Weil die Kosmetikbranche alles tut, um uns glauben zu lassen, Alterungsprozesse liessen sich aufhalten oder wenigstens verzögern und die Pharmaindustrie mit Hochdruck und gewaltigen Budgets an Anti-Aging-Mitteln arbeitet, ist der gedankliche Versuch, was passieren würde, wenn ein solches Medikament kurz vor dem Durchbruch stünde, absolut dringlich. Maxim Leo tut dies mit „Wir werden jung sein“ mit viel Spannung und grosser Leidenschaft.
Manchmal überfällt mich der Gedanke an meine eigene Endlichkeit, mein Sterben, meinen Tod wie ein Gewitter, das sich direkt über mir mit aller Wucht entlädt. Je nach Alter und gesundheitlicher Situation beschäftigen wir uns mehr oder weniger, oder auch gar nicht damit. Aber wer sich durch Krankheit oder das Schicksal mit einem Mal mit seinem baldigen Ende konfrontiert sieht, dem stellen sich existenzielle Fragen. Wie keine andere Kunstform kann es die Literatur, ein Gedankenexperiment durchzuspielen; Was wäre wenn? Was wäre, wenn man mich totkrank anfragen würde, als Proband bei einer wissenschaftlichen Erprobung eines Medikaments mitzumachen, das Heilung verspricht, mein Leben verlängern könnte, aber mit noch unbekannten Nebenwirkungen einhergehen würde? Was wäre, wenn ein solches Medikament mit genau diesen Nebenwirkungen nicht nur eine Stärkung der Abwehr bewirken würde, sondern eine eigentliche Verjüngung? Was würde mit der Industrie, der Politik, unserer Gesellschaft passieren, wenn wir die Dauer unseres Lebens fast beliebig verlängern könnten? Wenn man nur ein bisschen im Internet recherchiert, scheint man nicht weit weg von der Entwicklung eines solchen Wundermittels zu sein. Maxim Leos Roman „Wir werden jung sein“ ist ein genau solches Gedankenexperiment, fein durchdacht, mit einem erstaunlich milden Ausgang.
Professor Doktor Martin Mosländer arbeitet seit Jahren in seinem Labor im Institut für Biowissenschaften an der Berliner Charité an einem Medikament, das kranke Herzmuskelzellen regenerieren und sogar in der Lage sein soll, das Wachstum neuer Zellen anzuregen. Sein Ziel; chronische Herzmuskelschwächen, die bisher als nicht behandelbar galten, zu kurieren. Für einen ersten „Feldversuch“ im kleinen verabreicht Mosländer sein vielversprechendes Medikament fünf Proband*innen: dem Teenager Jakob, der eben zum ersten Mal sein Herz verlor, Jenny, die seit vielen Jahren alles daran setzt, schwanger zu werden, Verena, einer ehemaligen Schwimm-Olympiasiegerin, Wenger, einem schwerreichen Immobilienmogul, der es gewohnt ist, sein Tun zum Gesetz zu erklären und sich selbst, weil er fand, ein echter Forscher dürfe nicht anderen unerprobte Mittel verabreichen, ohne sie selbst einzunehmen. Selbst seinen in die Jahre gekommenen Collie Charles hat er von dem Medikament unter das Futter gemischt.
Das mit der Jugend (…) funktioniert leider nicht. (…) Weil Jugend vor allem im Kopf stattfindet. Man bekommt die Begeisterung nicht zurück, die Naivität, die Neugier. Und diese ständigen ersten Male.
Was auf den ersten Blick wie ein Wunder wirkt und nicht nur bei Mosländer und seinen Proband*innen Euphorie und Hoffnung weckt, wächst sich schnell durch seine unvorhersehbaren Konsequenzen ins Unberechenbare aus. Was für den herzkranken Wenger, der bereits sein Ableben akribisch vorbereitete, wie ein Geschenk erscheint, dem jungen Jakob mit einem Mal seine erst erwachende Manneskraft raubt, der Schwimmerin ganz unerwartet zu sportlichen Höhenflügen verhilft, stürzt die noch junge Jenny in ihrem Wunsch nach Familienglück in eine existentielle Zwickmühle und Mosländer vor fast unlösbare Probleme, nicht nur medizinischer Art. Der vermeindliche Erfolg des Medikaments lässt sich nicht geheim halten und löst eine unkontrollierbare Kettenreaktion aus. Nicht nur, dass sich die Pharmaindustrie, die Wissenschaft global dafür zu interessieren beginnt. Auch zwielichtige Organisationen wittern das grosse Geschäft. Aus den Proband*innen voller Hoffnungen werden Gejagte. Die Situation kollabiert.
„Es war so, als hätte man einen Motor in ein Auto eingebaut, ohne zu wissen, wo sich das Gaspedal und die Bremse befanden.“
Was geschieht, wenn Menschen ihre Lebensdauer aktiv in die Länge ziehen können? Wenn ein Medikament berechenbaren Aufschub verspricht? Wenn Zeit mit einem Mal nur noch eine untergeordnet Rolle spielt? Wenn die Menschheit sich nicht mehr durch Geburten erneuern muss? Immer wieder kam es in der Wissenschaft zu Entdeckungen, die Kolossales versprachen, in ihren „Nebenwirkungen“ aber katastrophale Wirkungen erzielten. Warum tickt der Mensch aus, wenn er Licht am Ende eines Tunnels sieht? Maxim Leo stellt sich diesen Fragen, hängt sie ganz unmittelbar an das Leben seiner Proband*innen. Auch wenn ich dem Buch einen etwas weniger schlacksigen Ton gewünscht hätte und ich dem Ende etwas mehr Pepp, ist „Wir werden jung sein“ eine Fragestellung, die sich aufdrängt!
Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, ausserdem Drehbücher für den »Tatort«. 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch »Haltet euer Herz bereit« wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi »Waidmannstod«, 2015 »Auentod«. 2019 erschien sein autobiografisches Buch »Wo wir zu Hause sind«, das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.
Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Rezension auf literaturblatt.ch
Beitragsbild © Sven Görlich