Karen Köhler «Miroloi», Hanser

Literatur ist der Schauplatz der Fantasie. Deshalb darf Literatur alles, es muss nur gut aufs Papier gebracht sein. Sprache selbst ist die Stimme. Selbst die Stimme darf in seiner Klangfarbe eine ganz eigene sein. Und wenn Idee, Geschichte und Sprache wie in Karen Köhlers erstem Roman «Miroloi» eine so ganz eigene Färbung haben, sich so sehr von allem anderen abheben, mich in eine Welt begleiten, die mich in ihren archaischen Bildern an Traumlandschaften erinnert, dann beginnt Faszination!

Miroloi (vom griechischen μοιρολόι oder μοιρολό(γ)ι) ist ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied in der griechisch-orthodoxen Tradition. «Miroloi» ist ein Roman in 128 Strophen, gesungen von einer jungen Frau ohne Namen, ohne Geschichte, ohne Zukunft. Sie lebt im Haus des Bethaus-Vaters, der sie als kleines Mädchen in einer Schachtel in Zeitungen gebettet fand und zu sich nahm. Sie erzählt von sich, dem Haus, dem einen Dorf am Hang auf der Insel, dem Meer, dem kleinen Hafen, an dem nur selten ein Schiff anlegt und jene Dinge bringt, die das Dorf und die Insel verweigern, den Klageweibern in der Kurve, dem einzigen Lokal, in dem man sie hasst, von den Kindern, die hinter ihr herrennen und «Eselstute, Nachgeburt der Hölle!» nachrufen, spucken und schlagen.

«Miroloi» ist ein wunderschön gestaltetes Buch mit einer ganz neuen Art eines Schutzumschlages. So werden Bücher aussen und innen zu Kostbarkeiten!

Sie ist nicht aus dem Dorf. Sie ist von drüben. Ohne Namen, ohne Recht. Schuld immer dann, wenn im Dorf ein Unglück geschieht. Man hasst und fürchtet sie, obwohl sie hilft und alles tut, um sich in Dorf einzufügen. Wäre der Bethaus-Vater, der im Dorf das Gesetzbuch hütet, den Tag in Zeit einteilt und als einziger viel mehr zu wissen scheint als alle andern, nicht ihr Beschützer, wäre die alte Mariah nicht, der sie zur Hand geht, die ihr das gibt, was einst mit ihr in der Schachtel lag; ein in Leder gebundenes Buch, Hefte, eine Feder, Stift und Tinte und sie in Geheimnisse einweiht, die sie zu einer Verbündeten machen, wäre die junge Frau verloren, Freiwild, Beutetier, Zielscheibe.

„Miroloi“ ist aus der Sicht der jungen Frau erzählt, der man nicht nur ein Leben in der Gemeinschaft vorenthält, sondern auch all das, was über dem grossen Meer geschieht, was von Flugzeugen mit weissen Streifen an den Himmel gezeichnet wird, was mit dem Schiff immer wieder vom Händler und vom Arzt vom Festland auf die Insel gebracht wird. Die Dorfgemeinschaft auf der Insel ist Metapher für all die abgeschotteten, in sich geschlossenen Systeme, seien sie politisch, gesellschaftlich oder religiös. Man verschliesst sich der Welt, weil man sich schützen will, weil das Böse ausserhalb geortet wird und man Veränderungen für etwas grundsätzlich Bedrohendes hält.

Karen Köhlers Schreibort

Die Dorfgemeinschaft aber bröckelt an vielen Stellen: Ein Hubschrauber kreist eines Tages über den Häusern und bringt mehr als nur den Staub auf den Strassen zum Wirbeln. Ein Beamter mit Ledermappe und Mantel besucht die Insel und verspricht, nun endlich den Fortschritt in Form von Strom auf die Insel zu bringen. Und der Händler, der mit dem Schiff jene Dinge bringt, die auf der Insel fehlen, erzählt von Maschinen, die Wäsche waschen, Brote backen. Das patriarchalisch eingerichtete System wird von jenen Frauen in Frage gestellt, die mehr oder weniger laut nach dem rufen, was ihr Leben aus Arbeiten und Pflichten erleichtern würde. Es kocht auf der Insel, als würde eine Magmakammer voller Emotionen unter dem Dorf die Insel zum Zittern bringen.

Und zwischen all den kleinen und grossen Geschichten die der jungen Frau, die ihren Makel nicht nur als steifes Bein mit sich herumzieht. Als Aussenseiterin, die überall dort arbeiten muss, wo Hilfe gebraucht wird, sieht sie in die Leben vieler. Weil sie die Ziehtochter des alten Priesters, des Bethaus-Vaters ist, bleiben Geheimnisse nicht verborgen, das, was die Männer und Frauen an einen Wunschbaum hängen. Und als Yael auftaucht, ein Bethaus-Schüler, einer, der hinter Mauern hätte verborgen bleiben müssen, genauso wie die Gefühle, die über die beiden hereinbrechen, als der Bethaus-Vater stirbt und die alte Ordnung im Dorf auseinanderbricht und Katastrophen unabwendbar werden, wird aus dem Mädchen, das von Yael endlich einen Namen erhält, eine Rebellin.

„Miroloi“ ist wie ein Theater, überzeichnet, entrückt, aus der Zeit gefallen. Das Geschehen hängen geblieben zwischen Realität und Fantasie, auf einer Insel eben. Aber genau das muss Karen Köhler interessiert haben: Was geschieht in geschlossenen Systemen, die sich der Realität entgegenstellen? „Miroloi“ entwickelt einen ungeheuren Sog, auch wenn die holzschnittartigen Figurenzeichnungen fast wie Karikaturen wirken. Doch das Buch ist voller Wirklichkeit, voller Realitätsbezüge, stellt Fragen, peitscht auf.

© Julia Klug

Karen Köhler hat Schauspiel studiert und zwölf Jahre am Theater in ihrem Beruf gearbeitet. Heute lebt sie auf St. Pauli, schreibt Theaterstücke, Drehbücher und Prosa. Ihre Theaterstücke stehen bei zahlreichen Bühnen auf dem Spielplan. 2014 erschien ihr viel beachteter Erzählungsband «Wir haben Raketen geangelt». 2017 erhielt sie für ihren Roman «Miroloi» ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, 2018 das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds.

Webseite der Autorin

Themenseite des Verlags zum Buch 

Ocean Vuong «Auf Erden sind wir kurz grandios» Hanser, Gastbeitrag von Karsten Redmann

Eine grössere Vision aus kleinen Dingen

Dieses Buch ist ein sprachliches Kunstwerk. In einer unverbrauchten, genauen Sprache arbeitet sich hier ein Autor an den Gewalten und Zumutungen der Welt ab. Als Briefroman konzipiert, richtet sich der Text an eine Mutter die Analphabetin ist und den langen Brief des Sohnes wohl nie lesen wird. Bereits im zweiten Satz des Romans heisst es: «Ma, ich schreibe, um dich zu erreichen – auch wenn jedes Wort auf dem Papier ein Wort weiter weg ist von dort, wo du bist.»
Der angeschlagene Tonfall ist direkt und trifft den Leser/die Leserin ungeschützt. Emotional aufgeladene Szenen voller Rauheit und Brutalität lösen Szenen voller Schönheit und Zartheit ab. Eine Dringlichkeit, ja Notwendigkeit, ist diesem Buch eigen – sie verstört und reisst mit. Erzählt wird sequentiell, bruchstückhaft – ganz im Sinne des Autors: «Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack – die Teile dahintreibend, endlich lesbar.»

Nach der Lektüre von Roland Barthes› «Tagebuch der Trauer» und dem darin stehenden Satz «Ich habe den Körper meiner kranken, dann sterbenden Mutter gekannt», beschliesst der Autor den Brief an die Mutter zu schreiben.
1988 in Saigon geboren, zog Ocean Vuong, vor seinem Romandebüt eher bekannt für seine lyrischen Arbeiten, mit zwei Jahren in die Vereinigten Staaten, in ein Land, das ihn, neben den heiklen Familienverhältnissen in denen er aufwuchs, in vielerlei Hinsicht prägte. Stoff genug für einen gesellschaftskritischen, die Verhältnisse anprangernden Roman mit einer unglaublichen Sogwirkung.
Warum nun aber dieser Text? Diese spezifische Form? Was treibt den Autor an? Ist es Selbstbehauptung? Selbstermächtigung?

Bei der Lektüre spürt man die immense Kraft die von Vuongs Worten ausgeht. Da ist eine Präzision und Tiefe, die beeindruckt. Hier legt einer Schichten frei, Schichten von Gewalt und Krieg und Zurichtung, aber auch von Freiheit und Sehnsucht und Liebe. Insofern ist es wohl eher einen Art Selbsterkundung: Ein Bohren in den Schichten aus denen Welt besteht, Welten bestehen. Es gilt hier vieles freizulegen, Ocean Vuong ist ein wahrer Meister darin. Dabei geht er ganz nah ran, man ist mittendrin, als wäre man Zeuge. In einer beeindruckenden Szene beschreibt er, bzw. sein Alter Ego Little Dog, eine erste Erinnerung an seine Eltern und dass er, Little Dog, erst dachte, dass Mutter und Vater in der Küche nur tanzen würden, sich aber bald herausstellte, dass der Vater die Mutter halb tot prügelte. Man liest Vuongs konzentrierte Prosaszenen mit hoher Anteilnahme, betrachtet die Welt mit den Augen des Kindes, sieht den handgreiflichen Vater direkt vor sich, die Wut in diesem Männerkörper eingeschrieben, verfolgt genau, Schritt für Schritt, wie er von der Polizei abgeführt wird, weil sie seinen blutverschmierten zwanzig Dollarschein nicht annehmen wollen. Diese Polizisten sind zumindest unbestechlich. Immerhin. Auf Abstand kann man hier kaum gehen. Dafür ist zu wenig Raum. Es trifft einen, direkt und hart.

Neben der Gewalt die von Männern ausgeht, sei es im Krieg oder als überforderte Väter, die trunksüchtig und ohne Arbeit ihr Leben im amerikanischen Nirgendwo fristen, spielt die Gewaltbereitschaft und Unzulänglichkeit der eigenen Mutter eine zentrale Rolle im Roman. Nach schmerzlichen Szenen häuslicher Gewaltausbrüche – die Mutter prügelt immer wieder auf den Jungen ein, in der Wohnung, auf der Strasse, die Angst des Jungen übergross, der nicht mehr weiter weiss, und irgendwann auch wegrennt – endet die Gewalt mit seinem Aufbegehren gegen die Mutter und einem Ende der Schläge nach dreizehn langen Jahren. Was bleibt ist eine Mutter, die nicht mehr schlägt, aber Geschlagene bleibt. Als Zugewanderte und Analphabetin steht sie am Rande der Gesellschaft, arbeitet weiterhin bis zur Erschöpfung in Fabriken und Nagelstudios, und kennt nur dieses eine Leben – ein Leben bestehend aus Arbeit und Schlaf. Diese (zugerichtete) Mutter, so schreibt der Autor, ist damit «Zuflucht und Warnung» zugleich. Wie liebevoll, aber auch hilflos diese Mutter sein kann, zeigt Vuong in einer längeren Sequenz; hierbei schildert er den Unfalltod eines geliebten Cousins und das vermeintliche Wiedererkennen dieses Cousins in der New Yorker Subway. Eine Panikattacke befällt Little Dog und er beschliesst umgehend seine Mutter anzurufen. Zuerst sagt sie kein Wort, dann beginnt sie die Melodie von «Happy Birthday» zu summen, des einzigen englischen Liedes, das sie kennt. «Und ich lauschte, das Telefon so fest an mein Ohr gepresst, dass noch Stunden später ein rosa Rechteck in meine Wange geprägt war.»

Neben dem ambivalenten Verhältnis zu seiner Mutter, schildert Vuong, ausführlich und mit grosser Empathie, die Beziehung zu drei weiteren, ihm wichtigen Menschen: Zum einen ist da die Grossmutter Lan, die mit ihm und seiner Mutter in einer viel zu kleinen Wohnung in einem ärmeren Viertel der Stadt (Hartford) wohnt und deren Tod er ebenfalls schreibend im letzten Drittel des Buches zu bewältigen versucht. Sie war es, die ihm Geschichten erzählte. Er war es, der ihr die grauen Haare mit einer Pinzette auszupfte. «Der Schnee in meinem Haar (…) mein Kopf juckt davon. Bist du so gut und zupfst mir die juckenden Haare aus, Little Dog? Der Schnee schlägt Wurzeln in mir.» Die zweite Bezugsperson: Paul, sein Grossvater, ein amerikanischer Soldat, der in Vietnam im Einsatz war, bei dem sich letztlich herausstellt, dass er nicht der leibliche Vater seiner Mutter Rose ist. Dennoch bleibt er für Little Dog der Grossvater, schliesslich hat er nur den einen. Dritte wichtige Person ist Trevor, ein Durchschnittsamerikaner, Sohn eines abgehalfterten Trinkers, zwei Jahre älter als Little Dog und bald nicht nur wichtigster Freund und Begleiter sondern auch über alle Massen Geliebter. Als Vierzehnjähriger lernt Little Dog ihn bei der Arbeit auf einer Tabakplantage kennen. Als Trevor, nach jahrelangem Drogenkonsum, mit zweiundzwanzig Jahren einsam und verlassen in seinem Zimmer stirbt, fühlt sich Little Dog schuldig, hat er ihn doch allein gelassen in all seiner Kaputtheit, Versehrtheit, Verzweiflung. Trevor, unschuldig süchtig geworden – als Jugendlicher verschrieb man ihm wegen eines Knochenbruchs Schmerzmittel (Oxycontin) mit hohem Suchtpotenzial – hat es, wie viele Andere in den USA (Vuong: «Die Wahrheit ist eine Nation unter Drogen…») nicht geschafft zu überleben, und ist damit ein weiteres Opfer der Verhältnisse in einem Land, wo die Chancen auf Glück so ungleich verteilt sind und die Armut so gross.

Ocean Vuong übt harsche Kritik an den sozialen Verhältnissen in den USA. In seinem Roman leuchtet diese Kritik immer wieder hell auf. Er weiss, aus nächster Nähe, wovon er spricht. Viele seiner Freunde sind jung gestorben. Vier an einer Überdosis. Trevor war also keine Ausnahme. Nicht zuletzt geht es Vuong in seinem brillanten Text um den Krieg und das was der Krieg mit Menschen anstellt, welche Traumata zurückbleiben und Menschenleben prägen. Gewalt gebiert Gewalt. Vuong blickt zurück, zurück in eine weit entfernte Vergangenheit, seine eigene Familiengeschichte, den Krieg in Vietnam.

Was die Besonderheit der Sprache angeht: Auf nahezu jeder Buchseite finden sich Formulierungen, die einem deutlich machen, wie beweglich die Sprache Vuongs sein kann, wie nah er den Dingen kommt durch seine gedrechselten Sätze. An dieser Stelle zwei Beispiele für die Kunstfertigkeit dieser Prosa. Bei der Tabakernte heisst es da: «…das Geräusch ihrer Klingen wurde lauter und lauter, bis man sie beim Schneiden keuchen hörte, während die Stiele hellgrün um ihre gebeugten Rücken herabspritzten. Man meinte das Wasser im Innern der Stängel zu hören, wenn der Stahl die Membranen aufbrach, und die Erde färbte sich dunkel, wo die Pflanzen ausbluteten.» Oder wie hier, auf einem Feld, nachdem der Protagonist ein Geräusch (wahrscheinlich ein Tier) gehört hat und diesem nachgeht: «Das Heulen kommt wieder, der Klang tief und hohl, als hätte er Wände, etwas, in dem man sich verstecken kann. Es muss verwundet sein. Nur etwas, das Schmerzen leidet, kann einen Ton hervorbringen, in den man eintreten kann.»

So sehr diese Sprache trägt und so überzeugend die Figurenführung, eine kleine Kritik an diesem Roman soll nicht unerwähnt bleiben. So ist es aus ästhetischen Gründen durchaus nachvollziehbar, dass der Autor seiner Mutter seine elegante Sprache angedeihen lässt, glaubwürdig ist die Figur dadurch bei weitem nicht: «Das Vietnamesisch, das ich spreche, habe ich von dir, eines, dessen Diktion und Syntax nur das Niveau der zweiten Klasse erreichen.» Es ist ein wenig ärgerlich, dass sich hier ein Widerspruch offen zeigt. Doch es bleibt dem Leser/der Leserin überlassen, das zu bewerten.

Alles in allem sticht das Buch aufgrund seiner Klasse und Eigenständigkeit aus der Vielzahl von Neuerscheinungen heraus. Da ist jemand ein Wagnis eingegangen. Für die Kunst. So viel steht fest. Und dafür gebührt Ocean Vuong mehr als Respekt. Dass hier ein Debüt vorliegt, würde man nicht meinen. Ein feines, ein kluges Buch.

Text: Karsten Redmann

Ocean Vuong wurde 1988 in Saigon, Vietnam, geboren und zog im Alter von zwei Jahren nach Amerika, wo er heute lebt. Für seine Lyrik wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt u.a. mit dem Whiting Award for Poetry (2016) und dem T.S. Eliot Prize (2017). «Auf Erden sind wir kurz grandios» (Hanser 2019) ist sein erster Roman.

Übersetzt von Anne-Kristin Mittag

Interview mit Rolf Lappert, dem ersten Schweizer Buchpreisträger #SchweizerBuchpreis19/2

Der erste Jahrgang bei den Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2008 war ein aussergewöhnlich starker Jahrgang mit klingenden Namen, faszinierenden Büchern und einer frischen Stimme mit einem Erstling: Anja Jardine mit «Als der Mond vom Himmel fiel», Adolf Muschg «Kinderhochzeit», Peter Stamm «Wir fliegen», Lukas Bärfuss «Hundert Tage» und Rolf Lappert mit «Nach Hause schwimmen».

© Lea Frei

Damals hiess der erste Gewinner Rolf Lappert. Sein preisgekrönter Roman erzählt die Geschichte von Wilbur. «Wilbur ist kein Glückskind. Ohne Eltern bei der Grossmutter aufgewachsen, die verstirbt und mit einem besten Freund, der in einer Erziehungsanstalt lebt, bleibt Wilbur ein Verlierer. Erst die charmante Aimee bringt ihm etwas anderes bei. Wilbur muss endlich lernen zu leben – ob er will oder nicht.»

