Roland Schimmelpfennig «Die Linie zwischen Tag und Nacht», S. Fischer

Roland Schimmelpfennig inszeniert perfekt. Ich vergesse mich, wenn ich seine Romane lese. Er reisst den Schorf weg, bis es blutet. Sein neuer Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist ein Höllentripp im Berlin der Gegenwart.

Sie stehen morgens auf, gehen zur Arbeit, kommen abends zurück, trinken nach dem Essen noch ein Glas Wein und gehen nach dem Krimi ins Bett? Sie wohnen in einer Stadt, bummeln am Samstag durch die Gassen und lesen auf den Litfasssäulen, was so läuft (oder eben nicht)? Sie haben ein schlechtes Gewissen oder zumindest ein ungutes Gefühl, wenn sie zu viel getrunken haben und erst in den Morgenstunden ins Bett schlüpfen?

In „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ erzählt Roland Schimmelpfennig von mehreren Linien; von der Grenze zwischen vorder- und rückseitigem Leben, von der weissen Linie auf dem Spiegel, die man durch die Nase hineinzieht, von der Spur, die einmal leuchtet und im Dunkel verschwindet.

Ich lebte in meiner Vergangenheit einmal kurze Zeit in Berlin. Etwas länger, als dass man mich bloss als Tourist hätte bezeichnen können, immerhin hatte ich dort meine Arbeit, aber zu wenig lange, dass ich einer von dort gewesen wäre. Mein Leben streifte das Leben dort nur. Ich habe die weisse Linie zwischen Tag und Nacht nie überschritten, schon allein aus lauter Rechtschaffenheit, biederer Normalität.

Roland Schimmelpfennig «Die Linie zwischen Tag und Nacht», S. Fischer, 2021, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397410-2

Tommy war einst ein gefeierter und von höchster Stelle gepushter Drogenfahnder. Man feierte ihn und seine Erfolge, obwohl man ahnte, dass nicht jede Ermittlung sauber war. Tommy, Sohn eines Tischlers, lebte mit seiner Partnerin in der zur Wohnung umfunktionierten Tischlerei, die er von seinem Vater geerbt hatte. Alles lief, mit reichlich Alkohol, einer Pille hier und einer Linie dort. Bis zu jenem Tag, als er hinter dem Steuer einen Jungen zu Tode fuhr, einen Unschuldigen, Unbeteiligten. Bis offensichtlich wurde, dass Tommy zu Ermittlungszwecken die weisse Linie zwischen Tag und Nacht längst überschritten hatte. Man suspendiert ihn. Tommy sackt ab. Seine Lebenspartnerin kann nicht mehr. Man wendet sich von ihm ab, zumindest jene, die einstmals applaudierten. Was blieb, sind die Verbindungen zur Unterwelt und ein kleiner Streifen Papier von einem Glückskeks an der Tür zu seiner Werkstatt. Vinh, ein Mädchen aus der Vergangenheit, mittlerweile Studentin weit weg, hatte ihm den Glückskeks gekauft: „Unforgettable moments will enlighten your journey.“ Ein Versprechen? Oder mehr?

Nach einer durchzechten Nacht zieht Tommy eine junge Frau aus der Spree. Sie schwimmt auf dem Rücken in einem weissen Brautkleid, mit Blumen geschmückt – und sie ist tot. Während er ins Wasser springt, geht das Feiern weiter. Tommy genügt es nicht, die junge Frau dem Krankenwagen zu übergeben. Er will wissen, warum sie im Wasser auf ihn zuschwebte, will der Namenlosen einen Namen geben, will das Rätsel dieses seltsamen Todes knacken. Tommy taucht in die Welt hinter der Sonne, hinter der weissen Linie, in menschenverlassenes Gewerbegebiet, Brachen und grosser, leerer Parkplätze einstiger Industriekolosse, dorthin wo das Leben im Rausch pulst, wo die Nacht lauter als der Tag ist und der Rechtsstaat das Heft schon lange aus der Hand gegeben hat. Tommy taucht ab, weil er getrieben ist vom einzigen, dass er wirklich kann, von den Bildern, die ihn nicht loslassen, vom Rausch, der ihn aufrecht gehen lässt.

„Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist kein Krimi und schon gar kein Thriller. Roland Schimmelpfennigs dritter Roman ist ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Ein Tripp in eine Welt, in der alles Rausch sein soll und muss, in dem der Rave den Puls taktet und der Stoff zum Elixier wird. „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist aber auch die Geschichte von jungen Menschen, die chancenlos verloren sind, denen nie jemand eine Hand reicht, die jene Linie in Pulver- oder Pillenform zur Lebenslinie wird. Man liest den Roman mit angehaltenem Atem! 

Roland Schimmelpfennig, 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit grossem Erfolg gespielt. 2016 erschien sein erster Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand, und 2017 sein zweiter Roman «Die Sprache des Regens». Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin und Havanna.

Rezension von «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Adriana Jacome

Petra Ahne & Judith Schalansky «Wölfe», Matthes & Seitz

Wieder hat sich der Wolf in meine Bibliothek geschlichen. Vor ein paar Monaten war es der Wolf von Roland Schimmelpfennig in seinem Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts». Nun «Wölfe», ein spannendes Porträt einer falsch verstandenenen Kreatur.

