12. Sankt Galler Literaturfestival Wortlaut

Vom 26. bis 29. März 2020 erwartet die Besucherinnen und Besucher eine grosse Auswahl wortlauter Kunst in den vier etablierten Programmreihen Luise, Laut, Lechts und Rinks. Die vier Reihen strukturieren das Programm und fordern zu literarischen Grenzüberschreitungen auf. Insgesamt bietet das Sankt Galler Literaturfestival an vier Tagen 25 Veranstaltungen an den unterschiedlichsten Orten der Stadt, allesamt fussläufig erreichbar. Ab heute (06. Februar) ist das Gesamtprogramm des Literaturfestivals auf der neu programmierten sowie neu gestalteten Webseite wortlaut.ch abrufbar.

Buchvernissage mit Laura Vogt
Was bedeutet es in der heutigen Zeit, Mutter zu sein? Was ist Weiblichkeit? Welche Beziehungen sind ­möglich und wie bleibt man darin selbstbestimmt?  Zusammen mit dem Basler Zytglogge Verlag feiert Wortlaut die Buchvernissage von Laura Vogts neuem Roman «Was uns betrifft«. Die Ostschweizer Autorin liest am Donnerstag, den 26. März, um 19:30 Uhr im Raum für Literatur. Musikalisch begleitet wird sie von Andi Bissig. Die Moderation übernimmt der Literaturvermittler Gallus Frei-Tomic.

Eröffnungsveranstaltung und Dialekt-Poetry-Slam
Zur Eröffnungsveranstaltung im Palace wird erst einmal eine Partie «Print-Pong» gespielt. Das ist sowas wie Ping-Pong nur ohne Ball und mit Worten. Wer das Kleinkunst-Duo «Ohne Rolf» kennt, wird diese Spielart bereits lieben gelernt haben. Sie ist gespickt mit seitenweise überraschenden Momenten. Was als Strassenaktion vor eineinhalb Jahrzehnten begann, tourt vier abendfüllende Programme und einige Preise später erfolgreich durch den ganzen deutschsprachigen Raum. Wortlaut präsentiert das sehens- und hörenswerte Künstler-Duo Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub am Freitag, den 27. März, um 19 Uhr. Eine kurze Begrüssungsrede hält die Wortlaut-Festivalleiterin Rebecca C. Schnyder.

Am gleichen Abend, um 21 Uhr, findet in der Grabenhalle, nur einen Steinwurf vom Palace entfernt, der schweizweit einzigartige Dialekt-Poetry-Slam (Säg rächt!) statt, bei dem Mundarten aus der Schweiz und dem angrenzenden deutschsprachigen Raum aufeinandertreffen.

Tour littéraire in den vier Reihen
Vier Reihen strukturieren das Wortlaut-Programm und fordern insbesondere am Wortlaut-Samstag, dem 28. März, zu literarischen Grenzüberschreitungen auf: Comic-Autorinnen lassen ihre Zeichnungen zu Wort kommen, es reden und singen Kabarettisten, Spoken-Word-Poetinnen performen die Sprache und Autoren lesen aus ihren aktuellen Werken.

In der Reihe Luise stellt zum Beispiel die Autorin Karen Köhler ihr Romandebüt «Miroloi» vor. Das Buch stand im letzten Herbst auf der Longlist des Deutschen Buchpreises. Ähnlich wahrgenommen bzw. rezipiert wurde das Buch «Die Nachkommende» von Ivna Žic. Mit ihrem Erstling war sie u.a. für den Schweizer Buchpreis 2019 nominiert. Die Moderation der Lesung übernimmt die Schriftstellerin Tabea Steiner, die im letzten Jahr ebenfalls für den Schweizer Buchpreis nominiert war. Mit einem bildstarken, und vor kurzem mit dem Basler Lyrikpreis ausgezeichneten Debüt, zeigt Eva Maria Leuenberger, welche eigene Kraft Lyrik entfalten kann. Sie liest am Samstag, um 14 Uhr, im Raum für Literatur.

Einen Webteppich aus Kurztexten und Celloimprovisationen (Hommage an John Cage) präsentieren Christine Fischer (Text)  und Brigitte Meyer (Musik) am Sonntag, 16 Uhr, im Museum of Emptiness.

Ostschweizer Bühne: Neben weiteren Autorinnen und Autoren aus dem deutschsprachigen Raum betreten am Wortlaut-Samstag vier Literaturschaffende aus dem Literaturnetz Ostschweiz die Bühne im Splügeneck. Ab 13 Uhr treten auf:  Tobias Bauer, Liv Naran, Mathias Ninck und René Oberholzer. Es moderiert Tamara Hostettler.

In der Reihe Lechts stellt das Festival bekanntlich Werke aus dem Bereich «Comic und Graphic Novel» vor. Veranstaltungsort ist das Palace. Dieses Jahr wird neben der Hamburger Illustratorin Orphea Heutling, dem Cartoon-Kollektiv «Pause ohne Ende» und dem Comic-Künstler Frank Schmolke («Nachts im Paradies»), der Illustrator Nando von Arb mit seinem Buch «Drei Väter» zu Gast sein. Ihm verdankt Wortlaut das aktuelle Plakatmotiv, das in enger Kooperation mit dem Büro Sequenz entstanden ist. Ab heute, den 06. Februar, hängen die grossformatigen Wortlaut-Plakate an den Kultursäulen der Stadt.