Seit sich der Preisträger 2016 mit seinem Roman «Über den Winter» für eine Wohnzimmerlesung in Amriswil gewinnen liess, verbindet uns mehr als Literatur.

Ein Interview:

Rolf Lappert, sie waren mit dem Roman »Nach Hause schwimmen« der erste Träger des Schweizer Buchpreises. Was hat dieser Preis mit Ihnen und Ihrem Schreiben gemacht? Wäre Rolf Lappert heute an einem anderen »Ort«, wenn er den Preis damals nicht erhalten hätte?

Preise dieser Art sind, abgesehen von der Wertschätzung, die Autorin/Autor und Buch erfahren, vor allem eines: Werbung. Und zwar sehr effektive Werbung. »Nach Hause schwimmen« stand kurz nach der Preisvergabe auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste; das hätte das Buch vermutlich ohne den Preis nicht geschafft. Neben der Anerkennung und dem Preisgeld ist es also vor allem die öffentliche Wahrnehmung, die der Preis mit sich bringt. 

Mich als Autor hat der Preis nicht verändert. Er hat mir Selbstbewusstsein beschert, das natürlich, aber er hatte nicht den Effekt, dass ich mich ab sofort auf das Schreiben von Romanen spezialisierte, die möglichst ähnlich wie »Nach Hause schwimmen« sind. Der Roman »Auf den Inseln des letzten Lichts« war dann auch etwas ganz anderes, nämlich eine Art Mischung aus Familien- und Abenteuerroman mit Schauplätzen in Irland und auf den Philippinen. Dann kam das Jugendbuch »Pampa Blues« und 2015 der Roman »Über den Winter«, der erneut die Erwartungshaltungen der Leserschaft unterlief. Am ehesten in die sprachlich-stilistische Nähe von »Nach Hause schwimmen« kommt wahrscheinlich mein in Arbeit befindlicher Roman, in dem ich wieder mit vielen Figuren, Schauplätzen und Handlungssträngen jongliere und eine fast schon epische Geschichte erzähle. Auf jeden Fall wird dieser Roman mein bisher umfangreichster.

Damals wie heute erhält der Preisträger neben Blumen, netten Worten, Komplimenten, viel Aufmerksamkeit in den Medien, zumindest für eine gewisse Zeit, 30000 Franken. Das ist für die einen sehr viel Geld, für andere ein nettes Zubrot. Was ermöglicht ein solcher Preis, eine solche Summe im Leben eines Schriftstellers?

Dreissigtausend Franken sind natürlich mehr als ein nettes Zubrot, jedenfalls für mich. Man muss aber auch die Tatsache erwähnen, dass davon ca. zehntausend Franken an Steuern entfallen. Ein halbes Jahr lässt sich mit der Summe jedoch schon leben, im Sparmodus auch etwas länger.

Die Verlage reichen die Bücher oder Manuskripte an die Jury des Buchpreises ein. Ganz bestimmt in Rücksprache mit Autorin oder Autor. Wenn man aber wie Sie dann eines Tages die Mitteilung erhält, dass man in der Runde der fünf letzten ist, in der ominösen Shortlist, was geschieht dann mit einem Auserwählten?

Man freut sich selbstverständlich. Mehr löste die Nachricht bei mir nicht aus. Man überlegt sich natürlich, ob man Chancen auf den Gewinn des Preises hat, aber das ist reine Zeitverschwendung, denn in die Köpfe der Jurys zu blicken, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich hatte mit Lukas Bärfuss und seinem Roman »Hundert Tage« veritable Konkurrenz und bin ohne allzu grosse Erwartungen nach Basel zur Preisverleihungsfeier gefahren.

Kein anderer Literaturpreis in der Schweiz geniesst derart viel mediale Aufmerksamkeit. Das war und ist Absicht. Aus genau diesem Grund wurde der Preis initiiert. Eigentlich genau das Gegenteil davon, was das Leben eines Schriftstellers sonst dominiert. Klar gab es in der Vergangenheit Schreibende, die mit ihrer Unnahbarkeit kokettierten. Aber heute scheint es immer wichtiger zu sein, sich auf das Spiel mit den Medien einzulassen, zumal der Berufsstand in vieler Augen noch immer moralische Instanz ist. Tun Sie sich schwer damit?

Ich engagiere mich privat politisch, in meinen Büchern jedoch kaum. Es gibt viele politisch schreibende Autorinnen und Autoren, die können das besser als ich. Ich sehe mich als Geschichtenerzähler – wenn in einem meiner Bücher eine politische Komponente auftaucht: gut, aber Botschaften sucht man darin vergeblich, Haltungen vielleicht schon eher.

Dass man mit den Medien umgehen und ich ein Stück weit mitspielen muss, ist eine Begleiterscheinung in unserem Beruf, und solange man die richtige Balance zwischen Selbstvermarktung und Privatsphärenwahrung findet, ist das alles gut auszuhalten.    

Traditionell sitzen alle Nominierten bei der alljährlichen Preisverleihung im Theater Basel anlässlich der BuchBasel in der ersten Reihe nebeneinander. Liest man die Bücher seiner KontrahentInnen? Gibt es eine »Gruppendynamik«, die mit der Verkündung des Preises augenblicklich verpufft?

Ich lese einiges an zeitgenössischer Literatur, natürlich auch an deutschsprachiger. Einige der Bücher meiner jeweiligen Mitnominierten lese ich, aber nicht alle. Sollte ich mit einem Roman nochmals auf eine Shortlist kommen, werde ich den Veranstaltern vorschlagen, dass alle Endrundenteilnehmerinnen und -teilnehmer die Bücher ihrer Kolleginnen und Kollegen erhalten, damit sie wissen, was die »Konkurrenz« geschrieben hat.

Eine gewisse Gruppendynamik entsteht durchaus, aber die Zeit, die man gemeinsam verbringt, ist so beschränkt, dass zwischenmenschlich kaum mehr passiert als z. B. während eines Literaturfestivals, bei dem man sich trifft und austauscht. Die meisten Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die ich kenne, sind dem Wesen nach Einzelgängerinnen und Einzelgänger – enge Freundschaften und regelmässige Kontakte sind da eher selten. Diese Frage kann ich aber nur für mich beantworten; vielleicht ist meine Einschätzung auch unzutreffend. Bei mir ist es so, dass ich mit etwa mit einem halben Dutzend Kolleginnen und Kollegen in stetigem Kontakt stehe, wobei unter »stetigem Kontakt« gelegentliche Treffen, Telefonate und E-Mail-Austausch zu verstehen ist. Letztendlich ist es ein einsamer Job, denn am Schreibtisch ist man auf sich alleine gestellt.

Einst lernten Sie Grafiker, in einer Zeit, in der man für diese Arbeit noch Stifte in die Hand nahm und Papier brauchte. Mischt sich der Grafiker heute noch in Ihre Arbeit ein, ist das Buch doch für viele ein Relikt längst vergangener Zeit?

Ein schön gemachtes Buch in den Händen zu halten, ist für mich immer ein wunderbar sinnliches Erlebnis, das durch nichts zu ersetzen ist, ganz bestimmt nicht durch einen e-reader. Zugegeben, diese elektronischen Geräte sind praktisch und in manchen Situationen einem Buch oder Papierstapel vorzuziehen, aber es geht nichts über das Gefühl, ein gebundenes Buch vor sich zu haben, darin zu blättern und es nach der Lektüre in seiner Bibliothek zu wissen.

2018 erhielt Peter Stamm den Schweizer Buchpreis für seinen Roman »Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt«. Für viele war es schlicht Zeit, Peter Stamm den Preis zu geben. Ich fand seinen Roman absolut preiswürdig. Auch wenn die Frage eigentlich gar nicht zum Preis passt, und man ihn ja schliesslich für »ein herausragendes Werk« bekommt und nicht für ein Lebenswerk – wen würden Sie krönen?

Für ein Lebenswerk? Vladimir Nabokov. Philip Roth. Anne Tyler. Urs Widmer. Paul Auster. Wenn ich noch länger nachdenken würde, kämen noch etliche Namen dazu. 

Ganz ehrlich: Was geschah mit der ausgestellten Urkunde?

Einige davon habe ich eingerahmt und in meinem Arbeitszimmer an die Wand gehängt. Das geschah einerseits aus Eitelkeit und Stolz und andererseits aus dem Bedürfnis, die Preisstifter und Jurys zu würdigen, die Geld und Zeit in die Vergabe der Preise investiert haben. Und: Die Urkunden sind recht schön anzusehen und sind ein steter Ansporn, gute Bücher zu schreiben.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschien zuletzt «Pampa Blues» 2012, mit dem er den Jugendbuchpreis Goldene Leslie gewann und «Über den Winter» 2015, der im gleichen Jahr in der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand.

Norbert Gstrein «Die kommenden Jahre», Hanser

Richard und Natascha sind ein Paar, Fanny ist ihr Kind. Richard ist Glaziologe, Gletscherforscher, Natascha Schriftstellerin. Es gab eine Zeit, da interessierten sich sich für die Welt des anderen. Das Interesse ist Sache geworden, Intimität entglitten, Missverständnis und Negativdeutung der Normalfall. Und als Natascha im Sommerhaus am See eine syrische Familie einquartiert, droht alle Selbstverständlichkeit zu kippen.

