Norbert Gstrein «Die kommenden Jahre», Hanser

Richard und Natascha sind ein Paar, Fanny ist ihr Kind. Richard ist Glaziologe, Gletscherforscher, Natascha Schriftstellerin. Es gab eine Zeit, da interessierten sich sich für die Welt des anderen. Das Interesse ist Sache geworden, Intimität entglitten, Missverständnis und Negativdeutung der Normalfall. Und als Natascha im Sommerhaus am See eine syrische Familie einquartiert, droht alle Selbstverständlichkeit zu kippen.

Norbert Gstrein scheut sich nicht, politische und gesellschaftliche Themen zu den seinen zu machen. Sein Roman ist vielschichtig. Es sind Szenen einer auseinanderbrechenden Ehe. Was tun, wenn das Schicksal geflüchteter Familien plötzlich zum eigenen Schicksal wird? Wenn die Bedrohungen von Fremdenfeindlichkeit, diffusen Ängsten und Hass bis in die eigene Familie wirken? «Die kommenden Jahre» ist ein Roman über einen Mann, der sich meine Sympathie durch Feigheit verspielt. Es ist gar nicht so einfach, den Protagonisten zu mögen, denn ich würde ihn gerne aus seiner Lethargie schupsen. Ein Krisenroman; über die Klimakrise in Ehe und auf den schwindenden Gletschern, in Krisen innen und aussen.

Richard ist oft weg von seiner Familie, auf Forschungsreisen und Kongressen. Und seit seine Frau in ihrem Wunsch, etwas Positives in einer immer akuter werdenden Gesellschaftskrise zu tun, einer syrischen Flüchtlingsfamilie das Sommerhaus als vorübergehenden Wohnsitz einrichtet, wird seine Abwesenheit immer mehr zur Flucht, zu einem Absprungbrett in seinem Kopf. Was wäre wenn?

Da ist sein kanadischer Freund Tim, der sich nicht binden lässt. Ein Mann, der an seine Grenzen geht und darüber hinaus. Etwas, was Richard nicht gelingen will, schon gar nicht in seiner Ehe, im Konflikt um das Sommerhaus am See. Da ist seine mexikanische Kollegin Idea, wie Tim ebenfalls Gletscherforscherin. Eine Frau, die ausspricht, was er kaum zu denken wagt, eine Frau, die seine Feigheit spürt und sie mehr als deutlich spiegelt. Eine Frau, zu der sich Richard hingezogen fühlt, genauso wie zu Nataschas Zwillingsschwester, die vor Jahren bei einem tragischen Unfall starb. Ein Unfall, bei dem Richard Schuld mit sich herumträgt.

Da ist diese Familie aus Damaskus, zu der Natascha Nähe sucht, zur Beschützerin wird, mit der ihr Schreiben verwickelt wird, an der sich die Ehe zerreibt. Das Haus am See, einst Ferienasyl der Familie, nun Asyl einer vom Krieg vertriebenen Familie. Brennpunkt von Auseinandersetzungen, Schauplatz in Zeitschriften und Zeitungen, bis Gefühle überkochen und ein Schuss fällt.

Ein Roman über Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Bin ich das, was ich will? Ist das, was ist, die Wahrheit? Wie viel spiele ich mir selbst vor? Habe ich Angst vor Entscheidungen? Lebe ich das Leben, das mir zusteht, von dem ich will, das es meines ist?

Auch wenn es vordergründig um eine Flüchtlingsfamilie geht, darum, was aus Hilfe werden kann, wie gute Absichten schlechte Auswirkungen nach sich ziehen können – auch wenn es die Geschichte eines Unentschlossenen, eines Feiglings ist, ist «Die kommenden Jahre» in erster Linie ein hervorragender Eheroman. Die Geschichte von Verfahrenheit und Ausweglosigkeit. Norbert Gstrein malt nicht aus, bringt Unordnung in das eigene Denken, stösst mich als Leser wie das Leben selbst in Situationen, aus denen es eigentlich keine Rettung gibt.

© Gustav Eckart

Norbert Gstrein, 1961 in Tirol geboren, lebt in Hamburg. Er erhielt unter anderem den Alfred-Döblin-Preis und den Uwe-Johnson-Preis. Bei Hanser erschienen «Die Winter im Süden» (Roman, 2008), «Die englischen Jahre» (Roman, Neuausgabe 2008), «Das Handwerk des Tötens» (Roman, Neuausgabe 2010), «Die ganze Wahrheit» (Roman, 2010), «In der Luft» (Erzählungen, Neuausgabe 2011), «Eine Ahnung vom Anfang» (Roman, 2013) und «In der freien Welt» (Roman, 2016).