Die Reihen Laut und Rinks werden divers bespielt: So wird in der Reihe Laut neben «Ohne Rolf» auch Lisa Christ ihren Auftritt mit dem Programm «Ich brauche neue Schuhe» haben. Sie präsentiert ihr einstündiges Programm ab 21 Uhr in der Kellerbühne. Bei Rinks stellt u.a. der Slam-Poet Nektarios Vlachopoulos sein zweites Bühnenprogramm mit dem Titel «Ein ganz klares Jein» vor. Mal geht’s dabei um Rechtspopulismus, mal um mitgebrachte Rotweingläser bei der Studentenparty, mal um die Liebe, mal um morphogenetische Spektralbarometer. Weitere Spoken-Word-Künstler an diesem Samstag werden sein: Rolf Hermann/Trio Chäslädeli, Jan Rutishauser, Cruise Ship Misery, Diana Dengler und Marcus Schäfer (Gassenhauer). Nähere Infos dazu finden sich auf wortlaut.ch oder im Wortlaut-Programmheft.

Festivalzentrum mit Illustrationskiosk
Die Buchbeiz ist zentrale Ticket-Verkaufsstelle. Hier können Tagespässe erstanden, reservierte Tickets abgeholt und sich über das aktuelle Programm informiert werden. Achtung: Tickets für einzelne Veranstaltungen können nur an den jeweiligen Kassen in den Lokalitäten erworben werden.

«Wir weben den Teppich den Teppich des Lebens, fliessen ineinander. Alles ist miteinander verbunden.» gezeichnet von Jana Siegmund

Illustrationskiosk: Angehende Illustratorinnen und Illustratoren zeichnen für Besucherinnen und Besucher des Festivals: Textpassagen werden in Zeichnungen übersetzt – überraschend, vielfältig, kreativ. Ab 13 Uhr, Eintritt frei, Kollekte. Speis und Trank.

TeilnehmerInnen Wortlaut 2020 – nach Programmreihen
Luise (Lesungen und Gespräche): Laura Vogt (musikalische Begleitung: Andi Bissig), Tobias Bauer, Liv Naran, Eva Maria Leuenberger, Mathias Ninck, Ivna Žic, René Oberholzer, Andreas Neeser, Lorenz Langenegger, Karen Köhler, Richard Butz und Nathalie Hubler (Literatur in der Stadt), Christine Fischer (musikalische Begleitung: Brigitte Meyer)

Laut (Musik- und Sprechkabarett): Ohne Rolf (Christof Wolfisberg und Jonas Anderhub), Lisa Christ

Lechts (Comic und Graphic Novel): Orphea Heutling, Frank Schmolke, Nando von Arb, Pause ohne Ende

Rinks (Slam Poetry und Spoken Word): Säg rächt! Dialekt-Poetry-Slam mit: Teresa Reichl (Regensburg), Emil Kaschka (Tirol), Jan Rutishauser (St.Gallen), Sven Hirsbrunner (Thurgau), Remo Rickenbacher (Thun), Valerio Moser (Langenthal), Diego Häberli (Schaffhausen) und Simon Libsig (Baden), Spoken Word: Nektarios Vlachopoulos, Rolf Hermann/Trio Chäslädeli, Jan Rutishauser, Cruise Ship Misery, Diana Dengler und Marcus Schäfer (Gassenhauer)

Karen Köhler «Miroloi», Hanser

Literatur ist der Schauplatz der Fantasie. Deshalb darf Literatur alles, es muss nur gut aufs Papier gebracht sein. Sprache selbst ist die Stimme. Selbst die Stimme darf in seiner Klangfarbe eine ganz eigene sein. Und wenn Idee, Geschichte und Sprache wie in Karen Köhlers erstem Roman «Miroloi» eine so ganz eigene Färbung haben, sich so sehr von allem anderen abheben, mich in eine Welt begleiten, die mich in ihren archaischen Bildern an Traumlandschaften erinnert, dann beginnt Faszination!

Miroloi (vom griechischen μοιρολόι oder μοιρολό(γ)ι) ist ein von Frauen gedichtetes und gesungenes Totenlied in der griechisch-orthodoxen Tradition. «Miroloi» ist ein Roman in 128 Strophen, gesungen von einer jungen Frau ohne Namen, ohne Geschichte, ohne Zukunft. Sie lebt im Haus des Bethaus-Vaters, der sie als kleines Mädchen in einer Schachtel in Zeitungen gebettet fand und zu sich nahm. Sie erzählt von sich, dem Haus, dem einen Dorf am Hang auf der Insel, dem Meer, dem kleinen Hafen, an dem nur selten ein Schiff anlegt und jene Dinge bringt, die das Dorf und die Insel verweigern, den Klageweibern in der Kurve, dem einzigen Lokal, in dem man sie hasst, von den Kindern, die hinter ihr herrennen und «Eselstute, Nachgeburt der Hölle!» nachrufen, spucken und schlagen.