Norbert Gstrein scheut sich nicht, politische und gesellschaftliche Themen zu den seinen zu machen. Sein Roman ist vielschichtig. Es sind Szenen einer auseinanderbrechenden Ehe. Was tun, wenn das Schicksal geflüchteter Familien plötzlich zum eigenen Schicksal wird? Wenn die Bedrohungen von Fremdenfeindlichkeit, diffusen Ängsten und Hass bis in die eigene Familie wirken? «Die kommenden Jahre» ist ein Roman über einen Mann, der sich meine Sympathie durch Feigheit verspielt. Es ist gar nicht so einfach, den Protagonisten zu mögen, denn ich würde ihn gerne aus seiner Lethargie schupsen. Ein Krisenroman; über die Klimakrise in Ehe und auf den schwindenden Gletschern, in Krisen innen und aussen.

Richard ist oft weg von seiner Familie, auf Forschungsreisen und Kongressen. Und seit seine Frau in ihrem Wunsch, etwas Positives in einer immer akuter werdenden Gesellschaftskrise zu tun, einer syrischen Flüchtlingsfamilie das Sommerhaus als vorübergehenden Wohnsitz einrichtet, wird seine Abwesenheit immer mehr zur Flucht, zu einem Absprungbrett in seinem Kopf. Was wäre wenn?

Da ist sein kanadischer Freund Tim, der sich nicht binden lässt. Ein Mann, der an seine Grenzen geht und darüber hinaus. Etwas, was Richard nicht gelingen will, schon gar nicht in seiner Ehe, im Konflikt um das Sommerhaus am See. Da ist seine mexikanische Kollegin Idea, wie Tim ebenfalls Gletscherforscherin. Eine Frau, die ausspricht, was er kaum zu denken wagt, eine Frau, die seine Feigheit spürt und sie mehr als deutlich spiegelt. Eine Frau, zu der sich Richard hingezogen fühlt, genauso wie zu Nataschas Zwillingsschwester, die vor Jahren bei einem tragischen Unfall starb. Ein Unfall, bei dem Richard Schuld mit sich herumträgt.

Da ist diese Familie aus Damaskus, zu der Natascha Nähe sucht, zur Beschützerin wird, mit der ihr Schreiben verwickelt wird, an der sich die Ehe zerreibt. Das Haus am See, einst Ferienasyl der Familie, nun Asyl einer vom Krieg vertriebenen Familie. Brennpunkt von Auseinandersetzungen, Schauplatz in Zeitschriften und Zeitungen, bis Gefühle überkochen und ein Schuss fällt.

Ein Roman über Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Bin ich das, was ich will? Ist das, was ist, die Wahrheit? Wie viel spiele ich mir selbst vor? Habe ich Angst vor Entscheidungen? Lebe ich das Leben, das mir zusteht, von dem ich will, das es meines ist?

Auch wenn es vordergründig um eine Flüchtlingsfamilie geht, darum, was aus Hilfe werden kann, wie gute Absichten schlechte Auswirkungen nach sich ziehen können – auch wenn es die Geschichte eines Unentschlossenen, eines Feiglings ist, ist «Die kommenden Jahre» in erster Linie ein hervorragender Eheroman. Die Geschichte von Verfahrenheit und Ausweglosigkeit. Norbert Gstrein malt nicht aus, bringt Unordnung in das eigene Denken, stösst mich als Leser wie das Leben selbst in Situationen, aus denen es eigentlich keine Rettung gibt.

© Gustav Eckart

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis und den Uwe-Johnson-Preis. Bei Hanser erschienen «Die Winter im Süden» (Roman, 2008), «Die englischen Jahre» (Roman, Neuausgabe 2008), «Das Handwerk des Tötens» (Roman, Neuausgabe 2010), «Die ganze Wahrheit» (Roman, 2010), «In der Luft» (Erzählungen, Neuausgabe 2011), «Eine Ahnung vom Anfang» (Roman, 2013) und «In der freien Welt» (Roman, 2016).

Karl-Heinz Ott «Und jeden Morgen das Meer», Hanser

Sie ist abgetaucht, hat mit ihrem alten Leben gebrochen, radikal und unumkehrbar. Die Frau, die im Lindenhof am Bodensee zusammen mit ihrem Mann einen Gourmettempel führte, wo sich die Prominenz die Klinke gab, führt inkognito ein altes, ausgezehrtes Hotel an der walisischen Küste und versteckt sich vor allen, auch vor sich selbst.

Kann man seiner Vergangenheit den Rücken kehren? Kann man neu beginnen oder ist aller scheinbarer Neubeginn eine Flucht vor dem Alten, von dem man sich nicht wirklich lösen kann?
Sonja war 30 Jahre an der Seite ihres Mannes Bruno Chefin eines Hotels, sie an der Front, Bruno in der Küche. Der Fluch begann an jenem Tag, als Bruno für seine Küche einen Stern bekam. Was dem Gast Massstab ist, von der Öffentlichkeit als Adelstitel auf Zeit interpretiert wird, was zum Tor zur Öffentlichkeit werden kann, war für Sonja und Bruno der Beginn des Untergangs. Das Leben, das bis zum Stern schon hart genug war, nimmt nach der Auszeichnung an Härte nur noch zu. Erwartungen steigen ins Unermessliche, alles soll perfekt sein. Nicht bloss das Essen auf dem Teller, sondern das ganze Haus, das nicht nur nach Pinsel und Farbe schreit, sondern nach einer rigorosen Sanierung. Aber woher das Geld, wenn der Betrieb alle Einnahmen schluckt? Woher die Energie, wenn die Arbeit alles frisst, selbst das wenige, das vom Eheleben übrig geblieben ist.

Wärs nur die Geschichte eines unaufhaltsamen Untergangs. Aber es ist auch die Geschichte unendlicher Herablassung, denn niemand anders als Brunos Bruder zwingt Sonja das Jahrzehnte alte Zentrum ihres Daseins von einem Tag auf den anderen zu verlassen. Eine Mischung aus Zwang, Erniedrigung und Nötigung lässt Sonja überstürzt die Koffer packen, alles stehen und liegen lassen und an einen Ort ziehen, von dem sie nicht einmal die Ortsnamen aussprechen kann.

Alles, was sie an dem öden Ort hält, ist das Meer, der Blick in die Weite. Hier scheint ihr nutzlos gewordenes Leben in bester Gesellschaft zu sein, ein Ort, an dem nichts nach Effizienz und Perfektionismus gemessen wird. Auch wenn sie sich dort fremd fühlt, ist das marode Hotel am Ufer des Meeres genau jener Spiegel, den Sonja braucht. Was zählt, ist nicht mehr bloss Fassade und Inszenierung, sondern jener Moment, in dem man ganz bei sich ist. Mit dem Blick aufs Meer, der ein Blick in die Ruhe, in die Weite, in die Tiefe, ein Blick zurück ist.

Sonja resümiert. Ein Mann, den seine Arbeit in den Tod stiess. Eine Ehe, die längst den Zauber verloren hatte, keine Kinder, keine Familie, nicht einmal Freundschaften, die sie über die letzte Krise hinausgetragen hätten. Schuldgefühle nach dem Tod ihres Mannes, Schuldgefühle sich selbst gegenüber, weil sie sich mehrfach durch den Bruder ihres Mannes bedrängen liess.

Karl-Heinz Otts Blick auf das Geschehen ist weder melancholisch noch tiefenpsychologisch. Seine Schilderungen des Daseins einer Highendküche, dem perfekten Betrieb auf einem Kreuzfahrtschiff, dem katholischen Internat, in dem Sonja schon früh genug gezeigt wurde, was richtig und falsch war und der Ödnis walisischer Küstenprovinz sind herrlich, sinnlich und entlarvend.
So kurz der Roman, so tief der Blick!

Karl-Heinz Ott, 1957 in Ehingen an der Donau geboren, wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (1999), dem Alemannischen Literaturpreis (2005), dem Preis der LiteraTour Nord (2006), dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2012) und dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2014). Zuletzt erschien bei Hanser sein Roman «Die Auferstehung» (2015).

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Alex Capus «Königskinder», Hanser

Tina und Max bleiben nach einem Ausflug auf dem Heimweg wider aller Vernunft eingeschneit auf dem Jaunpass in ihrem Toyota Corolla stecken. Dort in der Stille und Dunkelheit einer zugeschneiten Fahrerkabine beginnt Max die Geschichte der Königskinder zu erzählen, eine Liebesgeschichte, die im Greyerzerland beginnt, am Vorabend der Französischen Revolution, eine Geschichte, die an den Hof Ludwig XVI führt und wieder zurück in den Schoss der Berge.

Alex Capus wäre aber nicht Alex Camus, wenn er «bloss» eine rührende Liebesgeschichte erzählen würde, bei der die zuhörende Tina immer wieder einmal nachfragen muss, ob Max nicht zu dick auftrage und jener versichert, alles sei aktenverbürgt. Liebesgeschichten passieren, ob jene in und vor der Eisdiele damals mit Tina und Max oder jene zwischen Marie und Jacob vor fast 250 Jahren zwischen der Armut an den Hängen des Jaunpasses und der bröckelnden und stinkenden Feudalkultur am maroden Hof Ludwigs des XVI.

Jacob ist übriggebliebener Sohn einer Bauernfamilie. Er zieht sich auf der Alp seines Vaters zurück, lebt von dem, was die Alpwirtschaft abwirft und kehrt nur zur Übergabe des Viehs zurück ins Dorf, in dem er aufgewachsen war. Bis zu jenem Tag, als er Marie trifft, aus Blicken und einem Spaziergang in die Nüsse eine Liebe wird, die aber keine Chance hat. Maries Vater ist ein wohlhabender Bauer. Jacob ein «Halbwilder» ohne Familie, viel zu wenig für einen Bauer, der bei der Vermählung seiner Tochter strategisch denkt. Aber die Liebe lässt sich durch keine Strategie durchkreuzen. Marie und Jacob finden sich – aber Jacob muss das Land verlassen, um der Willkür des tobenden Bauern zu entkommen. Er wird Soldat am Ärmelkanal, später Kuhhirt am Hof Ludwig XVI, wo Élisabeth Philippe Marie Hélène de Bourbon, die Schwester des Königs vor den Toren Versailles ein «Landgut» betreibt, eine heile Welt direkt neben der zu Stein gewordenen Machtdemonstration des untergehenden Nachfolgers des einstigen Sonnenkönigs.

«Königskinder» ist ein Buch der Gegensätze. Hier die Geschichte Jacobs, der über Jahre auf einer Alp lebt, den Sommer durch mit Kühen und Rindern, im Winter mit sich allein. Eine Welt, die auch heute schnell ins Licht einer Idylle getaucht wird. Dort die Szenerie am Hofe des französischen Königs, der mit seinem vieltausendgrossen Hofstaat in einem Schloss haust, das kaum eine funktionierende Toilette besitzt. Hier stinkt es allerhöchstens im Stall, dort auch die langen Gängen Versailles, in den verwilderten Gärten und feuchten Zimmern.

Während sich Marie und Jacob dann doch noch finden, zu Königskindern werden, wälzt sich der Pariser Mob auf Versailles zu, tausende von Frauen, denen die vergessenen Soldaten des Königs nichts entgegenhalten können. Während sich eine Liebesgeschichte in der durch Mauern geschützten Idylle eines «Musterhofs» entfaltet, tut dies auch die Unzufriedenheit eines ganzen Volkes, das in den Monaten vor der Französischen Revolution auf den Untergang einer Jahrhunderte alten Monarchie zusteuert.

Alex Capus giesst nicht Öl ins Feuer. Unaufgeregt schildert er die Geschehnisse, die sich ganz automatisch in der Vorstellung des Lesers zum Drama wandelt. Alex Capus braucht weder Brandbeschleuniger noch Tricks, keine überraschenden Wendungen und keine aufschäumende Romantik. Allein sein Erzählen schafft Bilder, die bleiben. Da ist nichts verkrampft, kein Recherchewissen, das mir verkauft werden will. Einfach Erzählfreude, die zu Lesefreude wird, unverdünnt, konzentriert und echt.

Ich las «Königskinder» zusammen mit meinem Literaturzirkel. Zum Austausch über das Buch trafen wir uns in der «Galicia-Bar» in Olten, jenem zur Kultbar gewordenen Treffpunkt, die der Autor von der galizischen Heimwehbar zum Kulturtreff mit Ausstrahlung weit über die Stadtgrenzen hinaus machte.

Alex Capus, geboren 1961 in der Normandie, lebt heute in Olten. Er schreibt Romane, Kurzgeschichten und Reportagen. Bei Hanser erschienen «Léon und Louise» (2011), «Fast ein bisschen Frühling» (2012), «Skidoo» (Meine Reise durch die Geisterstädte des Wilden Westens, 2012), «Der Fälscher, die Spionin und der Bombenbauer» (2013), «Mein Nachbar Urs» (Geschichten aus der Kleinstadt, 2014), «Seiltänzer» (Hanser Box, 2015), «Reisen im Licht der Sterne» (2015), «Das Leben ist gut» (2016) und «Königskinder».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

„Sodeli“, und dann wars vorbei, das 10. WORTLAUT-Literaturfestival St. Gallen

Auch wenn die Kälte noch immer im Schatten hockte und grosse grauschwarze Schneeberge mitten in der Stadt Saft liessen, war es neben der Sonne die Literatur, die am letzten Märzwochenende mein Herz erwärmte. Noch bevor an meinem Fenster zuhause der knorrige Aprikosenbaum zu blühen beginnt, schlug die Literatur aus, machte das Wort laut.

Die Zeichnungen, die diesen Text begleiten, sind von der Illustratorin Lea Frei, mit der ich an den kommenden Solothurner Literaturtagen die Veranstaltungen sowohl textlich wie zeichnerisch begleiten werde. Über die Resultate dieses spannenden Unternehmens wird auf literaturblatt.ch informiert.

Im Stundentakt schob sich Höhepunkt an Höhepunkt. Im grossen Saal im Waaghaus, fast versteckt im Splügeneck, mit Pastis in der Hauptpost, lautstark im Palace und der Grabenhalle. Da auch ich mich nicht zerreissen kann, war die Wahl zwischen „Laut“, „Luise“, „Rinks“ und „Lechts“, den vier zur Tradition und St. Galler Spezialität gewordenen Veranstaltungsreihen schnell gefällt. Von Tabea Steiner und Joachim Bitter souverän begleitet und moderiert, lauschte ich der Reihe „Luise“. Sechs Autorinnen und Autoren, die mit ihren Büchern eindrücklich bewiesen, dass Literatur fast alles kann; bezaubern, unterhalten, aufrütteln, verunsichern, beglücken und faszinieren!

Sechs Bücher, die es unbedingt zu lesen lohnt:

Auch in seinem zweiten Band zu den „Menschlichen Regungen“ von Tim Krohn begleitet mich bekanntes Personal aus dem ersten Band „Herr Brechbühl sucht eine Katze“. Herr Brechbühl wohnt noch immer alleine im Erdgeschoss eines Zürcher Mietshauses, wo ihm das kleine Mädchen aus der vierten Etage den Vorschlag macht, mit ihrer Familie die Wohnung zu tauschen, weil ihre Mutter im vierten Stockwerk keine Katze haben wolle. Er brauche die Wohnung im Erdgeschoss, die so praktisch wäre, doch gar nicht dringend, er könne ja auch ein paar Treppen weiter oben alt werden und sterben. Aber Herr Brechbühl will nicht in die vierte Etage, aber vielleicht eine Katze. Und auf der Suche nach einer solchen findet er Samira, eine Frau, die aus der Raupe Brechbühl einen Schmetterling zu machen versteht. Eine Frau, die Brechbühl nicht nur aus seinem Panzer schält, ihn regelrecht ins Leben zieht, in eines mit Geistern, Zeichen, Räucherstäbchen und Gestalten aus dem Reich der Toten. „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein Roman, der köstlich unterhält, geschrieben von einem Autor, der nicht einfach mit menschlichen Regungen spielt, sondern meisterlich konstruiert und fabuliert.

Jens Steiner hält der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen. Auch ihrer Augenwischerei, wenn man sich mit einem Ranking der Recycelns den uneingeschränkten Konsum zu erleichtern versucht, um all jene Leerstellen, die das immerwährende Entsorgen bringt, möglichst schnell wieder mit „Neuem“ aufzufüllen. „Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist aber mehr als ein Abenteuerroman auf einem Recyclinghof. Philipp, der junge Mann, der sich dort anstellen lässt, ist, so angepasst sein Leben und Tun an jenem Ort scheint, ein „Verweigerer“. Einer, der sich dem Würgegriff von Leistung, Besitz und Fortschritt verschliesst und verweigert, der einen Kampf auszustehen hat mit sich selbst und seiner Umgebung. Jens Steiner leuchtet das Kleinräumige aus.

In „Max“ lässt sich Markus Orths Zeit mit Erzählen. Er hangelt sich nicht von einem zu nächsten Cliffhanger, die man als Leser unbedingt aufgelöst haben will. „Max“ ist aber auch mehr als eine Künstlerbiographie über den Maler Max Ernst, ein Buch, das vergöttert und verehrt, einen Künstler auf einen steinernen Sockel hebt. „Max“ ist ein Sittengemälde einer verrückten Zeit, über einen „verrückten“, aber keineswegs entrückten Künstler. Sechs mit den Musen seines Lebens überschriebene Kapitel, sechs Frauen, die ein wildes Leben begleiteten. Vor Beginn seines Romanprojekts habe er nicht mehr als zwei, drei Bilder des Künstlers gekannt. Erst durch die Auseinandersetzung über einen Schreibauftrag wurde er der Fülle gewahr, die das Leben und Schaffen Max Ernsts ausmachte. Markus Orths las jene Szene aus seinem Roman, als der Medizinstudent Max Ernst an einer Ausstellung in einer Nervenheilanstalt mit Werken von Insassen Henrik begegnet, einem Mann, der aus Brot Plastiken formt, die immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Vater zeigen. Max Ernst geht nach Haute und schreibt: „Ich werde malen, sonst nichts!“

Wazlaw, ein nicht mehr junger Mann, ein Heimatloser, ein Arbeitsmigrant, folgt dem Drift, immer auf der Suche, einer unendlichen Heimatsuche. Ein Leben, das in der Schwebe bleibt, ein Roman, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, keine einfache Geschichte, so wie das Leben nie einfach ist. Ein Bohren in tiefe Schichten, in die Sedimente des Lebens. Anja Kampanns grosse Kunst ist die Sprache, das, was sie in ihrem ebenfalls bei Hanser erschienen Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ (Als wären die Gedichte Gesteinsproben des darauf folgenden Romans!) aufs eindrücklichste bewies. Eine Sprache, die sich dem chronologischen Erzählen verschliesst, viel mehr sein will als das Nacherzählen einer Idee, einer Geschichte. Es sind Bilder, die durch alle Sinne dringen, klar gezeichnet und doch mehr als nur abbildend. „Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein Buch, das man nicht in allem zu verstehen baucht, genau so, wie man Schostakowitsch niemals als Ganzes verstehen kann. Es ist, als stünde man ganz nah an einem riesigen Gemälde. Man sieht Farben, Punkte und Linien, den Pinselstrich und weiss, das nichts dem Zufall überlassen wurde. Erst in der Distanz, mit der Dauer des langsamen Lesens wird das Ganze sichtbar, das viel mehr ist als eine Geschichte.

Fast voll war der Saal bei Dana Grigorcea! Sympathien stürmten wie Fruchtfliegen auf die Frau mit den Fingernägeln im gleichen Rot wie das schmale Büchlein, das von so viel Leidenschaft erzählt. Nach dem letzten Roman „Das primäre Gefühl von Schuldlosigkeit“, einem Stadtroman, einem Roman über Herkunft, episodisch erzählt, war es die Lust auf eine Liebesgeschichte mit viel „Zug“, eine Geschichte, die in Zürich spielt. Auch ein Experiment, ob die gewonnenen Leser/innen ihrer letzten beiden Romane, die miteinander verwandt sind, ihr mit einer Liebesgeschichte folgen würden. „Schreiben am Scheitern vorbei.“ „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, eine Tänzerin, die den Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten hat, die einst mehr war, als sie zu erhoffen gewagt hatte, eine Ballerina. Eine Liebe zu einem Fremden, einem verheirateten Kurden, einem Mann, der sich sonst nicht in ihren Kreisen bewegt. Eine scheinbar leichtfüssige Novelle „in einer der schönsten Städte der Welt, mit freundlichen, sorglos wirkenden Menschen“.

Und zuletzt Nicol Ljubić. 1977 brennt Hartmut Gründler lichterloh. Ein Mann, der über lange Zeit unauffällig zur Untermiete im Haus der Familie Kelsterberg lebt. Eine Geschichte zum einen aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes der Familie und Jahrzehnte später aus der Rückschau desselben bei den Besuchen bei einer alt gewordenen Mutter. Damals, 1977, war Hanno Kelsterberg nicht nur Zeuge zunehmender Radikalisierung im Protest Hartmut Gründlers, sondern Zeuge einer «tektonischen Verschiebung» innerhalb der Familie, einer schmerzhaften Entfremdung der Eltern, der Emanzipation seiner Mutter, dem Abfallen seines Vaters. Drei Jahrzehnte später besucht Hanno seine greise Mutter. Die Katastrophe von Fukushima ist für die Mutter keine Keule einer falschen Atompolitik, sondern logische Konsequenz und damit lang erwartete Bestätigung für den Kampf Hartmut Gründlers, eines verkannten Messias. „Ein Mensch brennt“ ist provokant und mit politischem Ausrufezeichen geschrieben über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

 

 

Den Organisierenden meinen grossen Dank und tiefen Respekt. Vor allem Joachim Bitter, Mitinitiant, Moderator und Literaturfreund aus Leidenschaft!

Wortlaut St. Gallen: Zum Beispiel Markus Orths und Jens Steiner!

Zwei Autoren, für die es sich schon lohnt, das 10. St. Galler Literaturfestival «Wortlaut» zu besuchen: Markus Orths erzählt in seinem grossen Roman «Max» vom wilden Leben des Malers und Lebenskünstlers Max Ernst, ein Leben in einem wahnwitzigen Jahrhundert in wahnwitziger Leidenschaft. Und Jens Steiner, der stille Grosse der Schweizer Literatur, in „Mein Leben als Hoffnungsträger“ vom kleinen Leben, in dem sich die Welt spiegelt.

Jens Steiner liest samstags um 14 Uhr im Raum für Literatur in der Hauptpost St. Gallen, Markus Orths am gleichen Samstag um 15 Uhr im Waaghaussaal. Zwei Termine, die man sich neben einer Fülle anderer merken sollte.

Ich freue mich auf die beiden Autoren. Aber am meisten freue ich mich auf eine eventuelle Zugabe von Markus Orts. Beim Verlag ars vivendi erschien in diesem Frühjahr das Buch „Aber sonst geht es mir gut“ von Markus Orths. Humoresken aus seinen bisher erschienen Büchern und speziell für dieses absolut lesenswerte Buch verfasste Schmankerl.

In vielen der in diesem Buch versammelten Geschichten erzählt Martin Kranich von seiner Mutter Ilse Kranich. Aber eigentlich schreibt Markus Orths über seine eigene Grossmutter. Ein Frau mit schwarzem Dutt, die den kleinen Markus oft in Schutz nahm, wenn er wieder was anstellte. Ein Frau, die unentwegt erzählen konnte und deren monologisierende Erzählkaskaden einem förmlich zudecken. Eine Frau aus einem anderen, fremd gewordenen Jahrhundert, in dem das mündliche Erzählen noch über lange Abende hinweghalf und einem über das Neueste in der direkten Umgebung auf dem Laufenden hielt. Eine Frau, die mit ihren Geschichten die Erinnerung an Menschen und Situationen lebendig hielt. Eine Frau, die sich noch nicht durch «Social Media» geschlagen geben musste, der man sich ergeben musste, um sich irgendwann wieder frei zu bekommen. Ein Büchlein, das perfekt fürs Nachttischen bestimmt scheint!

Markus Orts las vor ein paar Jahren schon einmal aus seinem Werk. Wer ihn erlebt hat, weiss, wie unterhaltsam, witzig, geistreich und frech seine Darbietungen sind. Obwohl Markus Orths alles andere als ein lustiger Schreiberling ist, weiss er um die Kunst des literarischen Humors. Markus Orths ist ein begnadeter Geschichtenerzähler!

Markus Orths wurde 1969 in Viersen geboren, studierte Philosophie, Romanistik und Anglistik in Freiburg und lebt als freier Autor in Karlsruhe. 2017 erschien sein elftes Buch, der Roman Max. Drei seiner Bücher sind in insgesamt sechzehn Sprachen übersetzt worden. Seine Texte wurden u.a. ausgezeichnet mit dem Telekom-Austria-Preis (2008) in Klagenfurt, dem Niederrheinischen Literaturpreis der Stadt Krefeld (2009) und dem Phantastikpreis der Stadt Wetzlar (2011). In Paris gewann das Stück Femme de Chambre den Prix Théâtre 13 und den Publikumspreis. Im Theater Baden-Baden wurde Die Entfernung der Amygdala uraufgeführt. Der Film Das Zimmermädchen Lynn (nach dem Roman Das Zimmermädchen) kam 2015 in die Kinos. Zudem schreibt Markus Orths Kinderbücher und Hörspiele.

Jens Steiner, 2013 mit seinem zweiten Roman „Carambole“ Gewinner des Schweizer Buchpreises, ist ein stiller Zeitgenosse, ein stiller Beobachter. Ein Beobachter der kleinen, unscheinbaren Dinge, die sich oft auf Nebenschauplätzen abspielen. Mit „Mein Leben als Hoffnungsträger“ verpackt der Autor auf subtile Weise Gesellschaftskritik, seinen ganz eigenen Humor und offenbart Sätze und Textstücke, deren Zauber sich wie guter Wein in Mund und Nase entfaltet.

„Was in die Häuser der Leute alles reinpasst und ständig wieder raus muss. Mein lieber Mann!“

Philipp ist noch jung und für seinen Vater eine Enttäuschung. Er scheint nicht fähig, sich den Anforderungen der Gesellschaft zu stellen, seinen Mann zu stellen. Da nützen auch Zückerchen oder versteckte Drohungen nichts. Und als Philipp seine Lehre als Mechatroniker schmeisst und ihn seine WG-Mitbewohner wegen seines Putzfimmels auf die Strasse spedieren, bleibt wenig. Aber Philipp lässt sich nicht entmutigen. Er hat der Welt nichts angetan. Und die Welt tut ihm nicht weh. Er fröhnt dem Müssiggang, findet Unterschlupf in einer kleinen Bleibe in einem Wohnsilo und verdient das bisschen, das er braucht, bei Gelegenheitsjobs. Eigentlich könnte alles so bleiben.
Bis Uwe ihn auf einer Bank am Ende einer Strassenbahnlinie entdeckt. Und weil es sich Philipp seit seiner Kindheit zur Gewohnheit machte, Silberpapier (Stanniolpapier) zu sammeln, macht Uwe Philipp zu seinem Hoffnungsträger. Zuhause döselt Philipp jedes einzelne Papierchen auf und glättet sie mit dem Fingernagel. Beeindruckend für Uwe, der hinter der Endschleife der Strassenbahn Chef eines städtischen Recyclinghofs ist, ebenfalls eine Endstation. Aber Uwe zweifelt an einer Menschheit, die nur zu kaufen scheint, um sich wenig später davon zu befreien. Der Recyclinghof, ein Ort, wo sich die Menschen ihren Überflüssigkeiten entledigen. Die einen still und schnell, die andern verschämt oder schamlos.
Mit einem Mal tritt Philipp in ein Gefüge aus Mensch und Material. Auf dem Recyclinghof arbeiten auch noch Arturo und João, zwei Portugiesen, der eine störrisch faul, der andere umtriebig und geschäftstüchtig. Philipp hat seinen Platz gefunden. Wieder könnte alles so bleiben.
Aber Philipp gewinnt Nähe, die ihn ins Geschehen und die Leben auf dem Recyclinghof verstrickt. Sowohl als Uwes Hoffnungsträger wie als Verbündeter in den undurchsichtigen Nebengeschäften Joãos. Ein Freilufttheater auf der Bühne eines Recyclinghofs. Während im Hintergrund der Schredder rattert, spitzt sich die Lage zwischen Containern, Mulden und dem mannshohen Zaun, hinter dem Jahrmarktfahrer den Winter verbringen zu. Welttheater zwischen den unnütz gewordenen Errungenschaften der Zivilisation. Spannend wie ein Krimi wird es, weil das Viergespann João aus der Klemme helfen muss.

