«Da hinauf!» Marianne Künzle ist oben!

Marianne Künzle las im Literaturhaus Thurgau aus ihrem neuen Roman «Da hinauf», einem feinen, atmosphärisch starken Stück Literatur.

Ich lernte Marianne Künzle vor einigen Jahren bei meinen regelmässigen Besuchen am Literaturfestival in Leukerbad in den Walliser Alpen kennen. Man trifft dort immer wieder die gleichen Gesichter, beginnt ein Gespräch, und weil man sich im kommenden Sommer wieder trifft, legt sich jedes Jahr wie ein weiterer Ring um etwas, was zu einer Freundschaft wird. Damals hatte Marianne Künzle noch kein Buch und ich noch keine einige Rezension für meine Literaturwebseite geschrieben. Greenhorns.

Marianne Künzle war Buchhändlerin, Koordinatorin bei Greenpeace, engagierte sich im ökologischen Landbau und in der Flüchtlingshilfe und lebt seit ein paar Jahren als geborene Bernerin im Wallis, in einem Haus, das mit jedem Kubikzentimeter ihrer Weltanschauung entspricht. Nach einem ersten Roman über den Kräuterpfarrer Künzle, der trotz gleichem Familiennamen nicht mit ihr verwandt ist, liegt nun ihr zweiter Roman vor. Die Geschichte zweier Frauen aus zwei verschiedenen Leben, zwei verschiedenen Zeiten, deren Spuren sich am Fusse eines Gletschers kreuzen.

Wer den Klappentext des Romas liest, die Ankündigungen des Verlags, denkt unweigerlich an die Dramatik eines Moments, wenn man vor den Überresten einer Gletscherleiche steht, wenn einem Bilder von Ötzi oder ähnlichen Sensationsgeschichten in den Sinn kommen. Marianne Künzles Roman lebt aber nicht von dieser Dramatik, auch wenn es in den letzten Seiten ihres Romans noch dramatisch wird. Es ist die stille Dramatik zweier Frauenwelten, eine aus der Gegenwart, eine aus den 50ern, wörtlich eingebettet ins Eis eines Gletschers. Es sind drei ProtagonistInnen; zwei Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und die Natur, der Gletscher, die kargen Hänge, der Fels, das Wasser, der Wind.

Marianne Künzle ist mit den Geschichten, die die beiden Frauen mit sich tragen tragen, sparsam. Ihr Roman ist derart verdichtet, eingekocht, dass es mich als Leser erstaunt, wie viel Form die beiden Frauen erhalten. Marianne Künzle geht es nicht um die Sensation einer spektakulären Begegnung, sondern um die fluide Atmosphäre in einer Kulisse, die mir bewusst macht, dass ich bloss Besucher bin, dass Natur atmet, ein grosses Ganzes ist, ein Ganzes, das ächzt unter der Last ihrer Bewohner.
«Mich treibt seit langem die Frage um, was unserem (westlichen, kapitalistisch geprägten) Menschsein eigentlich fehlt und uns davon abhält, wirklich zu handeln. Wir befinden uns mitten im Klimawandel und wir tun – praktisch nichts. Menschheitsgeschichtlich gesehen stehen grösste Umwälzungen an, wenn wir wollen, dass kommende Generationen eine würdige Zukunft haben. Ich vermute, die fatale Lethargie, die uns beherrscht, hat mit unserer Haltung unserer inneren und äusseren Natur gegenüber zu tun. Ich wage die These aufzustellen: wer keinen Zugang zu seinem Selbst hat, kann auch schwerlich eine Verbindung zur Natur und zur nicht-menschlichen Welt aufbauen und bleibt paralysiert, noch schlimmer, sieht sich nicht in der Verantwortung. Diese konträren Charakterzüge zu ergründen, auch besser zu verstehen, hat mich interessiert. Daraus sind Irma und Annina sind entstanden.» 

Ganz dezent beschäftigst sich Marianne Künzle in ihrem Roman auch mit dem Frauenbild aus zwei verschiedenen Zeiten. Es geht um Emanzipation, Unabhängigkeit und Rollenhaftung. Und trotzdem sind all diese Themen nur ganz sanft angesprochen. Ebenso dezent geht es um den Gletscher selbst, Fragen der Klimaveränderungen, um unser ökologisches Bewusstsein.
«Zu plakative Geschichten, zu klischeehafte Charakteren sprechen mich weniger an. Mich interessiert das Dazwischen. Die Realität ist nie schwarz-weiss. Gelesenes klingt zumindest bei mir länger nach, wenn es mich anregt zum Nachdenken, wenn Raum für eigene Gedanken und für das Abrufen von persönlich Erlebtem Platz hat. Vermutlich ist es das, was sich auch im Schreiben niederschlägt?»

Marianne Künzles Lesung, unterstützt durch eine Tonspur, die mich wie Filmmusik tief ins Geschehen eintauchen liess, war ein Fest für die Sinne!

«Welch wunderbare Tage im Literaturhaus in Gottlieben! Eintauchen ins Buchstabenmeer und Gedankengänge an den Gestaden des Bodensees, sich besingen lassen von Kuckuck, Nachtigall, Pirol. Zum krönenden Abschluss Lesen vor tollem Publikum im Dachstock mit knarrenden Böden, Donnergrollen inklusive:-)» Marianne Künzle

Rezension «Da hinauf» auf literaturblatt.ch

Sasha Filipenko «Die Jagd», Diogenes

Lesung am 19. Mai
im Literaturhaus Thurgau

Russland ist nur ein Beispiel dafür, wozu ein von Propaganda durchsetztes Land fähig ist, was Mächtige alles tun und lassen können, ohne jemals dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden. Sasha Filipenkos Roman „Die Jagd“ liest sich wie eine düstere Dystopie, an der man aber aushalten muss, dass sie längst bittere Realität ist. Warlords führen Kriege, ohne sich an Grenzen zu halten, seien es Landesgrenzen oder irgend welche altbackene Grenzen der Menschlichkeit.

Ein Journalist krallt sich an einer Geschichte fest, die offenbaren soll, wie einer der Allmächtigen im Land die Öffentlichkeit als Patriot an der Nase herumführt, wie er sich nach Lust und Laune durch krumme Geschäfte bereichert und nichts und niemand, schon gar nicht Väterchen Staat, ihn davon abzuhalten versucht. Eigentlich doch die hehre Aufgabe eines jeden Journalisten, der sich der Wahrheit, an seinen Kodex hält. Anton Quint versucht es wenigstens. Versucht es nicht nur als Journalist, auch als Schriftsteller.
Auch weil er Vater geworden ist und nicht zuletzt seiner kleinen Tochter gegenüber die Verpflichtung spürt, den Rausch, für etwas und jemanden da zu sein.

Oligarchen wie Wolodjan Slawin interessieren sich weder für die Wahrheit, noch für das Wohl eines Volkes, auch Menschlichkeit ist höchstens aufgesetztes Instrument. Die Welt ist eine Schlangengrube, in der man sich behaupten muss. Eine Arena, in der der Stärkere gewinnt. Und wenn die Kräfte nicht zu seinen Gunsten verteilt sind, dann soll der Bär an Beinen und Armen gefesselt werden, damit sich die Hunde in ihn verbeissen können. So setzt Slawin ein ganzes Team auf den Journalisten Anton Quint an. Eine unbarmherzige Jagd beginnt mit dem einzigen Ziel, den unbequemen und aufsässigen Journalisten dazu zu bringen, das Land zu verlassen und sich damit vor seinem eigenen Publikum zu diskreditieren.

Sasha Filipenko «Die Jagd», Diogenes, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer, 2022, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07158-0

Der Oligarch hetzt Lew und seinen alten Freund Kalo auf den Journalisten. Lew hat Schulden, Kalo hat sich längst den schmutzigen Geschäften seines Chefs verschrieben. Lew kam aus ärmlichen Verhältnissen und wurde Reporter einer bedeutenden Redaktion, bis man ihn sogar zum Chefredaktor erklärte. Ein Amt, Geld, Einfluss, das alles stieg Lew in den Kopf, erst recht, als er die Tochter des Besitzers eben jener Zeitung ehelicht und in seinem Rausch den Boden unter den Füssen gänzlich verliert. Gescheiterte Existenzen, die zurück an die Oberfläche wollen, die genau wissen, dass sie ohne undurchsichtige Hilfe nie mehr zurück an die Sonne kommen, muss alles recht sein, auch wenn zuweilen der Zweifel nagt, ob man mit seinem Tun den Bogen nicht überspannt.

Anton Quint leidet. Ich lese, wie man sich in seine Nachbarwohnung einmietet und ihm und seiner  Familie mit permanentem Lärm den Schlaf raubt, wie man ihn bedrängt und diffamiert, Falschmeldungen in Umlauf bringt, wie man ihn in TV-Talkshows zum Pädophilen erklärt, wie man in seine Wohnung eindringt und nicht nur seinen Computer knackt, wie man einen Mann mit seiner ganzen Familie zu brechen weiss. Ich lese je länger je mehr erschüttert und angeekelt. Nicht so sehr darüber, wie offen Sasha Filipenko das Grauen schildert, sondern wie leicht man den Inhalt als Pageturner aburteilen, wie leicht man Sasha Filipenko vorwerfen kann, sich bekannter Stereotypen zu bedienen, um den Horror der Gegenwart zwischen zwei sich gut verkaufende Buchdeckel zu bringen.

Klar liest man den Roman mit dem Wissen um russische Regimekritiker wie Alexej Nawalnyi oder Juri Dmitrijewdem. Klar passt der Roman vor die Kulisse eines Krieges, der allem, was russisch ist, den Krieg erklärt. Klar suggeriert der Roman Lesenden, sie hätten nach der Lektüre eine Ahnung von dem, was fern von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in Russland oder vergleichbaren Staaten abgeht. Aber ich glaube nicht, dass es Sasha Filipenkos› Absicht war, Klischees zu zementieren. „Die Jagd“ ist schonungslos und unversöhnlich, clever und klug komponiert, frei von jeder Illusion, auch von der, dass Geschichten doch irgendwie gut ausgehen müssen.

Man kann „Die Jagd“ wie einen düsteren Thriller lesen, dann verursacht er ein Schaudern. Aber Sasha Filipenkos Roman ist viel mehr. Ein Buch, das den letzten Schleier niederreisst, das mir in die Magengrube schlägt. Sasha Filipenko kann nicht zurück in sein Heimatland, das im Würgegriff seines grossen Bruderstaates ist. Kann nicht zurück, weil er mit Gewalt rechnen muss gegen sich und seine Familie. Ist es da verwunderlich, dass man zur einzigen Waffe greift, die einem zur Verfügung steht? Der Literatur?

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er hat Russland verlassen und hält sich derzeit an wechselnden Wohnorten in Westeuropa auf.

Ruth Altenhofer, geboren 1979, studierte Slawistik in Wien sowie in Rostow am Don und Odessa. wurde 2012 und 2015 für Übersetzungen von Marina Zwetajewa/Boris Pasternak und von Wjatscheslaw Pjezuch mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

Rezension von «Rote Kreuze» auf literturblatt.ch

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«Ohne Kaputtgehen kein Ganzwerden» Die Lyrikerin Isabella Krainer trifft die Illustratorin Lea Le

«Witzig und bissig, kurz und prägnant. Gleichsam verspielt und bodenständig, taktvoll und frech. Und ungeheuer lautverliebt und deutungsreich.» Das ist die Lyrik von Isabella Krainer. Zusammen mit der jungen Illustratorin Lea Le performten die beiden aus den Tiefen des menschlichen Seins.

Isabella Krainer lebt und wirkt seit Jahrzehnten in der Steiermark. Ihre Lyrik, erzählt sie, wurde nicht Lyrik, weil sie beabsichtigte, solche zu schreiben, sondern weil Menschen, die ihre Texte lasen, irgendwann meinten: «Isabella, du schreibst Lyrik.» Und genau das spürt man den Texten der Dichterin an. Ihre Lyrik ist ihre Auseinandersetzung mit sich selbst, ihrer Geschichte, ihrer Umgebung, der Welt. Ihre Lyrik ist der Versuch einer Antwort, einer Entgegnung, einer Erklärung. Aber sehr oft auch ein Gegenentwurf, ein Dagegenhalten.

akademische erkenntnis // noch mehr / dosenravioli / aber der blick / auf die welt / ist ein / anderer

Isabella Krainers Lyrik entspringt nicht so sehr den Kopf; ihre ganze Person, all die Erfahrungen, die sie im engen Austausch mit den Menschen ihrer Umgebung macht, wirken durch die Texte hindurch. Und so sehr die Texte körperlich werden, so sehr entspringen sie der Weisheit und Klugheit einer Frau, die mit ihrem Blick in die Tiefen des Menschseins nicht dort aufhört, wo die vermeintliche Rücksicht beginnt.

Die Tatsache, dass Lyrik den Geist und das Sehen öffnet, legt auch nahe, diese Textform und ihre Darbietung mit anderen künstlerischen Ausdrucksformen zusammenzubringen. Dabei war die Kombination, das Zusammenspiel von Lyrik und Illustration gleichermassen Wagnis und Experiment.

hochzeitstag // sie hat / die Blumen / eingefrischt / Schwermut / gabs geschüttelt …


Lea Le, eben erst mit seinem Förderbeitrag des Kantons Thurgau ausgezeichnet und schon länger zeichnende Kraft im und ums Literaturhaus Thurgau, arbeitet seit zwei Jahren als selbstständige Illustratorin in ihrem Atelier in St. Gallen. Angeregt durch die kraftvollen Texte Isabella Krainers entstand die Idee, die beiden Künstlerinnen auf der Bühne zusammentreffen zu lassen.

mindestsicherheit neu // mord / ab sofort / nur noch / im alleingang / beihilfe / gekürzt

«Es war Liebe auf den ersten Blick», erzählte Isabella Krainer während eines Gesprächs, «wir trafen uns eigentlich nur einmal via Zoom zu einem gegenseitigen Beschnuppern und wussten schon nach den ersten Augenblicken, dass dieses Experiment mehr als einmalig werden würde.»

Was die BesucherInnen an diesem Abend im Literaturhaus Thurgau geboten bekamen, war eine ganz besondere Art der Performance. Als würde man durch ein überdimensionales Bilder- und Textbuch des Lebens blättern, «von der Wiege bis zur Bahre». Man wurde Zeuge einer Verinnerlichung.

«mein lyrikband hat ecken, kanten und blaue flecken. kurz, er ist vom leben gezeichnet. obwohl bereits 2020 veröffentlicht, liest sich „vom kaputtgehen“ wie pandemie. dass sich das eine oder andere gedicht dennoch herausnimmt, den ernst des lebens auszulachen, hat mit trotz zu tun. viel mehr aber, mit der unbändigen freude daran, abenteuer zu erleben.
und genau das war die zusammenarbeit mit lea le, deren illustrationen am 26. april 2022, im kult-bau in st. gallen zum ersten mal meine sprache sprechen durften. lyrik & illustration, eine performance, deren experimenteller charakter in keinem passenderen rahmen zur geltung gekommen wäre.
dass unsere performance am 28. april 2022 im literaturhaus thurgau noch einmal, gestärkt durch positive rückmeldungen und die abenteuerlust des publikums wirken konnte, war fast schon kitschig. denn plötzlich war sie da, die magie. ließ gedichte aufatmen und zeichnete sie mit leben aus.
und auch die tage, die ich in der gästewohnung des literaturhauses verbringen durfte, hatten einen zauber inne. hätte lea auch diese illustriert, wäre selbst die bleistiftzeichnung bunt geworden.
gallus, herzlichen dank! deine liebe zur literatur macht aus bühnen sehnsuchtsorte.» Isabella Krainer

«Was für ein Abenteuer das war. Der Stressschweiss hat sich sowas von gelohnt!» Lea Le

Zur Information: Am 8. Juli wird diese Reihe der experimentellen Performance weitergehen: Die Schriftstellerin und Dichterin Simone Lappert wird für einen Tag mit dem Musiker Andi Bissig im Literaturhaus arbeiten. Beide werden sich an diesem Tag zum ersten Mal schöpferisch miteinander «auseinandersetzen». Am Abend dannpräsentieren die beiden, was auch den Tag entstanden ist.

Webseite Isabella Krainer

Webseite Lea Le

Beitragsfotos © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau
Zeichnungen © Lea Frei

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche

Zwei Frauen auf dem Gletscher. Die eine damals, als sich der weisse Koloss noch wuchtig ins Tal ergoss. Die andere heute, wo sich der Mächtige mehr und und mehr zurückzieht, sich in Wasser verwandelt, zu einem kümmerlichen Rest zu werden droht. Und weil die eine durch einen Fehltritt im Eis liegen und für Jahrzehnte eingeschlossen bleibt, kreuzen sich die Weg der beiden Frauen in Spalten an der Gletscherzunge.

Gletscher sind gefrorene Geschichte, eine Art Fingerabdruck der Zeit. So wie sich über Jahrhunderte Schicht um Schicht der Gletscher vergrösserte, so schmilzt er heute weg, gibt preis, was über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende verborgen blieb. Bekanntestes Beispiel dafür ist Ötzi, eine „Gletschermumie“, die man 1991 im Südtirol fand, 5000 Jahre nach einer Nacht, die der einsame Wanderer nicht überleben sollte. Künftig wird es immer wieder vorkommen, dass das sich zurückziehende Eis, der schmelzende Permafrost Geschichten freilegen wird.

Annina ist eine junge Journalistin, noch frisch auf der Redaktion, aufgeregt auf ihr erstes grosses Interview, das nach der sonntäglichen Wanderung über den Gletscher stattfinden soll. Eigentlich war es Absicht gewesen, zusammen mit ihrer Freundin Melli die Gletscherwanderung in Angriff zu nehmen. Aber Melli musste krank zurückbleiben. Statt mit der sprudelnden Freundin in die Höhe zu steigen, wird die Wanderung nicht nur eine Wanderung in die Stille der Berge, sondern ein Einstieg in die Stimmen in ihr selbst, eine Welt, die so ganz anders ist, als jene, die sie im Tal zurückgelassen hat. Eine Wanderung zu einem Gletscher, der sich hörbar bemerkbar macht, in dem es kracht und donnert, als wäre es ein grosses Ächzen in seinem langen Sterben.

Marianne Künzle «Da hinauf», Nagel & Kimche, 2022, 112 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-7556-0012-1

Irma ist Jahrzehnte zuvor auf einer ganz ähnlichen Tour, sie in den Fünfzigerjahren allein unterwegs. Einem Abgrund entflohen, junge Witwe, allein am Berg, allein mit sich selbst, den Alltag hinter sich lassend.
Damals war der Gletscher ein ganz anderer, ein monströses Urgetüm, über Jahrhunderte fliessendes Eis. Irma und Annina, zwei Frauen in ganz unterschiedlichen Zeiten, an den Rändern eines Gletschers, der wie kaum ein anderes Naturphänomen zeigt, wie sehr sich die Zeit, die Fliessrichtung ändert. Was damals noch wuchs, zieht sich heute zurück. Damals ein wuchtiges Weiss, heute ein schmutzig graues Überbleibsel dessen, was es einmal war. Zwar wandern die beiden Frauen an den gleichen Bergflanken, aber was sie hinter sich liessen, unterscheidet sich ebenso diametral wie das, das sich vor ihren Augen an diesem Berg abspielt.

Marianne Künzle erzählt ganz dezent, macht sprachlich sichtbar, was der Berg verursachen kann; jene schlichte Klarheit. Marianne Künzle hätte die Geschichte dieser beiden Frauen aufblasen, jenen Fehltritt der einen dramatisieren, den Moment der Begegnung, Jahrzehnte nach dem Unfall theatralisch inszenieren können. Tat sie aber nicht. „Da hinauf“ ist der Blickwinkel zweier Frauen, die für ein paar Stunden aus ihrem Leben auftauchen wollen, die in den Bergen, an den Rändern des Gletschers die Nähe zu sich selbst suchen. Die Dramaturgie des Romans ist eine ruhige, als wäre ich als Leser der einzige Zeuge. 

Als mir die Autorin vor Monaten bei einem Spaziergang in den Walliser Bergen von ihrem Manuskript erzählte, dachte ich, sie würde die Gletscherleiche erzählen lassen. Aber die eigentliche Begegnung der beiden Frauen aus unterschiedlichen Zeiten und Leben findet erst auf den letzten Seiten des Romans statt. Was den Roman zu einem grossen Lesegenuss macht, ist nicht das Drama am Eis, sondern die Stimmungen an diesem Berg, die Farben, die Spuren, das Licht, der Wind. Marianne Künzles Roman ist eine Ode an die Natur. Wie ein zärtliches Streicheln über Bergflanken, die unter den Klimaveränderungen ächzen. Die Autorin erzählt in zwei Strängen, zieht die Windungen immer enger, bis zu jenem Moment, wo klar wird, dass dort kein Holz im Eis liegt, sondern die Überreste einer Frau.

„Da hinauf“ ist gekonnt erzählt, eingetaucht in grosse Klarheit!

Marianne Künzle ist 1973 in Bern geboren. Sie ist in Schönbühl aufgewachsen, zwischen modernen Wohnblöcken und Waldrand, Intensiv-Landwirtschaft und letzten Froschhabitaten. Sie hat eine Ausbildung zur Buchhändlerin gemacht und koordinierte viele Jahre Greenpeace-Kampagnen für eine ökologische Landwirtschaft. 2019 hat sie den 2. Oberwalliser Literaturpreis erhalten (für «Living Planet«). Sie lebt im Wallis.

Webseite der Autorin

Das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau

Vielleicht können Sie sich eine Vorstellung davon machen, wie viel Freude, Erwartung, Stolz und Leidenschaft die Lancierung eines neuen Programms bedeutet! Neun Autorinnen und Autoren, zwei Musiker, Künstlerinnen und Künstler aus fünf Ländern, aus Weissrussland, Österreich und Tschechien zugleich, Deutschland und der Schweiz. Ein Programm, dass sich mit Prosa, Lyrik, Sachthemen und Musik auseinandersetzt, das Lesungen, Diskussionen, Konzerte, Performances präsentiert, das Literatur in den Mittelpunkt aktueller Auseinandersetzungen führt und zusammen mit einem wachen Publikum zur Konfrontation ebenso wie zum Genuss einladen will.

Liebes Publikum, liebe Stammgäste, liebe Begeisterte für Literatur, Musik und Kunst, Sie sind herzlich eingeladen! Nehmen Sie Freundinnen und Bekannte mit! Zeigen Sie Ihnen das schmucke Literaturhaus am Seerhein! Feiern die mit uns das Sommerfest am 20. August, an dem sie nicht nur musikalisch und literarisch verwöhnt, sondern ebenso zu Speis und Trank eingeladen werden.

Mir freundlichen Grüssen im Namen der Thurgauischen Bodman Stiftung Gottlieben, der seit mehr als zwei Jahrzehnten wirkenden Stiftungssekretärin Brigitte Conrad und des Programmleiters Gallus Frei-Tomic

Dienstag, 26. April im KultBau St. Gallen und Donnerstag, 28. April im Literaturhaus Thurgau: Isabella Krainer & Lea Le «Vom Kaputtgehen», eine Performance

Zusammen mit der St. Galler Illustratorin Lea Le performt die steirische Lyrikerin Isabella Krainer. Lyrik und Illustration formen Bilder, treten in Austausch, erwidern und befragen sich. Kunstformen begegnen sich!

von wegen

vater war dafür
sagte nur
deswegen

verwegen

mutter fragte wofür
dachte nur
weswegen

verlegen

krieg vor der tür
kämpfe nur
entlegen

von wegen

An einem ganz normalen Leben entlang, von Zeugung, Schwangerschaft und Geburt über Familienleben und Schulzeit bis zur Entwicklung von Geschlechterrollen, zu unvermeidlichen Kontakten mit politischer Wirklichkeit und zum Ringen um Mitmenschlichkeit spannt Isabella Krainer den Bogen einer österreichischen Jedermensch-Biografie. Immer weit am Rand der Komfortzone – oder schon jenseits davon – bewegen sich die Figuren, fühlen sich nicht zugehörig und gehindert am Weiterkommen.

Isabella Krainer «Vom Kaputtgehen», Limbus, 2020, 91 Seiten, CHF 18.90, ISBN 978-3-99039-170-9

Die österreichische Lebenswirklichkeit dringt in die Sprache dieser Gedichte, in der Krainer – unentwegt ihr enormes Sprachbewusstsein beweisend – mit Mundartelementen Heimatgefühl erzeugt, das sie mit Doppeldeutigkeiten und Konnotationen, kleinen Verschiebungen aber gleich wieder ungemütlich gestaltet. Alltägliches bekommt eine neue Bedeutung, Bekanntes wird überraschend anders, Erwartungen werden unterlaufen, Wörter treffen bis in den Kern.

„Dass Lyrik grösstes Vergnügen bereiten kann, trotzdem jene Schärfe und Würze birgt, die der Lyrik in ihrer Konzentration eigen ist und doch kunstvoll, gewieft und vielschichtig daherkommt, das beweist Isabella Krainer in ihrem ersten bei Limbus erschienen Gedichtband.“ Gallus Frei-Tomic, literaturblatt.ch, 2020

manchmal

manchmal möchten möhren
eingesetzt
vielleicht auch zu höchstleistungen
angetrieben
oder mehr noch
wegen
medial produzierter minderwertigkeitskomplexe
karotten genannt
und überhaupt
attraktiver
werden

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, verfasst Lyrik und Prosa und macht gern Theater. Bis 2017 lebte sie in Tirol, aktuell in der Steiermark und pendelt zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Förderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet. Im Rahmen des stubenrein-Festivals (steirischerherbst’19) las sie aus ihren Gedichten. Als Murauer Bezirksschreiberin sammelt sie Zuschreibungen von der Straße auf und verarbeitet, was Frauen abverlangt wird, von A bis Z.

Lea Le (1995) lebt und arbeitet in St. Gallen als selbständige Illustratorin, Event- und Comiczeichnerin. 2022 Förderbeitrag des Kantons Thurgau
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Programm Literaturhaus Thurgau

 

 

Silvia Tschui «Vögel, frittiert»

Bei 36 Grad fallen einem Vögel tot vor die Füsse. Wenn einem wieder mal ein Vogel vom Himmel tot vor die Füsse fallen würde, denkt man, das wäre schön. Das wäre schön, denkt man, während man neben dem Grab eines Schriftstellers sitzt und auf die Hitze wartet, weil man dann am Anfang der ganzen Misère stünde. Und man wüsste noch nicht, was kommen wird, und man würde denken, oh, seltsam und irgendwie apokalyptisch, ein Vogel fällt tot vom blauen Himmel vor meine Füsse, und es würde einen nur ein leichtes Grauen befallen, statt dass es sich einem längst in jeden Knochen und jede Zelle gebohrt hätte. Und man würde nicht da sitzen und auf die letzte Hitze warten. Bei 27 Grad beginnt man schon leicht zu schwitzen. Und man hätte in diesem Moment vielleicht noch etwas tun können, wirklich etwas tun.

Und ausserdem hätte man etwas Frisches zu essen, so wie die Libanesen und Italiener in ihren Wäldern die da jeweils sassen, auf so Hockern, mit ihren Luftgewehren und auf alles schossen, was sich bewegte, also in der Luft, klitzekleine Singvögelchen, die sie dann frittierten. Wenn man etwas frittiert, binden sich die Proteine, und mit Haut und Haar, nein mit Schnabel und Feder frassen sie sie auf, zuhauf, und man hat sich damals, als man noch reiste, gefragt, weshalb die das tun, weshalb die so stolz ihre Gewehre schwangen, weshalb die das tun, so zum stupiden Sport, und man hat sie verachtet. Wenn doch die Supermärkte voll sind, mit Fleisch und Tomaten und Gurken und Wassermelonen.

Auch Jahre später, als einem ein Vögelchen nach tagelanger Hitze tot vor die Füsse fällt, sind die Supermärkte voll mit Tomaten und Gurken und Wassermelonen unter Neonlicht, und es packt einen eine Ahnung dieses Grauens, draussen dörren Felder unter blauem Himmel vor sich hin, wochenlang schon, und Bauern erschiessen sich und der hartbackende Boden zeigt Risse wie man sie früher auf Hungerbildern in Äthiopien auf diesen Hilfekatalogen gesehen hat, die zu Weihnachten in Unmengen unsere Briefkästen fluteten, erst hochglanz, später politisch korrekter auf mattem Papier, draussen hat es geschneit und jetzt gibt es keine mehr.

Keine Post, bestimmt keine Äthiopier, wahrscheinlich kaum mehr Italiener und Libanesen, keinen blauen Himmel, keine kleinen Singvögelchen, die sangen vorher schon kaum mehr, frittiert haben sie sie, trotz Tomaten, Wassermelonen und Gurken in Supermärkten und ich habe mich gefragt warum nur, und sie verachtet, und später im Supermarkt ein Huhn gekauft, mit Zitronen, die es nicht mehr gibt und Tomaten, die es nicht mehr gibt, und Oliven, die es auch nicht mehr gibt, in einem Ofen gebacken, und später war man froh, wenn die Temperatur Abends unter dreissig Grad gefallen ist, und hat darauf mit Weisswein auf einer Terrasse unter blauem Himmel angestossen, und auf das Huhn, und war guter Dinge und hat Musik gehört und Geschichten erzählt und in die blauen Augen von einem Mann geschaut, hinter ihm der See, so dass man dachte, man schaue durch diese Augen dieses Mannes direkt in die grosse Abendbläue, und das war schön.

Als es die Farbe Blau noch gab, blau, ein Wort, das die Jüngeren nicht mehr kennen, genausowenig wie grün, als die Sonnenuntergänge zuerst so richtig kitschig schockpinkorange rot wurden und man das noch schön fand, bevor sich auch tagsüber zunehmend eine Art bräunlicher Schleier über den zunehmend nicht mehr so blauen Himmel legte, das Methan, sagten die Zeitungen, und einige Zeit lang gab es dann diese Vollspektralglühbirnen, dass man den Kindern immerhin in Bilderbüchern zeigen konnte, wie das Meer und der Wald einst ausgesehen hatten und man hat ihnen vorgeschwärmt, wieviele Abstufungen von Blau und Grün es gegeben habe, Türkis und Moosgrün und Petrolgrün und Flaschengrün und Apfelgrün und Ceruleumblau und Ultramarin wie nur schon der See, an dem man wohnt, jeden Tag eine andere Farbe gehabt habe und wie schön das ausgesehen hat im Frühling mit dem blauen See unter dem blauen Himmel hinter dem unglaublich frischen Grün dieser Bäume, deren Namen man vergessen hat, diese Bäume, die einst das ganze Mittelland bedeckten, und dass der See eigentlich blau war, und nicht braun, dass der Himmel blau war und die Sonne gelb, dass Wolken weiss waren, und jetzt kennen die Kinder unserer Kinder die Wörter «blau» und «grün» nicht mehr, weil es auch diese Vollspektrallampen längst schon nicht mehr gibt, schon bevor es auch keine Elektrizität mehr gab, und wir haben aufgehört zu erzählen, von Meer und blauem Himmel und Vögeln die flogen, als wären sie schwerelos, weil die Wörter den Jüngsten nichts mehr bedeuten, sie können sie nicht fassen, und uns schmerzen sie zu sehr, und man lacht, wenn auch bitter, man lacht sowieso oft nur noch bitter, wenn man daran denkt, wie man sich
über Konnotationen und Denotationen von Wörtern gestritten hat in Seminaren und wofür das Wort blau alles stand, und wie ist etwa der grösste Teil deutscher Dichtung noch verständlich wenn es etwa keine blauen Blumen mehr gibt?

Wie sie etwa der Schriftsteller beschrieben hat, neben dessen Grab man jetzt sitzt, ohne Gewehr, man braucht es nicht mehr, und auf die letzte Hitze wartet, sonst wären sie nie gegangen, die Kinder, die keine mehr sind, und deren Kinder, die die Wörter «grün» und «blau» nicht mehr kennen, und für die die Konserven nun vielleicht reichen bis in den Norden, wo es noch regnen soll, sagt man sich, und den man vielleicht erreicht, wenn man nur nachts wandert und tagsüber einen Unterschlupf findet, denn ab siebenunddreissig Grad verlangsamt sich der Herzschlag und man kann nicht für längere Zeit wandern, ohne sich der Gefahr eines Hitzschlags auszusetzen.

Man wartet auf die Hitze unter einem beigen Himmel, neben dem Grab des Schriftstellers, der die blaue Blume beschreiben hat, sie stand für Sehnsucht, und man hatte nie eine Chance, wir hätten nichts tun können, in einem System, das auf Fressen ausgelegt ist, mit endlichen Grundstoffen, auf kleinster biologischer Ebene schon, jeder Mikroorganismus, der einen anderen frisst, hat einen Vorteil, und dann entwickeln sich Belohnungswechselwirkungen in Hirnen, die einem Glückshormone verschaffen, wenn man ein Vögelchen vom Himmel schiesst, oder die Zähne in einen Hühnerschenkel rammt, und man hat noch nicht einmal ein schlechtes Gewissen dabei, bei 39 Grad erweitern sich die Blutgefässe, man hatte keine Chance, weil man sich wahlweise gute oder rachevolle Überväter ausdenkt, die einem vom blauen Himmel herunter lächelnd zunicken und sagen, jaja, macht Euch die Erde untertan, denn inmitten aller kreisenden, glühenden oder längst toten Sterne und Nebel und Planeten ist es wichtig, dass Du, genau Du unter einem blauen Himmel deine Zähne in einen Hühnerschenkel rammst, und bei vierzig Grad beginnen bald Halluzinationen. Und man denkt nicht, wenn sich einer so eine Scheisse ausgedacht hätte, so ein krasser systemimmanenter Fehler, gehörte der gefoltert, bis ans Ende der Zeit gefoltert, weil die Wahrheit ist: Man hätte nichts tun können, nichts, man hatte nie eine Chance, mit Belohnungssystemen im Hirn, die und auf die Schulter klopfen wenn wir Vögelchen vom Himmel schiessen, und satt werden wir doch nie, ab einundvierzig Grad beginnen die Eiweisse in unseren Körpern sich zu binden, und da steht der Mann, seine Augen sind blau, ich sehe durch seine Augen direkt in die grosse Abendbläue, Ceruleum und Ultramarin und Türkis, und das ist schön, und die Kinder werden in der Nacht losgehen, nach Norden, der Schriftsteller steht daneben und sie nicken mir zu und niemand hätte rein gar nichts tun können und die Felder sind grün, moosgrün, apfelgrün, flaschengrün, ich bin ein Vogel, ich bin ein Vogel und ich fliege und ich singe und das ist schön.

(Originaltext erstmals erschienen 2022 in «20/21 Synchron» von Charles Linsmayer. Ein Lesebuch zur Literatur der mehrsprachigen Schweiz von 1920 bis 2020. Reprinted by Huber Bd. 40)

Silvia Tschui wird im August zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger (Gitarre) Gast beim Sommerfest des Literaturhauses Thurgau sein!

Silvia Tschui wurde 1974 in Zürich geboren. Sie studierte ein paar Semester Germanistik, absolvierte die Fachklasse Visuelle Gestaltung an der ZHdK und erwarb 2000 das Lehrdiplom Oberstufe. 2003 machte sie ihren Bachelor in Grafikdesign und Animation an Central St. Martins College in London und arbeitete vier Jahre als Animationsfilm-Regisseurin bei RSA Films in London. 2004 wurde ihre Arbeit für den British Animation Award nominiert. Zurück in der Schweiz arbeitete sie als Grafikerin, Journalistin und Redaktorin und schloss 2011 ihr Studium am Institut für literarisches Schreiben mit dem Bachelor ab. Zurzeit arbeitet sie als Redaktorin in Zürich bei Ringier.
Ihr erster Roman «Jakobs Ross» wurde mit dem Anerkennungspreis des Kantons Zürich ausgezeichnet und von Peter Kastenmüller fürs Theater Neumarkt adaptiert. Eine Verfilmung des Stoffs ist bei der Produktionsfirma Turnus Films in Arbeit. Ihr zweiter Roman «Der Wod» wurde von der Stadt Zürich 2017 mit einem halben Werkjahr gefördert. 2019 war sie damit für den Ingeborg Bachmann Preis nominiert (Videoportrait).

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Angelika Klüssendorf «Vierunddreißigster September», Piper

Das Buchcover erlaubt eine dunkle Vorahnung: Der abgebildeten, durchaus noch im Leben stehenden Taube fehlt der Kopf. Kopflose Wesen kennt man aus Horrorfilmen, doch so schlimm kommt es dann doch nicht. Das Leben der Toten ist in Angelika Klüssensdorfs neuestem Roman «Vierundreissigster September» ein eher beschaulicher Ort. 

Gastbeitrag von Cornelia Mechler, Leiterin Verwaltung und Marketing im Kunstmuseum Thurgau, Moderatorin im Literaturhaus Thurgau

Der Roman beginnt mit einem Mord: «Sie hätte das Gewehr nehmen können, entschied sich aber für die Axt. Hilde liess sie auf Walters Kopf niedersausen, als wollte sie ein Holzscheit spalten.» Mit dieser Tat endet eine unglückliche Ehe, die zum Leidwesen der Frau nach einer Fehlgeburt auch noch kinderlos geblieben war. Hilde verschwindet im Schneesturm und gilt ab jenem Moment als vermisste Person. Walter aber kommt ins Reich der Toten und wohnt erst mal seiner eigenen Beerdigung bei. Schon hier zeigt sich der lakonische Witz der Autorin. Die folgenden Sequenzen schwanken zwischen schwarzem Humor, etwas Melancholie und einer Prise Heiterkeit.

Walter lebt nun auf dem Friedhof und trifft zahlreiche Bekannte wieder, die bereits vor ihm verstarben. Alle Verstorbenen sind in dem Zustand in ihre neue «Welt» eingezogen, den sie zuletzt innehatten. Bei Walter bedeutet dies: Er wandelt mit einem gespaltenen Schädel unter den Toten umher und hat nun viel Zeit, das Leben der Lebenden zu beobachten. Er wird zum Berichterstatter, zum Chronisten, wobei sich sein Bewegungsradius auf die Dorfgrenzen beschränken. Ihn selbst treiben drei entscheidende Fragen um: Wer war er früher? Wieso wurde er ermordet? Und wo ist eigentlich Hilde abgeblieben?

Angelika Klüssendorf «Vierundreißigster September», Piper, 2022, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05990-9

Im Dorf ist Hildes Verschwinden kaum ein Thema mehr. Einige Bewohner beschäftigt in diesem Sommer vor allem der angekündigte Besuch von Steven Spielberg, der im Ort einen Film drehen möchte. Das Warten auf die Ankunft des Starregisseurs beginnt, und da werden auch die pessimistischsten Träumer nochmals wach. Überhaupt ist auch das lebende Personal in diesem Buch ein sehr besonderes. Da gibt es die dicke Huber, das Rollschuhmädchen, Eisenalex und Bipolarchen. Jede und jeder im Dorf trägt eine mal mehr mal weniger schwere Lebenslast mit sich herum. Die eindrücklichen Charakterbeschreibungen werden getragen durch eine Grundsympathie der Autorin für ihre Figuren.

Der Wechsel der Erzählperspektiven ist sehr gut gewählt, das Leben der Toten steht damit immer in engem Bezug zu dem der noch Lebenden. Auch wenn Letztere nichts von ihren Schatten ahnen, so ist es für die allwissende Leserschaft ein äusserst kurzweiliges Lektürevergnügen.

Speziell auch dies: Die Toten können die Träume der Lebenden sehen, wenn diese schlafen. Da ist ein spannendes Nachtprogramm geboten, das vor allem Walter äusserst gelegen kommt. Aber auch in den Träumen der anderen kommt bei niemandem Hilde vor. Doch dann findet er eine wage Spur – und er muss erkennen, dass seine Frau ein ganz anderes Leben führte, als er es zu kennen meinte…

«Ein hintersinniges Meisterwerk über eine Zeit der Wut, Melancholie und Zärtlichkeit», so heisst es im Klappentext. Wahrlich, das ist nicht zu hoch gegriffen. Es gilt: Lesen und staunen!

Angelika Klüssendorf, geboren 1958 in Ahrensburg, lebte von 1961 bis zu ihrer Übersiedlung 1985 in Leipzig; heute wohnt sie auf dem Land in Mecklenburg. Sie veröffentlichte mehrere Erzählbände und Romane und die von Kritik und Lesepublikum begeistert aufgenommene Roman-Trilogie «Das Mädchen», «April» und «Jahre später«, deren Einzeltitel alle für den Deutschen Buchpreis nominiert waren und zweimal auch auf der Shortlist standen. Zuletzt wurde sie mit dem Marie Luise Kaschnitz-Preis (2019) ausgezeichnet.

Illustration leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

«20/21 Synchron» Silvia Tschui, Klaus Merz und Texte von Helen Meier und Raphael Urweider

Charles Linsmayer veröffentlichte mit seinem gewichtigen Lesebuch «20/21 Synchron» nicht nur einen persönlichen Überblick über die Schweizer Literatur der letzten hundert Jahre, sondern mit jeder von ihm verfassten Kurzbiographie eine Liebeserklärung an die Literatur der jeweiligen Dichterinnen und Dichter!

Im Gespräch zwischen Moderator Peter Surber und Charles Linsmayer konnte sich der Fragende die Bemerkung nicht verkneifen, warum denn so gewichtigen Stimmen aus der Gegend wie jene von Zsuszanna Gahse, Michelle Minelli oder Christian Uetz der Eingang zu diesem Buch verwehrt blieb. Charles Linsmayers sympathischer Erklärungsversuch bewies wie all sein Tun seinen Respekt vor der grossen Vielfalt der hiesigen Literaturszene. Hätte er all jene in den Band mitgenommen, die es verdient hätten, wäre aus dem Band ein Koloss geworden. Seine Auswahl war eine subjektive Wertung, aber niemals ein Ausschliessen. So wichtig es ihm war, Stimmen aus dem Vergessen zu tragen, so wichtig war ihm die Viersprachigkeit, selbst sie Ausgewogenheit der Geschlechter («Das muss heute ja so sein.»).

«Es gab schon Veranstaltungen zu meinem Buch «20/21 Synchron» in Bern, Basel, Zürich und St. Gallen. Aber so geglückt wie der Abend im heimeligen Dachgeschoss des Literaturhauses Thurgau war keine von ihnen. Es stimmte einfach alles: die mit Emphase vorgetragenen Beiträge von Silvia Tschui und Klaus Merz, die zu ihren eigenen Texten noch je einen von Raphael Urweider und Helen Meier gestellt und gelesen haben. Die musikalische Begleitung durch den Gitarristen Philipp Schaufelberger und die Lieder, die Silvia Tschui aus ihrem Text herauszauberte und zur Freude des Publikums gekonnt und mit Verve vortrug, und nicht zuletzt das Gespräch, das Peter Surber als Moderator mit mir führte und das mir Gelegenheit gab, meiner eigenen Freude über das geglückte Buch und die Aufnahme durch die beteiligten Autorinnen und Autoren Ausdruck zu geben.  Auch das Publikum, das den Saal bis zum letzten Platz füllte, schien in die schöne Bewegung, die das Buch unter den Anwesenden auslöste, mit einbezogen zu sein, und am schönsten für mich war wohl Gallus Freis Erklärung in seiner Begrüssung, dass man das Gefühl, das mich mit der Schweizer Literatur verbinde, Liebe nennen müsse. Der Abend vom 10.März 2022 in Gottlieben wird mir jedenfalls für immer in schöner und dankbarer Erinnerung bleiben.» Charles Linsmayer

«20/21 Synchron» ist kein Kanon der Schweizer Literatur des 20. Jahrhunderts. Charles Linsmayer, der als Autor und Herausgeber von mehr als 120 Buchveröffentlichungen über die Jahrzehnte ein Leuchtturm in der Schweizer Literaturszene wurde, wählte für diesen 40. Band der Reihe «Reprinted by Huber» seine ganz persönlichen Favoriten, all jenen, denen er in seinen unzähligen Begegnungen, seien sie nun persönlich oder schriftlich, nahe gekommen war. 

Und nicht zuletzt ist «20/21 Synchron» ein Gegenentwurf zur «um sich greifender Lesemüdigkeit und dunkler Prognosen vom Ende des Buchzeitalters und dem Heraufziehen einer digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur». Nicht nur Charles Linsmayer, auch Silvia Tschui und Klaus Merz vermochten im Gespräch ihre pessimistische Sicht auf die Zukunft des Buches nicht zu verbergen. Der beinahe volle Veranstaltungssaal des Literaturhauses an diesem Abend konnte das bisschen nötige Hoffnung nicht wecken, denn junges Publikum ist rar.

Besonders beeindruckend war «Oben», der Text von Helen Meier, der grossen Dichterin, die im Februar 2021 ganz still und leise aus dem Leben schied, die mit ihren Erzählungen und Romanen eine ganz Grosse der Schweizer Literatur wurde und mit der Charles Linsmayer in den letzten zehn Jahren ihres Lebens eine tiefe Freundschaft verband. Mit der Stimme von Klaus Merz hörte man ihr beim Schreiben zu.

Wie sehr Charles Linsmayer seine Liebe zur Literatur mit sich trägt, wurde an einer Lesung aus seinem Lesebuch in St. Gallen zusammen mit Ilma Rakusa sichtbar, als der Herausgeber mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nicht nur weil ihn der Text berührte, sondern die Intensität der Sprache und die vollendete Komposition der Geschichte.

«Wie schön der gestrige Abend zur Feier von Charles Linsmayers überwältigendem Werk «20/21 Synchron» im schönen Gottlieben doch war! Ein neugieriges, offenes Publikum, und ein Veranstalter, der sich auf Experimente einlässt. Man kann sich mehr nicht wünschen. Danke!» Silvia Tschui

Silvia Tschui wird zusammen mit dem Musiker Philipp Schaufelberger das traditionelle Sommerfest in und ums Literaturhaus Thurgau am 20. August 2022 mitgestalten. Reservieren Sie sich den Termin!