So wie einst der Wolf vom Menschen als Feind, Bösewicht und Untier, als Verbündeter des Teufels und Nachtgestalt des Hexers vertrieben, getötet und ausgerottet wurde, findet er zurück in die Nachbarschaft des Menschen. Gab es schon um 1500 auf den Britischen Inseln keinen einzigen Wolf mehr und im restlichen Europa im Lauf des 19. Jahrhunderts fast keine mehr, traut sich das scheue Tier zurück, nach Deutschland, Österreich, bis in die dicht besiedelte Schweiz. Ein Tier, das bis zum Ende des 19. Jahrhunderts systematisch selbst von der Wissenschaft «verraten» wurde. 1875 schrieb der Naturforscher Friedrich von Tschudi: «Selbst unter den Raubthieren ist er eins der widerwärtigsten. Mit dem reissendsten img_0098wetteifert er an Heisshunger, der selbst dem schlechtesten Hasen gierig nachstellt, an Tücke, Perfidie, während er dabei keine Spur vom Edelmuth des Löwen, von der frischen Tapferkeit des Eisbärs, vom Humor des Landbärs, von der Anhänglichkeit des Hundes hat.» Aber so sehr man den Wolf damals mit den Charakterzügen des Menschen beschreibt, so sehr ist der Wolf auch heute Sinnbild einer menschlichen Sehnsucht. Einst die Angst verkörpernd, die Angst vor der Unberechenbarkeit der Natur, ist der Wolf heute «personifizierte» Sehnsucht nach unmittelbarer Nähe zur Natur. Der Wolf als Medium.

Petra Ahne zeichnet ein feines Portrait eines Tieres, das in vielem dem Menschen näher scheint als die Primaten. Umfangreich bebildert und im letzten Teil des Buches mit Portraits aller Wolfarten ergänzt, ist dieses Büchlein vieles, Reportage und Mahnmal zugleich.

Petra Ahne, geboren 1971 in München, studierte Komparatistik, Kunstgeschichte und Publizistik in Berlin und London. Sie ist Redakteurin der Seite 3 bei der Berliner Zeitung.

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Unbedingt lesen: «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» von Roland Schimmelpfennig, S. Fischer!

Roland Schimmelpfennig «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», S. Fischer

Es ist eiskalt und von Osten kommend streift ein einsamer Wolf durch das verschneite Berlin. Was beinahe wie eine postapokalyptische Kulisse erscheint, ist in Roland Schimmelpfennigs erstem Roman die Spur durch seine Geschichten, vorbei an Einsamen in einer kalten Stadt, Verlorenen, die genauso wie der Wolf orientierungs- und ziellos durch die Stadt mäandern.
Tomasz, ein junger Pole, der in Baugruppen Häuser aushöhlt, zerfressen von Panikattacken und einer wilden Angst vor Einsamkeit. Seine Freundin Agnieszka, die täglich zwölf Stunden in fremden Häusern putzt und an den Wochenenden in Parties abtaucht. Ein greises Ehepaar, das sich weigert aus einem der Abbruchhäuser zu ziehen und ohne richtige Heizung, Strom und fliessendes Wasser mitten in der Stadt vom Puls abgeschnitten ist. Elisabeth, ein Mädchen, das geschlagen mit ihrem Freund Micha abhaut, beide mit nichts ausser ihrer schwarzen Kluft, die sie beinahe unsichtbar macht. CharlyIMG_0048 und Jacky, die am Prenzlauer Berg aus einer ehemaligen Bäckerei einen Spätkauf machten. Jacky sieht in Charlys Augen diesen sonderbaren Blick, seit der Wolf seine Spuren im Schnee und in den Schlagzeilen lässt, dutzendfach getroffen, mit Blicken und Objektiven. Die Mutter des Mädchens, verzweifelt und unentschlossen, einmal eine gefeierte Künstlerin, jetzt bloss noch ein Schatten ihrer selbst. Ein alter Jäger, ein betrunkener Vater und die Volontärin bei der Zeitung, die von nichts weiss und über den Wolf schreiben soll… ein ganzer Reigen Alleine-Gelassener.

Roland Schimmelpfennig macht in seinem ersten Roman, nach unzähligen Theaterstücken, die frostige Hauptstadt zur grossen Bühne. So einsam der Wolf, doch eigentlich ein Rudeltier, verloren die Nähe der Menschen sucht, schwärmt das Personal in seinem Roman auseinander. Der Autor beschreibt in seinem Roman Wirkungen und erzeugt suggestive Bilder. Roland Schimmelpfennig erklärt nicht, nimmt eine Spur auf und lässt sie wieder los.
Ein grossartiger Roman, eine ganz eigene Art des Erzählens. Und man darf den Titel, der auch der Beginn des erstens Satzes seines Romans ist, durchaus als Metapher verstehen. Der Wolf, ein Angsttier, schleicht durch die Stadt.

schimmelpfennigRoland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist der meistgespielte Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt.