Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, #SchweizerBuchpreis 21/8

Wer geht schon ohne Grund auf einen Polizeiposten. Auch der Mann in Thomas Duartes Roman „Was der Fall ist“ nicht, auch wenn er niemanden und auch nicht sich selbst anzeigen will. Aber manchmal werden Polizeiposten auch zu Beichtstühlen – in Ermangelung einer Alternative. Thomas Duartes Roman ist ein kafkaesker Stich in die Tiefen menschlichen Seins.

Eigentlich ist es seine Stadt, sein Sommer, seine Nacht. Aber das was er tut, ist mitten in der Nacht nicht einfach ein Spaziergang, um Klarheit und etwas Abstand in sein Leben zu bringen. Es regnet, er ist nass bis auf die Haut. Scheinbar rein zufällig kommt er an einem Polizeiposten vorbei, von dem er gar nicht wusste, dass es ihn in seiner Stadt gibt. Und weil er klitschnass ist, durstig und ein Gegenüber braucht, geht er durch die beiden Glastüren zum einzigen Polizisten an einem fast leeren Schreibtisch, der Nachtwache im Posten hält. 

Beide brauchen sie ein Gegenüber, der nasse Mann, um Ordnung in ein Leben zu bringen, das aus den Fugen geraten ist und der Polizist, weil ihm eine Aufgabe in einer sonst ereignislosen Nacht gegeben ist. Der nasse Mann ist vertrieben worden. Vertrieben von seinem eigentlichen Zuhause, seiner Aufgabe, seiner Arbeit, von seiner Chefin, von Franz und Mira, der Frau, die längst viel mehr ist als nur die Putzfrau, die einmal wöchentlich bei ihm im Büro sauber macht. Denn er arbeitet nicht nur in seinem Büro. Er lebt dort. Tagsüber an seinem Schreibtisch, seiner Aufgabe, nachts in dem kleinen, fensterlosen Kabuff hinter seinem Schreibtisch, in dem eine schmale Pritsche steht. Er ist Buchhalter und „Exekutivperson“ in einer Stiftung, die finanzielle Unterstützung an Gesuchsteller auf der ganzen Welt gewährt, die in Notlage geraten sind, an Leute, die auf der Flucht sind, gezwungen werden, für einen Hungerlohn Drecksarbeit zu verrichten, für Menschen, die sich für ihr Recht zur Wehr setzen wollen. Er nimmt Gesuche entgegen, bearbeitet sie, nimmt Kontakt mit Gewährsleuten auf und legt die Gesuche seiner Chefin und Franz, dem Inhaber der Stiftung, vor. Franz residiert einige Etagen weiter oben in seinem vermüllten und zugestellten Büro. Auch er lebt mehr als er dort arbeitet und schreibt an seinem „Buch über den Zustand der Welt“. Franz ist der Mann mit dem nötigen Kapital, Geld, das nicht nach den Regeln von Rendite und Investition eingesetzt werden soll.

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, 2021, 301 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-016-5

Aber nach der ordentlichen Jahresversammlung des Stiftungsrates hat man dem Buchhalter das Vertrauen entzogen, ihn seines Postens, seines Lebens entzogen, aus seiner ganz engen Welt katapultiert, die er immer mehr nach seiner Fasson zurechtgeschrieben hatte, denn so gefärbt die Wahrnehmung eines jeden Gesuchsstellers (inkl.*) ist, so sehr gab er den Gesuchen bei seiner Endformulierung eine Färbung. Und weil Mira, die Putzfrau, immer mehr zu einer Gefährtin wurde, die im Kabuff hinter dem Büro die schmale Bettstatt mit ihm und gegenseitiger Leidenschaft teilte, weil später noch ein weiterer Ayslsuchender dazukam, weil Bilanzen ganz offensichtlich nicht mehr zum Stimmen gebracht werden konnten, endete die sonst zur Routine gewordene Jahresversammlung im Desaster, auch deshalb, weil selbst Reihen von säuberlich aufgereihten Ordnern das Chaos nicht mehr verbergen konnten.