„Was die Menschen hier wegwerfen würden, sind die Schuttmoränen ihrer Kaufräusche.“

Jens Steiner spart nicht mit mehr oder weniger sachten Seitenhieben an die Pfeiler einer funktionierenden Gesellschaft, die längst nicht mehr weiss, was sie mit all den Insignien von Wohlstand und Konsumkraft anfangen soll. Jens Steiner schreibt aber weder mit Moralkeule noch Drohfinger. Er tut dies mit seiner unaufgeregten, verschmitzten Art. Während Jens Steiner seine Protagonisten das Geschehen im Recyclinghof beschreiben lässt, türmen sich tiefe Eindrücke des Paradoxen auf der Seite des Lesers. Ein grossartiges Buch über die Schieflage der menschlichen Existenz!

Jens Steiner, geboren 1975, studierte Germanistik, Philosophie und Vergleichende Literaturwissenschaft in Zürich und Genf. Sein erster Roman „Hasenleben“ (2011) stand auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2011 und erhielt den Förderpreis der Schweizerischen Schillerstiftung. Jens Steiner wurde 2012 mit dem Preis »Das zweite Buch« der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung ausgezeichnet. 2013 gewann er mit „Carambole“ den Schweizer Buchpreis und stand erneut auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Letzter Roman „Junger Mann mit unauffälliger Vergangenheit“ erschien noch bei Dörlemann.

literaturblatt.ch fragt, Teil 10, Rolf Lappert antwortet

Rolf Lappert schrieb sich mit der ersten Szene seines Romans „Über den Winter“ tief in meine „literarische Erinnerung“. Lenard Salm, die Hauptperson, findet weit weg von seiner Heimat am Strand ein angeschwemmtes, totes Kind. Eine Szene, die er beschrieb, bevor das beinahe entsprechende Pressebild um die Welt ging. Rolf Lappert schreibt an einem neuen Roman, den ich mit viel Neugier erwarte.

Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Ich erzähle tatsächlich gerne Geschichten, denke sie mir gerne aus, fasse sie gerne in Worte. Die Stoffe und Figuren trage ich oft jahrelang mit mir herum, und wenn sie nicht irgendwann weg sind, verschwunden, dann befasse ich mich ernsthaft mit ihnen, das heißt, ich überlege, wie ich aus all dem Angesammelten eine Geschichte, einen Roman machen kann. Schriftsteller erfinden Welten, was nicht zwangsläufig bedeutet, dass diese Welten fremd sein müssen wie in einem Fantasy- oder Science Fiction-Buch. Dieses Erschaffen von Räumen, Atmosphären, Charakteren, Gefühlen etc. mithilfe von Wörtern ist ein anstrengender und anspruchsvolles Unterfangen, aber auch ein spannendes und – wenn es gelingt – ein erfüllendes.

Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Anzufangen ist immer schön, vor allem, wenn man die ersten Seiten schreibt und merkt, dass man den Ton gefunden hat, den man erzeugen will. Es gibt in jedem Buch Abschnitte, vor denen ich mich lieber drücken würde, die aber in die Geschichte müssen, weil sie etwas Wichtiges erzählen. Das kann eine einzelne Szene aber auch ein ganzes Kapitel sein. Ein schöner, vielleicht der schönste Moment im Arbeitsprozess ist natürlich der Schluss. Wenn man merkt: Jetzt müssen noch fünf Sätze geschrieben werden, dann ist das Werk abgeschlossen – ein erhebender Augenblick. (Kurz danach kann man in ein tiefes Loch fallen – aber das ist eine andere Geschichte…)

Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Ich brauche beim Schreiben Ruhe. Musikhören geht gar nicht. Jede Ablenkung und Störung bedeutet Ungemach. Je nach Stimmung lese ich abends oder nachts in einem Buch. Das kann auch ein Roman sein, denn ich bin immun gegen unbewusstes Übernehmen von Ideen, Formulierungen, Stilmitteln. Trifft ein Roman die Atmosphäre, die Melodie, den Rhythmus meines eigenen, in Arbeit befindlichen Buches, dann finde ich das schön. Ein Film kann den gleichen Effekt haben. Es kommt vor, dass ich, während ich an einem neuen Roman arbeite, vor dem Bücherregal stehe und Romane in die Hand nehme, nur um darin zu blättern, einzelne Sätze oder Abschnitte zu lesen und sie dann zurück in die Reihen zu stellen. Dabei handelt es sich vermutlich um ein Sichvergewissern, dass es noch viele andere vom Schreibzwang Befallene gibt, dass es tatsächlich Wortfolgen, schriftlich festgehaltene Szenen gibt, die in der Lage sind, einen zu bewegen, zu rühren, oder die so genial geschrieben sind, dass man sie voller Bewunderung (und ein wenig Neid) immer wieder lesen muss. Auch das Gewicht eines Buches in der Hand zu wiegen, hilft beim Schreiben, nachzusehen, wie der Roman aufgebaut, unterteilt ist. Gibt es Kapitelüberschriften? Wie lautet der erste Satz? Wie der letzte? Gibt es ein Motto, eine Widmung, eine Danksagung? Wahrscheinlich geht es bei diesem Stöbern schlicht und ergreifend darum, den Beweis dafür zu haben, dass man nicht alleine ist mit der Literatur, dass es Bücher und Autoren und Verlage und Leser gibt und die Welt noch nicht völlig den Bach runter ist.

Hat Literatur im Gegensatz zu allen anderen Künsten eine spezielle Verantwortung? Oder werden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gegenüber andern Künsten anders gemessen? Warum sind es vielfach die Schreibenden, von denen man in Krisen eine Stimme fordert?
Hilft ein Buch, auf soziale Missstände aufmerksam zu machen – gut. Tut es das nicht – auch gut. Romane sind keine Transparente mit Parolen, die der Autor vor sich her trägt. Eine gute und gut geschriebene Geschichte hat die Berechtigung, genau das zu sein und nicht mehr und nicht weniger als das. Leistet die Geschichte mehr, ist das großartig, aber es soll nicht das Ziel – und schon gar nicht der Sinn – des Schreibens sein, Politik zu betreiben. Das tue ich im Privaten, indem ich mich engagiere, äußere, wähle. Warum sollte ich als Schriftsteller politischer sein als, sagen wir, ein Bäcker oder Versicherungsvertreter? Ist mir ein Anliegen wichtig und ich werde angefragt, dann tue ich mein Bestes, um der Sache zu dienen – eine Sonderstellung nehme ich dabei nicht ein.

Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung
Man lernt beim Schreiben, empathisch zu sein, sich in Menschen hineinzufühlen und -denken. Beim Lesen auch – wenn der Roman etwas taugt. Ein Roman ohne Empathie ist für mich wertlos.

Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Es gibt sie und es muss sie geben. Jede Minute Schreiben ist eine Minute Einsamkeit, zumindest vermittelt sich dieser Eindruck dem Außenstehenden. Denn man sitzt zwar alleine an seinem Tisch in seinem Arbeitszimmer, aber man ist in Begleitung seiner Figuren, die vom ersten Satz an ein Leben führen und bald zu Menschen werden, Weggefährten. Aber natürlich: Es ist ein einsamer Job, Familienmitglieder und Freunde werden oft vernachlässigt, soziale Kontakte abgebrochen oder zumindest für eine Weile auf Sparflamme gehalten. Würde ich lieber in einem Großraumbüro arbeiten? Nein.

Gibt es für Sie Grenzen des Schreibens? Grenzen in Inhalten, Sprache, Textformen, ohne damit von Selbstzensur sprechen zu wollen?
Es gibt Themen und Formen, die mich nicht interessieren. Ich befasse mich mit ihnen weder als Autor noch als Leser. Thriller, Fantasy, Science Fiction, Horror, Romantic Comedy, Historienschinken: Alles nicht meins.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Geheimtipp? Da muss ich passen. Obwohl ich kein Mainstream-Leser bin, kann ich mich auch nicht gerade als Entdecker bezeichnen… Joseph Conrads „Herz der Finsternis“, das ich vor nicht allzu langer Zeit gelesen habe, kann ich ja wohl nicht unbedingt als meine literarische Entdeckung präsentieren, oder?

