Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Kiwi

Eigentlich will Michael Hartung nur seine Ruhe. Und in seiner Videothek „Moviestar“ ist Ruhe eingekehrt. Zuviel Ruhe, denn die Miete ist im Rückstand, so wie alles im Leben von Michael. Bis ein Reporter auftaucht und die Tür zu einer glorreichen Zukunft in der Sonne des Glück aufreisst. Mit einem Mal ist Michael Hartung etwas ganz besonderes!

Seit mehr als 30 Jahren ist Deutschland „wiedervereint“. Ein Ereignis, an das jedes Jahr feierlich erinnert wird, ein Ereignis, das im Laufe der Geschichte immer mehr zu Geschichte wird, einer Geschichte, die sich durch Geschichtsschreibung, Dokumentationen, Institutionen immer weiter von dem entfernt, was der Moment damals war. Die Bilder vom Mauerfall, dem Feuerwerk, den Trabis an den Grenzübergängen haben sich ins kollektive Bewusstsein gegraben, obwohl sie bei weitem nicht das repräsentieren, was in jenen Momenten davor und danach wirklich geschah. Aber der Mensch hängt sich ans Spektakel, an einprägsame Bilder, Stellvertreter. Dabei war die „friedliche Revolution“ für viele in der damalige DDR erst einmal ein Verlust aller Sicherheit. Plötzlich war alles schlecht, rückständig und unbrauchbar, was Jahrzehnte lang Fundament war. Plötzlich war der Klassenfeind das Mass aller Dinge. Erstaunlich genug, dass eine aus dem Osten 16 Jahre lang die Geschicke dieses Landes repräsentierte und mitgestaltete.

Michael Hartung arbeitete in den Tagen des Mauerfalls in einem Kohlebergwerk irgendwo in der DDR-Provinz. Seine Aufmerksamkeit galt nicht den Geschehnissen in der Hauptstadt, sondern seiner Familie, die in diesem kalten November in einer Wohnung mit defekter Heizung ausharren musste, was dazu führte, dass die kleine Tochter mit einer Lungenentzündung im Krankenhaus lag. Dass seine Familie in Schieflache geraten war, lag aber nicht nur an der Heizung. Irgendwann war das Feuer auch in der Ehe aus. Er verlor den Kontakt, Stelle um Stelle und irgendwann auch den Glauben, dass es ein Stück Wende auch für ihn geben sollte. Von einem Freund überredet, landet er im „Moviestar“, einem Filmverleih, der am Anfang noch ganz gut lief, aber mit dem Aufkommen all der Streamingangebote mehr und mehr die Laufkundschaft verlor. Längst hat sich Michael im hinteren Teil, dort wo einst die Pornos aufgereiht standen, Bett und Kabinendusche eingerichtet. Sein Leben schien endgültig zu stranden. Bis Alexander Landmann auftaucht.

Maxim Leo «Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse», Kiepenheuer & Witsch, 2022, 302 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-462-00084-9

Alexander Landmann ist Journalist. Und weil er ahnte, einer guten Geschichte auf der Spur zu sein, gefunden durch seine hartnäckige Suche in Stasiakten, denen man bisher nie Aufmerksamkeit schenkte, stand Landmann an der Theke des Moviestars und gab Hartung zu verstehen, er wäre Dreh- und Angelpunkt einer Heldengeschichte, die genau das richtige wäre im Nachrichtenmagazin, das sich auf die Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung formiert. In der Nacht zum 12. Juli 1983 passierte ein S-Bahnzug über eine Weiche die Grenze am Bahnhof Friedrichstrasse. 127 DDR-Bürger rumpelten völlig unverhofft in den Westen. In jener Nacht hatte Alexander Landmann Dienst, nach Stasiakten damals Stellvertretender Stellwerkmeister, nach Stasiakten Manipulator jener Weiche, nach Stasiakten danach verhört, eingesperrt und aller Wahrscheinlichkeit nach gefoltert. Klar, Michael war damals im Eisenbahndienst. Aber der besagte Weichenbolzen, der die 127 in die Freiheit führte, war mehr Missgeschick und in Michaels Vergangenheit eines von vielen Missgeschicken, für die er zu büssen hatte.

Mit einem Mal soll Michael Hartung ein Held sein. Landmann verspricht ihm alles Mögliche, nicht zuletzt das Ende aller Geldsorgen. Und tatsächlich. Angereichert durch Landmanns Schreibkunst, aufgeblasen mit der notwendigen Dramatik und einer ordentlichen Portion Pathos wird aus dem Loser ein Held der Nation, denn an Helden fehlt es im Land. Kaum abgedruckt bilden sich Trauben von Reportern, Journalisten und Neugieriger vor dem Moviestar. Selbst die Nachbarn werden plötzlich zu Freunden und die Tochter, zu der er den Kontakt abbrechen liess, meldet sich und ist gleichermassen stolz und verwundert, einen Papa zu haben, den sie bisher so ganz anders einschätzte. Michael Hartung steigt auf wie ein Phönix aus der Asche, obwohl er ahnt, dass auch diese Glückssträhne nicht von Dauer sein kann, denn der Bolzen damals war nur ein Missgeschick mehr, dass durch das Schönschreiben zu einer Heldentat wurde. Als Hartung an den Feierlichkeiten zur Wiedervereinigung im Bundestag eine Rede halten soll, als er genau spürt, dass er seiner neuen Liebe Paula und seiner Tochter Natalie reinen Wein einschenken muss, um beginnendes Glück nicht auf einem Lügenkonstrukt aufzubauen, fasst sich Hartung ein Herz.

„Der Held vom Bahnhof Friedrichstrasse“ beschreibt, was mit Geschichtsschreibung passiert. Was mit uns geschieht, wenn sich durch ein bisschen Verschiebung der Tatsachen das Blatt wenden lässt, wenn eine Bildkorrektur ein Leben vom Schatten ins Licht stellt. Der Roman offenbart, wie sehr wir Menschen nach Geschichten lechzen, die uns die Welt ganz einfach erklären. Und Heldinnen und Helden, am liebsten jene, die in aller Bescheidenheit im Stille wirken, bestätigen uns, dass das Gute siegt und das Gute immer dort zu finden ist, wo die Sieger stehen. Vielleicht überstürzen sich die Geschehnisse am Schluss des Buches allzu sehr. Als ob man ein Leben in einem einzigen Moment umkrempeln könnte. Aber Michael Hartung ist eben doch ein Held – zumindest im Buch.

Maxim Leo, 1970 in Ostberlin geboren, ist gelernter Chemielaborant, studierte Politikwissenschaften, wurde Journalist. Heute schreibt er gemeinsam mit Jochen Gutsch Bestseller über sprechende Männer und Alterspubertierende, ausserdem Drehbücher für den «Tatort». 2006 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Für sein autobiografisches Buch «Haltet euer Herz bereit» wurde er 2011 mit dem Europäischen Buchpreis ausgezeichnet. 2014 erschien sein Krimi «Waidmannstod», 2015 «Auentod». 2019 erschien sein autobiografisches Buch «Wo wir zu Hause sind», das zum Bestseller wurde. Maxim Leo lebt mit seiner Frau und zwei Kindern in Berlin.

Beitragsbild © Sven Görlich