Zwei Männer eine ganze Nacht lang auf einem Polizeiposten. Der eine erzählt, der andere tippt mehr oder weniger sein Protokoll in den Rechner auf dem sonst blanken Tisch. Der Roman switcht vom Erzählen auf dem Polizeiposten und dem Gespräch zwischen dem Buchhalter und Franz, seinem Chef. Sie färben beide ihre Wahrheit, der eine in seinen Berichten, seinen bearbeiteten Gesuchen, der andere in seinem Lebensprojekt, seinem „Buch über den Zustand der Welt“.

Wer bei seinem Lesestoff den Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“ braucht, ist mit diesem Buch schlecht bedient. „Was der Fall ist“ ist auch weder Krimi noch Enthüllungsgeschichte. Thomas Duarte taucht in eine skurrile Welt, die sich wie die Stiftung selbst nicht an geltende Regeln hält. Das ist äusserst erfrischend, aber auch gleichermassen verunsichernd. Aber weil Thomas Duarte sein Erzählen so selbstverständlich und gekonnt präsentiert, weil sich der Humor des Erzählers nicht an Pointen orientiert, sondern in allem Duartes spezieller Sound unterlegt ist, weil „Was der Fall ist“ nicht zuletzt eine gesellschaftliche Kritik an der Unsinnigkeit geltender Regeln ist, wird dieser Roman zu einem echten Leseabenteuer!

Fazit: Man muss schon eine gehörige Portion Mut besitzen, um sich von den gewohnten Lesepfaden entfernen zu wollen, will man die Qualitäten dieses Debüts erkennen. Aber weil ihn der Charta des Preises steht: um …“herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen…“, gebe ich der Perle wenig Chancen, weil die breite „Öffentlichkeit“ solche Bücher gar nicht will.

«… Unaufgeregt und mit feiner Ironie entlarvt Thomas Duartes Text Gemeinplätze und bringt vorgefasste Sichtweisen ins Wanken. Dabei reflektiert er nicht nur das Erzählen und Rezipieren von Geschichten, er porträtiert auch mit frohgemuter Verzweiflung die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft…»
(Zitat aus der Jurybedründung zum Studer/Ganz-Preis 2020)

Thomas Duarte, geboren 1967, aufgewachsen bei Basel. Er studierte Geschichte und Philosophie und arbeitete nach Aufgabe des Studiums zuerst als Tramchauffeur, dann als kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter. Später Studium der Kulturwissenschaften und der Literaturwissenschaft. «Was der Fall ist» wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet. Thomas Duarte lebt in Bern.

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5 Bücher, 5 Namen #SchweizerBuchpreis 21/1

Verfolgen sie das Rennen um den Schweizer Buchpreis? Beeinflusst dieses Rennen ihr «Literatur-Konsumverhalten»? Lesen sie eines oder mehrere der Bücher, die im Rennen sind? Alleweil gut ist der Preis für Überraschungen. Und immer wieder ist die Hoffnung da, dass sich all die Zwänge der Gegenwart nicht in die Auswahl einmischen?

Bis zur Verleihung des Schweizer Buchpreises in Basel am 7. November 2021 mische ich mich immer wieder in die Frage «Welches Buch muss es sein?». In der Menüleiste links finden sie einen Link, der Sie direkt zu den entsprechenden Artikeln führt!

Sie kennen Christian Kracht nicht? Er war schon einmal Träger des Schweizer Buchpreises und ist mit jedem seiner Bücher im Gespräch, sei es unter Rezensent:innen, Feuilletonist:innen oder engagierten Leser:innen. Ein Mann, der einem förmlich zur Auseinandersetzung zwingt. Dass er das auch mit seinem neuen Roman «Eurotrash», ja sogar mit dem Titel alleine schafft, lässt einem staunen. Für die einen ist Christian Kracht eine Lichtgestalt im helvetischen Literaturhimmel, auch wenn an ihm und seinem Schreiben so gar nichts Helvetisches ist. Wäre Christian Kracht nicht für den Schweizer Buchpreis nominiert, hätte ich sein Buch wohl nicht gelesen. Denn eines braucht sein Buch mit Sicherheit nicht: meinen Senf.
(Christian Kracht «Eurotrash», Kiepenheuer & Witsch)

