Roland Schimmelpfennig «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», S. Fischer

Es ist eiskalt und von Osten kommend streift ein einsamer Wolf durch das verschneite Berlin. Was beinahe wie eine postapokalyptische Kulisse erscheint, ist in Roland Schimmelpfennigs erstem Roman die Spur durch seine Geschichten, vorbei an Einsamen in einer kalten Stadt, Verlorenen, die genauso wie der Wolf orientierungs- und ziellos durch die Stadt mäandern.
Tomasz, ein junger Pole, der in Baugruppen Häuser aushöhlt, zerfressen von Panikattacken und einer wilden Angst vor Einsamkeit. Seine Freundin Agnieszka, die täglich zwölf Stunden in fremden Häusern putzt und an den Wochenenden in Parties abtaucht. Ein greises Ehepaar, das sich weigert aus einem der Abbruchhäuser zu ziehen und ohne richtige Heizung, Strom und fliessendes Wasser mitten in der Stadt vom Puls abgeschnitten ist. Elisabeth, ein Mädchen, das geschlagen mit ihrem Freund Micha abhaut, beide mit nichts ausser ihrer schwarzen Kluft, die sie beinahe unsichtbar macht. CharlyIMG_0048 und Jacky, die am Prenzlauer Berg aus einer ehemaligen Bäckerei einen Spätkauf machten. Jacky sieht in Charlys Augen diesen sonderbaren Blick, seit der Wolf seine Spuren im Schnee und in den Schlagzeilen lässt, dutzendfach getroffen, mit Blicken und Objektiven. Die Mutter des Mädchens, verzweifelt und unentschlossen, einmal eine gefeierte Künstlerin, jetzt bloss noch ein Schatten ihrer selbst. Ein alter Jäger, ein betrunkener Vater und die Volontärin bei der Zeitung, die von nichts weiss und über den Wolf schreiben soll… ein ganzer Reigen Alleine-Gelassener.

Roland Schimmelpfennig macht in seinem ersten Roman, nach unzähligen Theaterstücken, die frostige Hauptstadt zur grossen Bühne. So einsam der Wolf, doch eigentlich ein Rudeltier, verloren die Nähe der Menschen sucht, schwärmt das Personal in seinem Roman auseinander. Der Autor beschreibt in seinem Roman Wirkungen und erzeugt suggestive Bilder. Roland Schimmelpfennig erklärt nicht, nimmt eine Spur auf und lässt sie wieder los.
Ein grossartiger Roman, eine ganz eigene Art des Erzählens. Und man darf den Titel, der auch der Beginn des erstens Satzes seines Romans ist, durchaus als Metapher verstehen. Der Wolf, ein Angsttier, schleicht durch die Stadt.

schimmelpfennigRoland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.

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