Beitragsbilder @ Philipp Frei

Lesebuch für KomplizInnen

100 Jahre, 135 Autorinnen und Autoren: Charles Linsmayers Anthologie «20/21 Synchron» besichtigt die viersprachige Buchschweiz.

von Peter Surber, Kulturredaktor

«Boden unter den Füssen zu gewinnen, flüchtet man in Erinnerung, sieht sich, wie Lenz, der den 20. Jänner durchs Gebirg ging, als kleiner Bub mit Vater nach dem Vesperbrot, wenn der diffuse Tag unmerklich in die Nacht überzukippen beginnt, vom Dorf durch den frischen Schnee die Aufforstung hinauf zum Glaspass stapfen…» – ein erster Satz, der hier noch lange nicht zu Ende ist, ein typischer Hänny-Satz. Reto Hänny, 1947 im bündnerischen Tschappina geboren, hat vor wenigen Tagen den Schweizer Grand Prix Literatur 2022 zugesprochen erhalten. Darum haben wir ihn als ersten gesucht im Lesebuch zu hundert Jahren Schweizer Literatur, das Charles Linsmayer herausgegeben hat. Hänny ist natürlich drin – aber nicht mit einem Auszug aus seinen Romanen mit den rabiaten Kurztiteln Ruch, Flug oder Sturz, sondern mit einem original für das Lesebuch geschriebenen Text: Glaspass.

Von «überraschend vielen» noch lebenden Autorinnen und Autoren habe er solche bisher unveröffentlichten Beiträge für die Anthologie erhalten, schreibt Linsmayer im Nachwort und bedankt sich für das «intensive Jahr» mit Schweizer Literatur, das ihm die Gespräche mit den Angefragten und die Arbeit am Buch beschert hätten.

Kanon und Entdeckungen
Eine solche intensive Entdeckungsreise durch Regionen, Themen und Jahrzehnte bietet das Buch auch den Leserinnen und Lesern. Es schlägt einen gewaltigen Bogen von 1920 bis 2020, aber geordnet ist es nicht chronologisch, sondern thematisch in kleinen, eher ad hoc gebildeten als systematisch wirkenden Gruppen. «Frühe Erfahrungen» stehen am Anfang, es folgen Texte über die Liebe, über «Väter und Mütter», «Freundschaften», «Städte und Landschaften», die Schweiz wird verhandelt oder der Tod, Schicksale «Auf der Schattenseite» oder Erlebnisse «Jenseits des Realen», Witziges steht neben Tragischem – ein beinah unerschöpfliches Kaleidoskop von Stimmen und Stimmungen.

Walser, Hesse, Ramuz, Hohl, Inglin und so weiter: Die Klassiker sind drin, die Grossschriftsteller von Frisch bis Dürrenmatt bis Burger bis Nizon, die erste Autorinnengarde von Annemarie Schwarzenbach, Alice Rivaz, Amélie Plume, Agota Kristof, Luisa Famos bis Helen Meier. Linsmayer hat den (inoffiziellen, aber über ein Jahrhundert herauskristallisierten) Kanon des viersprachigen Literaturschaffens intus und teils mitgeprägt: Er erinnert auch an Namen, die vermutlich vergessen wären, wenn er sie nicht selber seit den Achtzigerjahren in den 30 Bänden der Reihe «Frühling der Gegenwart» oder in der vierzigbändigen Edition «Reprinted by Huber» ans Licht geholt hätte: Francis Giauque, Cilette Ofaire, Monique Saint-Hélier, Kurt Guggenheim…

Man kommt mit Aufzählen nicht nach. Die Jüngsten? Arno Camenisch, Dorothee Elmiger, Meral Kureishi, Anna Stern, alles Achtzigerjahrgänge. Die Ostschweiz? Neben Elmiger, Meier und Stern sind Regina Ullmann, Niklaus Meienberg, Eveline Hasler, Peter Stamm und Peter Weber in Linsmayers «Long List aufgenommen. Dagegen fehlen wichtige regionale Stimmen wie Christoph Keller, Christian Uetz, Christine Fischer, Renato Kaiser, Lara Stoll und andere.

Generell sind Spoken-Word-Stimmen rar, wohl dem ausdrücklichen Lesebuch-Charakter geschuldet. «Vollständigkeit wurde nicht angestrebt», schreibt Linsmayer gleich selber im Nachwort – bei schweizweit rund 2500 Schriftstellerinnen und Schriftstellern wäre das auch ein Ding der Unmöglichkeit. Die Auswahl habe sich aus seinen Vorlieben und Erfahrungen ergeben. Begründungen, Gewichtungen und Tonalitäten, Wahlverwandtschaften und Kontraste schält das Nachwort heraus, und eine unübertreffliche Leistung sind die 135 Kurzbiografien, je eine Seite lang, die alle im Buch vertretenen Autorinnen und Autoren samt Bild vorstellen.

Vögel und Pilze
Am besten folgt man also als Leser ebenfalls seinen Vorlieben. Findet zum Beispiel Dorothee Elmigers Lockdown-Reflexion Schlafprotokoll, verfasst für eine Produktion am Zürcher Schauspielhaus 2020. Oder einen gespenstisch apokalyptischen Text mit dem Titel Vögel, frittiert der Zürcher Romanautorin Silvia Tschui. Darin ist die Welt, überhitzt und zu Tode ausgebeutet, am Ende, die Farben verloren, der Boden ausgetrocknet, die Wörter vergessen, «und man hatte nie eine Chance». «Verhängnis und Vision» heisst das Kapitel, in dem auch eines der wenigen Gedichte im Band zu finden ist, Raphael Urweiders tropische Trauer. Zur Aufheiterung folgt ein paar Seiten weiter Peter Webers Pilzöffentlichkeit, in der die Hallimasche das letzte Wort haben.

In einer kulturpessimistischen Schlussbetrachtung warnt der Herausgeber vor der «digital unterfütterten Jekami-Unterhaltungskultur globalen Zuschnitts», die das gedruckte Wort zunehmend «in eine Randexistenz» dränge. Er hofft im Gegenzug auf ein Lesepublikum, das, statt «Trends und Moden» zu folgen, dem Geschriebenen wieder mehr Zeit widmet und «zu neugierigen, aufnahmebereiten, geduldigen Adressaten und echten, begeisterungsfähigen Komplizen der Schreibenden» wird. Sein Lesebuch will dazu einen Beitrag leisten.

Dieser Bericht erschien in der Märzausgabe der Kuturzeitschrift Saiten.

Bei der Veranstaltung vom 10. März im Literaturhaus Thurgau sind Klaus Merz uns Silvia Tschui mit auf der Bühne. Begleitet werden Sie vom Gitarristen Philipp Schaufelberger. Moderation Peter Surber

Silvia Tschui, geb. 1974 in Zürich, studierte Germanistik und Grafikdesign. Ihr erster Roman „Jakobs Ross“ war in der Schweiz ein preisgekrönter Bestseller. Ihr aktueller Roman „Der Wod“ erschien bei Rowohlt.
Klaus Merz, geb. 1945, lebt in Unterkulm/Schweiz. Zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt Rainer-Malkowski-Preis (2016) und Christine-Lavant-Preis (2018).