«Miroloi» ist ein wunderschön gestaltetes Buch mit einer ganz neuen Art eines Schutzumschlages. So werden Bücher aussen und innen zu Kostbarkeiten!

Sie ist nicht aus dem Dorf. Sie ist von drüben. Ohne Namen, ohne Recht. Schuld immer dann, wenn im Dorf ein Unglück geschieht. Man hasst und fürchtet sie, obwohl sie hilft und alles tut, um sich in Dorf einzufügen. Wäre der Bethaus-Vater, der im Dorf das Gesetzbuch hütet, den Tag in Zeit einteilt und als einziger viel mehr zu wissen scheint als alle andern, nicht ihr Beschützer, wäre die alte Mariah nicht, der sie zur Hand geht, die ihr das gibt, was einst mit ihr in der Schachtel lag; ein in Leder gebundenes Buch, Hefte, eine Feder, Stift und Tinte und sie in Geheimnisse einweiht, die sie zu einer Verbündeten machen, wäre die junge Frau verloren, Freiwild, Beutetier, Zielscheibe.

„Miroloi“ ist aus der Sicht der jungen Frau erzählt, der man nicht nur ein Leben in der Gemeinschaft vorenthält, sondern auch all das, was über dem grossen Meer geschieht, was von Flugzeugen mit weissen Streifen an den Himmel gezeichnet wird, was mit dem Schiff immer wieder vom Händler und vom Arzt vom Festland auf die Insel gebracht wird. Die Dorfgemeinschaft auf der Insel ist Metapher für all die abgeschotteten, in sich geschlossenen Systeme, seien sie politisch, gesellschaftlich oder religiös. Man verschliesst sich der Welt, weil man sich schützen will, weil das Böse ausserhalb geortet wird und man Veränderungen für etwas grundsätzlich Bedrohendes hält.

Karen Köhlers Schreibort

Die Dorfgemeinschaft aber bröckelt an vielen Stellen: Ein Hubschrauber kreist eines Tages über den Häusern und bringt mehr als nur den Staub auf den Strassen zum Wirbeln. Ein Beamter mit Ledermappe und Mantel besucht die Insel und verspricht, nun endlich den Fortschritt in Form von Strom auf die Insel zu bringen. Und der Händler, der mit dem Schiff jene Dinge bringt, die auf der Insel fehlen, erzählt von Maschinen, die Wäsche waschen, Brote backen. Das patriarchalisch eingerichtete System wird von jenen Frauen in Frage gestellt, die mehr oder weniger laut nach dem rufen, was ihr Leben aus Arbeiten und Pflichten erleichtern würde. Es kocht auf der Insel, als würde eine Magmakammer voller Emotionen unter dem Dorf die Insel zum Zittern bringen.

Und zwischen all den kleinen und grossen Geschichten die der jungen Frau, die ihren Makel nicht nur als steifes Bein mit sich herumzieht. Als Aussenseiterin, die überall dort arbeiten muss, wo Hilfe gebraucht wird, sieht sie in die Leben vieler. Weil sie die Ziehtochter des alten Priesters, des Bethaus-Vaters ist, bleiben Geheimnisse nicht verborgen, das, was die Männer und Frauen an einen Wunschbaum hängen. Und als Yael auftaucht, ein Bethaus-Schüler, einer, der hinter Mauern hätte verborgen bleiben müssen, genauso wie die Gefühle, die über die beiden hereinbrechen, als der Bethaus-Vater stirbt und die alte Ordnung im Dorf auseinanderbricht und Katastrophen unabwendbar werden, wird aus dem Mädchen, das von Yael endlich einen Namen erhält, eine Rebellin.

„Miroloi“ ist wie ein Theater, überzeichnet, entrückt, aus der Zeit gefallen. Das Geschehen hängen geblieben zwischen Realität und Fantasie, auf einer Insel eben. Aber genau das muss Karen Köhler interessiert haben: Was geschieht in geschlossenen Systemen, die sich der Realität entgegenstellen? „Miroloi“ entwickelt einen ungeheuren Sog, auch wenn die holzschnittartigen Figurenzeichnungen fast wie Karikaturen wirken. Doch das Buch ist voller Wirklichkeit, voller Realitätsbezüge, stellt Fragen, peitscht auf.

© Julia Klug

Karen Köhler hat Schauspiel studiert und zwölf Jahre am Theater in ihrem Beruf gearbeitet. Heute lebt sie auf St. Pauli, schreibt Theaterstücke, Drehbücher und Prosa. Ihre Theaterstücke stehen bei zahlreichen Bühnen auf dem Spielplan. 2014 erschien ihr viel beachteter Erzählungsband «Wir haben Raketen geangelt». 2017 erhielt sie für ihren Roman «Miroloi» ein Grenzgänger-Stipendium der Robert Bosch Stiftung, 2018 das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds.

Webseite der Autorin

Themenseite des Verlags zum Buch