadtbäume etwas stärker in den Fokus rücken, dass diese Bäume und all das, wofür sie stehen, ein Forum erhalten.

Ihr Schreiben wird häufig dem Nature Writing zugeordnet. Welche Parallelen und welche Unterschiede sehen Sie zwischen Ihrem Schreiben und der angloamerikanischen Tradition des Nature Writings? Was macht zeitgenössisches Nature Writing aus?

Marion Poschmann «Laubwerk», Verbrecher Verlag, 2021, 69 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-95732-489-4

Ich selbst verwende für einige Aspekte meines Schreibens eher den Begriff Naturdichtung, aber ich sehe zum Nature Writing durchaus einige Gemeinsamkeiten. Der literarische Naturbezug hat in Deutschland spätestens seit der Romantik eine Tradition, die allerdings nicht so kontinuierlich fortgesetzt wurde wie im angelsächsischen Raum. In Deutschland gab es immer wieder und ganz besonders in der Nachkriegszeit ein politisch motiviertes Misstrauen gegenüber der Natur als einem Sujet der Kunst. Schnell kam der Verdacht auf, sich in eine falsche Idylle zurückzuziehen, wenn man „Petersil und Dill“ besang oder sich ausgerechnet mit Bäumen beschäftigte. Bertolt Brecht hat diese Zeitstimmung in dem berühmten Zitat aus dem Gedicht «An die Nachgebo- renen» zusammengefasst:
«Was sind das für Zeiten, wo / Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist / Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschliesst!»
In der Ökobewegung der 1980er Jahre kam die Natur zwar wieder als Thema vor, aber mit der zunehmenden Dringlichkeit des Naturschutzes verlor sich auf der Seite der Kunst die ästhetische Qualität. Das Spezifische am Nature Writing ist vielleicht, dass beim Schreiben über Natur der Kunstanspruch nicht vernachlässigt wird, dass ein gewisses Niveau nicht unterschritten wird, weil es zu den Kriterien dieses Schreibansatzes gehört, genaue Beobachtung mit Sorgfalt und Konzentration im Ausdruck zu verbinden. Nature Writing geht mit einer Verfeinerung der Wahrnehmung einher, und diese Sensibilität, sowohl der Welt als auch der Sprache gegenüber, trägt dazu bei, sorgsamer mit dem umzugehen, was wir gewöhnlich unter „Natur“ subsumieren.

„Wenn wir die Natur bewahren und eine ökologische Katastrophe verhindern wollen, ist eine neue Romantisierung der Welt, eine poetische Naturwahrnehmung unumgänglich“, schreiben Sie. Was meinen Sie mit einer solchen Romantisierung konkret und was kann durch sie erreicht werden?

Ich möchte Romantisierung als einen Teilaspekt der Aufklärung verstanden wissen. „Die Welt romantisieren heisst, sie als Kontinuum wahrzunehmen, in dem alles mit allem zusammenhängt“, schreibt Novalis in seinen Fragmenten. In der Aufklärung war die Devise, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Das hat unter anderem den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt befördert, bis zu dem Punkt des Übermasses, an dem wir heute sind. Die Romantik hat den Aspekt der Empfindung hinzugefügt: Das Subjekt kann sich aus seiner Unmündigkeit und Abhängigkeit befreien, indem es einen unendlichen Gefühlsraum betritt. Diese Empfindsamkeit könnte dazu beitragen, sich selbst als einen Teilhaber im Kontinuum der Welt zu akzeptieren, den Punkt, von dem aus alles mit allem zusammenhängt. Das ökologische Ungleichgewicht geht durch den menschlichen Körper hindurch, die Probleme der Natur spiegeln sich in Geist und Psyche, Romantisierung könnte auch ein Schritt sein, dies überhaupt zu bemerken.

Unter dem Schlagwort Anthropozän findet das Thema Natur derzeit wieder stärker Beachtung. Natur ist nicht mehr Idylle und Moment des Schönen, vielmehr Schauplatz von Umweltproblemen, Verkehrspolitik und Klimawandel. Was ist die besondere Qualität von Kunst in Bezug auf den Klimawandel? Was kann sie – insbesondere auch in Abgrenzung zur Wissenschaft – erreichen?

Ein auffälliger Aspekt am Anthropozän ist die Ungreifbarkeit. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel und den damit verbundenen Problemen lassen sich schwer kommunizieren, sie sind oft abstrakt, und die konkreten Auswirkungen für den Einzelnen bleiben vage oder schlagen sich anderswo nieder, weit weg. Die Informationen der Wissenschaft erreichen viele Leute kaum, sie treffen, plakativ gesagt, die Menschen nicht ins Herz. Hier läge das Potential von Kunst: das Ferne nah heranzuholen, das Abwesende in die Gegenwart zu bringen, das Unsichtbare sichtbar zu machen, dem Unsagbaren Ausdruck zu verleihen.

Die Fragen stellten Sandra Poppe und Katja Schaffer (WORTMELDUNGEN-Team der Crespo Foundation).

Das vollständige Gespräch ist im Band «Laubwerk» von Marion Poschmann erschienen als Band 2 der WORTMELDUNGEN-Reihe im Verbrecher Verlag abgedruckt.

WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35000 Euro dotiert und wird jährlich für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die in der Auseinandersetzung mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen den Nerv der Zeit treffen. Der mit 15000 Euro dotierte Förderpreis soll junge Autor:innen motivieren, sich mit dem Thema des Gewinner:innentextes auseinanderzusetzen und eine eigene literarische Position zu formulieren.

Marion Poschmann (geb. 1969 in Essen) studierte Germanistik, Philosophie und Slawistik und lebt in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen für Lyrik und Prosa, zuletzt 2021 den Bremer Literaturpreis für den Gedichtband «Nimbus». 2019 hielt sie die Zürcher Poetikvorlesungen und 2020 hatte sie die Kieler Liliencron-Poetikdozentur inne. Ihr Roman «Die Kieferninseln» stand 2017 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis und 2019 auf der Shortlist des Man Booker International Prize.

Beitragsbild © Heike Steinweg / Crespo Foundation