Peter Stamm «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer

Manche Begegnungen sind schicksalshaft. Selbst wenn daraus kein andauerndes Beieinander wird, wenn gemeinsame Zeit längst zerronnen ist. Aber es bleibt das Bild, der Eindruck, unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben.

Man stelle sich vor: Irgendwann begegnet man irgendwo einem Menschen, der sich in kaum etwas von dem unterscheidet, was man einst selbst war. Man erkennt sich in jemandem, fühlt sich von der Zeit, der Vergangenheit eingeholt. Man stelle sich vor, man komme mit diesem überraschenden Gegenüber ins Gespräch, Leben würden sich kreuzen, Gegenwart mit Vergangenheit, um festzustellen, dass sich die eigene Geschichte zu löschen beginnt, während man sich immer tiefer in die Geschichte des Gegenübers verstrickt.

Peter Stamms neuer Roman, nimmt etwas von dem wieder auf, was sein erster Roman „Agnes“ zu erzählen begonnen hatte. In „Agnes“ fordert eine junge Frau ihren Geliebten, einen Schriftsteller auf, ihre Geschichte, ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben, die Geschichte ihrer Liebe. Mehr noch; Geschichte im Erzählen vorwegzunehmen. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ fügt Peter Stamm jenem Drängen aus seinem ersten Roman noch weitere Schichten hinzu.
Christoph lernt die viel jüngere Magdalena kennen, muss ihr ihre Geschichte erzählen, die vor vielen Jahren damit begann, dass er eine Frau kennenlernte, die ihr in fast allem gleiche, die er aber aus den Augen verloren habe. Magdalena wundert sich über einen älteren Mann, der ihr eine Geschichte erzählen will, die sich immer deutlicher mit der gegenwärtigen Geschichte mit ihrem Freund zu decken scheint. Christoph hatte damals, als er Magdalena verlor und mit ihr eine gemeinsame Zukunft, endlich den Stoff für seinen Roman gefunden. Den einzigen, den er je geschrieben hatte und der mit zunehmender Zeit immer mehr zur Ahnung werden sollte. So wie ihm Magdalena entglitt, tat es auch das Schreiben, selbst als er sich mit allem Elan auf die Suche nach Inspiration machte, für Jahre weg aus seinem gewohnten Umfeld zog, sich unsichtbar machte. Um im anderen Leben festzustellen, dass man nicht vorkommt, nicht einmal mehr seine eigenen Spuren, erst recht nicht das Buch, das man einst geschrieben und verkauft hatte, sichtbar bleiben.

In Peter Stamms neuem Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Peter Stamm verrät, wie sehr er sich Sicherheit für sein Schreiben wünscht. Man fragt sich zwar; Glaube ich, was ich lese? Nie aber; Weiss ich, was ich lese? Ein Roman, der das Zeug zur Verunsicherung hat. Ein Roman, der Fragen stellt, die ich für mich schon lange beantwortet zu haben glaubte. Ein Roman, der konzentriert erzählt, nie abschweift, beinahe sachlich erzählt. Peter Stamm kocht nicht Altes auf. Dafür spritzt er mit heissem Wasser!

Foto: Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Nacht ist der Tag» und «Weit über das Land» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen.

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