Schon ein bisschen anders verhält es sich mit Martina Clavadetscher und Michael Hugentobler Schon alleine deshalb, weil beide schon meine Gäste waren, sei es in einer moderierten Lesung oder bei «Literatur am Tisch», einer ganz intimen Veranstaltung. 
Martina Clavadetschers erster Roman «Knochenlieder», mit dem sie schon einmal für den Schweizer Buchpreis nominiert wurde, schlug bei mir ein wie eine Bombe. Nicht weil die Geschichte in einer möglichen Zukunft spielt, nicht weil ich gerne Dystopien lese, sondern weil Martina Clavadetscher schon damals formal ein Experiment wagte. Ihre Romane sind schon alleine visuell anders, mäandern zwischen Prosa, Theater und Lyrik, versuchen eigene Wege zu gehen. Ihr neuester Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» verfeinert das, was die Schriftstellerin schon im Roman davor begonnen hat. Ihr Roman ist ein vielstimmiges und vielschichtiges Epos, wieder in einer nicht allzu fernen Zukunft.
(Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag)

Michael Hugentobler ist ein Reisender. Dass er, der nun sesshaft geworden ist und Familie hat, 13 Jahre auf Reisen war, das spürt man seinem Schreiben an. Wahrscheinlich ist sein Reservoir an Bildern und Geschichten unerschöpflich, was seinen Lesern nur recht sein kann, denn Michael Hugentobler macht Türen auf. Als Reisender nach Innen und nach Aussen, nach unzähligen Reportagen für namhafte Magazine nimmt mich Michael Hugentobler mit auf eine Reise nach Südamerika, spürt einem Indianerstamm nach, von dem nur ein Buch mit Wörtern übrig geblieben ist. Schon sein erster Roman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» riss mich mit ins 19. Jahrhundert, zuerst ins Wallis, dann zu den Aborigines in Australien und am Ende zum Finale nach London. Dorthin, wo auch sein zweiter, nun nominierter Roman «Feuerland» seinen Ursprung hat. Bilderstarke Literatur!
(Micheal Hugentobler «Feuerland», dtv)

Überraschend, zumindest für mich, sind die Nominierten Veronika Sutter und Thomas Duarte. Veronika Sutter erschien bisher gar nicht auf meinem Schirm (was nichts heissen soll) und von Thomas Duarte hörte ich nur, weil sein literarisches Debüt 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet würde (was noch kein Grund gewesen war, das Buch zu besorgen). Da sind also ganz offensichtlich Versäumnisse meinerseits nachzuholen.
Veronika Sutters Erzählband «Grösser als du» zeichnet Menschen, «die mit einem Geheimnis leben, weil Scham oder Verleugnung sie daran hindern, über das zu sprechen, was hinter ihren Wohnungstüren passiert. Ohne es zu wissen, teilen sie die Erfahrung von Abhängigkeit, Gewalt und Unterdrückung. Sie stehen aber auch in Beziehung zueinander, ob als (Ex)Partner, Freundinnen, Nachbarn oder Verwandte. Sie biegen sich ihre Realität zurecht, um ihr Verhalten zu rechtfertigen, sei es despotisch, übergriffig oder duldsam.»
Veronika Sutter «Grösser als du», edition 8)

Und von Thomas Duarte’s Debüt «Was der Fall ist» heisst es: «Ein Mann erscheint mitten in der Nacht auf einem Polizeiposten und erzählt, wie sein bislang eintöniges Leben aus den Fugen geraten ist. Jahrzehntelang hat er für einen wohltätigen Verein gearbeitet, jetzt wird er plötzlich wegen Unregelmässigkeiten bei der Geldvergabe verdächtigt. Und nicht nur das: Im Hinterzimmer seines Büros, in dem er zeitweise selbst hauste, lässt er neuerdings die illegal arbeitende Putzfrau Mira wohnen. In seinem wahnwitzigen Bericht, dessen Charme und Menschlichkeit aber selbst den Polizisten nicht kaltlassen, entsteht das Portrait eines modernen Antihelden, der einen überraschend fröhlichen Nihilismus zum Besten gibt.»
(Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos)

Spannend! Ich freue mich auf die Lektüre. Spannend, weil die fünf Finalist:innen unterschiedlicher nicht sein könnten; ein Schwergewicht, zwei Perlen und zwei Debüts! Vielleicht auch ein ungleicher «Kampf».

Illustrationen © leafrei.com