Zählen Sie 3 Bücher auf, die Sie prägten, die Sie vielleicht mehr als einmal gelesen haben und in Ihren Regalen einen besonderen Platz haben?
Philip Roth „Der menschliche Makel“. Michael Chabon „Wonder Boys“. David Mitchell „Der dreizehnte Monat“.

Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich habe Grafiker gelernt und hätte als solcher arbeiten können, Mitte der Achtzigerjahre war die Werbebranche noch attraktiv für alle, die mit einem coolen Job sehr schnell sehr viel Geld verdienen wollten. Aber ich wollte schreiben, unbedingt. Hätte das nicht funktioniert, wären da durchaus Alternativen gewesen, Tierfilmer zum Beispiel, oder überhaupt Dokumentarfilmer, oder Tauchlehrer, oder Betreiber eines Öko-Hotels (doch woher das Geld nehmen?), oder Drehbuchautor – was ich ja sieben Jahre lang tatsächlich war. Und natürlich gibt es -zig andere Berufe, die ich hätte ausüben können, um Geld zu verdienen, Schreiner etwa oder Gärtner. Glücklicherweise hat es mit dem Schreiben geklappt.

Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Wenn sie mir überhaupt nicht gefallen, lese ich sie nach den ersten Seiten auch nicht zu Ende und verschenke sie weiter oder bringe sie ins Brockenhaus. Bücher wegzuwerfen fällt mir schwer. Sehr selten zerfleddere ich ein besonders missratenes und schmeiße es voller Abscheu und Genugtuung in die Altpapiertonne.

Lieber Herr Lappert, vielen, vielen Dank!

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor. Bei Hanser erschien 2008 der Roman «Nach Hause schwimmen», der im selben Jahr mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet wurde, 2010 «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 «Pampa Blues» und und zuletzt «Über den Winter». Rolf Lappert war auch schon Gast hier in Amriswil an einer Hauslesung.

Wort – Laut und Luise, Lechts und Rinks 2017

Die 9. St. Galler Literaturtage WORTLAUT 2017 sind Erinnerung. Laute und leise Töne mit wenig und viel Publikum. Markige Sprüche, freche Zeichnungen, durchscheinende Lyrik und rundum Gespräche über Bücher und Literatur, Text und Kontur. Aber was blieb in Erinnerung? Was hat bewegt?

„Warum ist die Welt in Büchern nicht eine bessere als in der wirklichen Welt?“

Mein ganz persönliches literarisches Jahr beginnt mit den St. Galler Literaturtagen – jedes Jahr. Im Vorsommer dann die Solothurner Literaturtage, die Nabelschau der CH-Literatur und im Sommer dann das Literaturfestival in Leukerbad mit einem literarischen Blick weit über die Landesgrenzen hinaus. Es sind aber wie in jedem Bücher- und Literaturfest nicht so sehr die Bücher, die mich locken, sondern die Schöpferinnen und Schöpfer selbst. Vor allem jene, bei denen ich spüre, wie neugierig sie sind, was ihre Bücher mit mir machen.

„Warum hat die Literatur so viel Lust, den Antihelden scheitern zu lassen?“

Die diesjährigen Literaturtage begannen in der Provinz, mit einer Prologlesung des jungen Schriftstellers und Journalisten Frédéric Zwicker im Kulturforum Amriswil. Der Autor las aus seinem ersten Roman „Hier können sie im Kreis gehen“, der Geschichte des 91jährigen Johannes Kehr, der sich im Altersheim hinter einer vorgetäuschten Demenz vor den Menschen versteckt. Sein ernst zu nehmender Roman über den letzten Lebensabschnitt vieler Menschen, den man aber gerne verdrängt, mit dem man sich selbst meist erst kurz davor und nur ungerne auseinandersetzt. Die Geschichte eines alten Mannes, die erklären soll, warum sich jemand hinter einer vorgespielten Demenz vom Leben distanzieren will. Ein Unterfangen, das mit Bedacht und Vorbereitung angegangen werden muss, wenn Kehr sich nicht durch die Wirkung eines Medikaments oder einer unglücklichen Äusserung verraten will. Ein Abenteuer, das ihm ungeahnte Freiheiten eröffnet, weil niemand, nicht einmal seine Enkelin, deren Foto er seine Geschichte erzählt, sein Doppelleben erahnt. Eine Lesung, ein Gespräch, das sich mit vielen wichtigen Fragen auseinandersetzte; Was tun, wenn einem nichts mehr am Leben hält? Wie viel Freiheit braucht der Mensch, selbst dann, wenn er unberechenbar wird?

„Literatur mag Personal, das etwas riskiert.“

Bei der offiziellen Eröffnungsveranstaltung las Max Küng, bekannt durch seine Kolumnen im Tages-Anzeiger Magazin, ein letztes Mal aus seinem Roman „Wenn du dein Haus verlässt, beginnt das Unglück“. Ein Roman darüber, was hinter der Fassade eines Zürcher Stadthauses passiert, wenn alle im Haus gleichzeitig die Kündigung ihres Mietverhältnisses zugeschickt bekommen. Max Küng ist gewiefter Beobachter, Journalist und Schriftsteller. Max Küng tut, was er wirklich kann. Er blickt mit dem Brennglas auf Grossstadtmenschen, Menschen, die nur dort leben können, bunte Kampffische im Aquarium. Ganz offensichtlich verlief die Dernière mehr nach den Vorstellungen des Autors als die Buchtaufe im vergangenen Herbst auf dem Dach seines Zürcher Verlags. Damals ass man Biosandwiches unmittelbar unter der Sonne, ein kleiner Haufen. Das Buch kam unter all den Kulturlöwen kaum zu Wort.

„Figuren die allzu positiv besetzt sind, interessieren die Literatur nicht.“

Und am Samstag, dem eigentlichen Haupttag des Festivals, waren es nicht die grossen Namen, die mich überzeugten. Dafür umso mehr jene, die es verstehen, aus Beobachtungen fein ziselierte Literatur zu schaffen. Die noch junge Franziska Gerstenberg, die über ihrem Erzählband „So lange her, schon gar nicht mehr wahr“ sagt: „Die Figuren sind alle ich, mit allen Fragen, allen Zweifeln.“ Sie gehe langsam vor, versuche sich psychologisch anzunähern, hineinzuhören, nicht auszuleuchten, nicht gewillt einer Pointe nachzurennen. Es reize sie, die Perspektive zu wechseln und sich nicht wie bei Romanen über Jahre mit dem gleichen Personal herumschlagen zu müssen. Franziska Gerstenberg , zierlich, fast zerbrechlich, las in Lederstiefeln mit drei grossen Schnallen übereinander, als müsse sie wenigstens in ihnen Halt finden. Sie las von Menschen in Not, wie dem stillen Dichter Stoll, der in der Orangerie an der Kasse hinter der Theke sitzt und mit seinem Lächeln auf Besucher wartet. Stoll, der in seinem Schreibzimmer zuhause den einzigen Ort besitzt, in dem und für den es sich zu leben lohnt.
Die noch immer junge Anna Weidenholzer: In ihrem neusten Roman „Weshalb die Herren Seesterne tragen“ erzählt sie von Karl. Karl fährt weg in einen Winterort ohne Schnee. Ein Mann, der nur forschen will und kann, sich auf dieser Reise ganz vom Zufall leiten lässt, davon überzeugt, dass es für alles und jedes mindestens zwei Möglichkeiten gibt. Bloss nicht für die Stimme in seinem Kopf, für die Stimme seiner Frau, die alles kommentiert, von der er stets weiss, wie und was sie sagen wird, wenn er etwas tun oder sagen will. Eine Stimme, die immer nur das „Richtige“ kennt. Anna Weidenholzer webt in ihren Roman Sätze, die haften bleiben, Sätze wie Schnappschüsse einer Meisterfotografin. Sätze, die klingen, Sätze, die man irgendwie kennt. Johannas Kehr bei Frédéric Zwicker, Stoll bei Franziska Gerstenberg und Karl bei Anna Weidenholzer; Männer, die zu verschwinden drohen.

„Wir leben in einer postheroischen Gesellschaft.“

Und dann noch Nico Bleutge, ein Dichter aus dem Norden, aus Berlin, den ein Stipendium nach Istanbul am Bosporus schickte, eine Stadt, die er bereits aus früheren Besuchen kennt, eine Stadt, in der es brennt. Eine Stadt zwischen Zeiten, Fronten und Kulturen. Nico Bleutge schreibt Lyrik in langen, farbigen Bändern, in „Nachts leuchten die Schiffe“ Wortgemälde mit Sicht auf die grossen Kähne, die durch die Meerenge ziehen. Auch wenn zu dieser Lesung in dem sonst gut besetzten „Raum für Literatur“ in der Hauptpost nur wenige Neugierige dem Dichter ihre Aufmerksamkeit schenkten, galten für mich diese 45 strahlenden Minuten als einer der Höhepunkte der diesjährigen St. Galler Literaturtage.
Was bleibt? Ich hörte zu und es taten sich Horizonte auf!
(Die eingefügten Zitate sind Fetzen eines sonst missratenen Literaturgesprächs zwischen Sabine Gruber, Jonas Lüscher und Andrea Gerster.)