Matthias Brandt «Blackbird», Kiepenheuer & Witsch

Motte ist 15 und irgendwo zwischen Kindheit und Erwachsenwerden hängen geblieben. Die Welt eines 15jährigen 1976 und Gleichaltriger heute unterscheidet sich wesentlich, wenn auch dieses Gefühl des Nirgends-Hingehören damals wie heute dasselbe ist. Matthias Brandt versteht es wie kein zweiter, ins Lebensgefühl einer «längst» vergangenen Zeit zurückzuschwimmen.

Blackbird singing in the dead of night
Take these broken wings and learn to fly
All your life
You were only waiting for this moment to arise
(Paul McCartney, Beatles, 1968)

Schule ist Nebensache, viel wichtiger das, was zwischen Schulzeit und Familienzeit passiert, erst recht, wenn fast nichts passiert. Morten, den sein Freund Bogi nur Motte nennt, weil seine Eltern sich trennen, sein Vater arbeitslos und mit der Neuen in die Pampas zieht und seine Mutter ihre Traurigkeit wie einen übergrossen Spiegel mit sich herumträgt. Und weil das, was zuhause passiert, ihn einfach nicht in Ruhe lassen will, ist zum einen da die Freundschaft zu Bogi und die Blicke des Mädchens, die ihn nicht mehr loslassen.

Bis das Telefon klingelt und Bogis Eltern ihm mitteilen, dass sein Freund im Spital sei, krank und wohl eine Weile nicht zur Schule kommen werde. Non-Hodgkin-Lymphom heisst das Ding, dass Bogi am Spitalbett festkrallt und unsägliches Schuldgefühl bei Motte, der sich nicht traut, Bogi wie einen Freund im Spital zu besuchen. Und wenn er es dann doch schafft, dann ist die Umarmung hölzern und nichts flammt auf, was zuvor Selbstverständlichkeit war. Wie gar nichts mehr selbstverständlich zu sein scheint, alles aus den gewohnten Bahnen zu kippen scheint. Noch mehr, als ihn das Mädchen versetzt, für das er Stunden des Wartens investiert hatte, die genau die Richtige schien. Noch mehr, weil er auch in der Schule zu verstehen beginnt, dass ihn das Leben um die Wirklichkeit betrügt, «alte Säcke» ihn und seine Schulkameraden schikanieren.

Aber Bogi kommt zurück, wenn auch nicht in die Schule. Sie treffen sich wieder, bei ihm zuhause, in Bogis Zimmer, hören Musik und quatschen. Morten wohnt mittlerweile in einem andern Stadtteil, von seiner Mutter «verschleppt», von Vater hängen gelassen. Aber es kommt noch viel dicker. Nachdem Motte und seine Kumpane Bogi noch einmal für ein Fussballspiel überreden, rufen ihn Bogis Eltern wieder an. Bogi ist erneut im Spital. Und als er ihn besucht, wird er Zeuge eines letzten Kampfes. Bogi stirbt.

Solch belastende Lektüre? Selten habe ich mich bei der Lektüre eines Buches derart amüsiert wie bei Matthias Brandts Roman. Mag die eigentliche Geschichte eine traurige sein, Matthias Brandt erzählt sie mit derart lockerem Witz und einer überragenden Empathie, dass man regelrecht eintaucht in ein Panoptikum schräger Figuren und Geschichten. Kein Wunder, wenn man sich irgendwann nachts betrunken auf einem Zehnmeterbrett zusammen mit Elvis wiederfindet und der einzige Weg hinunter der unmögliche Richtung Wasser sein kann, auch wenn da keine Flügel wachsen. «Blackbird» erzählt davon, wie wenig die Welt eines 15jährigen mit der von Erwachsenen zu tun hat, erst recht dann, wenn ihnen Haare aus den Ohren wachsen.

Matthias Brandt, geboren 1961 in Berlin, ist einer der bekanntesten deutschen Schauspieler. Für seine Leistungen ist er vielfach ausgezeichnet worden. Als Autor debütierte Matthias Brandt 2016 mit seinem hochgelobten Erzählband «Raumpatrouille».

Rezension zu «Raumpatrouille» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Arne Lesmann