Christoph Hein, Rotraut Susanne Berner «Alles, was du brauchst», Hanser

Liebesgedichte nur für Verliebte? Abenteuergeschichten für DraufgängerInnen? Philosophische Essays für Nachdenkliche? Dystopien für hoffnungslose Optimisten? Kinderbücher bloss für Kinder? Der einzige Grund, den Bücher in Sparten zu unterteilen sinnvoll macht, sind Ordnungssysteme, solche in Bibliotheken und Buchhandlungen. Kinderbücher aber nur der Lektüre von Kindern zuzuteilen, wird Kinderbüchern nicht gerecht. Erst recht dann, wenn Christoph Hein eines schreibt.

Sind sie erst vor kurzem umgezogen? Oder für vier Wochen in den Urlaub gefahren? In solchen Situationen stellt man sich die Frage, was es denn unbedingt braucht, um zu «überleben». Worauf kann man auf keinen Fall verzichten? Was braucht meine Existenz, um mich selbst zu bleiben? Meistens wenig. Und meistens sind es nicht die Dinge, mit denen man sich im Konsumrausch aus lauter Langeweile oder weil es notwendig wäre, eindeckt. Erst recht, wenn man die materiellen Dinge ausser Acht lässt und die Frage stellt: Was ist wirklich wichtig?

Kinder beantworten diese Fragen anders. Und wenn sich Erwachsene mit Hilfe von Imagination, Erinnerung in ihre Kindheit zurückdenken, dann färben sich Antworten noch einmal ganz anders. SchriftstellerInnen sind Meister darin, sich in ein «fremdes» Lebensgefühl zu versetzen. Sie versetzen sich nicht nur in eine andere Zeit, eine ihnen fremde Welt, in ein konstruiertes Gefüge, in die Seele eines Menschen. Christoph Hein taucht in seinem dritten Kinderbuch in die Gedankenwelt eines Kindes, mit viel Erinnerung gefüllt, spürbar darin, weil all die elektronischen Gatgets aussenvor bleiben.

Die kindliche Erzählstimme muss für ein paar Wochen ins Spital. Und weil Eltern und Kind aus lauter Sorge versprechen, das auf nichts verzichtet werden muss, füllen sich die Koffer. Im Spital aber wird schnell klar, dass sich die wirklich wichtigen Dinge des Lebens nicht in einen Koffer packen lassen. Und so erzählt die Stimme von «allem, was du im Leben brauchst»: Freundschaft, eine Mama, Hoppelpoppel, Geschichten, etwas Weiches, ein Familie… Zwanzig Kapitel, die mich als Leser, auch mit 57 Jahren zum Denken anregen, die mich fragen lassen, was denn bei mir die Dinge sind, auf die ich nie verzichten möchte, die mein Leben bedeuten, die sich nicht in Koffer packen lassen.

Christoph Hein erzählt mit derart viel Liebenswürdigkeit von den kleinen grossen Dingen des Lebens, dass meine Ungeduld auf jenen Moment wächst, der mir die Gelegenheiten schenkt, meinen Enkelinnen und Enkeln von dem zu erzählen, was man wirklich braucht, mit den Bildern von Rotraut Susanne Berner. Und für all jene, die noch auf die übernächste Generation warten; «Alles, was du brauchst» kann auch auf dem stillen Örtchen jene Zeit erhellen, die sonst nur erleichtert.

Christoph Hein, 1944 in Schlesien geboren, studierte Philosophie und Logik in Berlin. Er arbeitet als Schriftsteller, Dramatiker, Übersetzer und Essayist. Für seine Theaterstücke, Erzählungen und Romane wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis. «Alles, was du brauchst» ist sein erstes Kinderbuch bei Hanser.

Rotraut Susanne Berner, 1948 in Stuttgart geboren, studierte Grafikdesign in München und ist seit 1977 freie Buchgestalterin, Illustratorin und Autorin. Für ihre rund 50 Bilder- und Kinderbücher wurde sie zuletzt mit dem Sonderpreis zum Deutschen Jugendliteraturpreis für ihr Gesamtwerk, dem Großen Preis der Deutschen Akademie in Volkach und dem Hans Christian Andersen-Preis ausgezeichnet. Für den Astrid Lindgren Memorial Award wurde sie mehrfach nominiert.

Christoph Hein «Gegenlauschangriff», Suhrkamp

2006 kam das Melodram «Das Leben der Anderen» in die Kinos und wurde weit über den Kontinent hinaus ein cineastischer Grosserfolg. Nach zwei Stunden Kino wusste man, wie die DDR 1984 tickte. Dass sich dabei der Regisseur ebenso viele Freiheiten nahm, als hätte er den DDR-Staat verniedlicht, wusste der unbedarfte Kinobesucher gar nicht. Der Schreibende eingeschlossen.

Christoph Hein hat sich zu seinem 75. Geburtstag selbst ein Geschenk geschrieben: «Gegenlauschangriff, Anekdoten aus dem letzten deutsch-deutschen Kriege. «Eine Autobiographie wollte und will ich nicht schreiben, das hat etwas Eitles«, antwortete Christoph Hein in einem Interview auf die Frage, ob es denn nicht Zeit für eine solche gewesen wäre. Er habe vieles aus seiner eigenen Biographie in seine Romane eingeflochten. «Gegenlauschangriff» sind Meilensteine in seiner schriftstellerischen Biographie, Erlebnisse, die entlarven, was ein System bis zum Zusammenbruch 1989 mit Vehemenz aufrecht zu halten versuchte. Bekannt wurde Christoph Hein nach der Veröffentlichung seiner Novelle «Der fremde Freund», die ein Jahr später in Westdeutschland unter dem Titel «Drachenblut» für Aufsehen sorgte.

Der Regisseur des Streifens «Das Leben der Anderen» traf sich in der Vorbereitung zu einem neuen Film mit dem Schriftsteller Christoph Hein und liess sich lange erzählen, wie das «typische Leben eines typischen Dramatikers in der DDR» ausgesehen habe. Und vier Jahre später dankte der Regisseur Christoph Hein im Abspann des Filmes. Hein schrieb dem Regisseur und bat ihn, seinen Namen aus dem Abspann zu nehmen, eine Bitte, die dieser nur schwer verstehen konnte, für Christoph Hein aber mehr als ein Zeichen zu viel war.
Christoph Hein war einer der «Aufrechten» im Land des «realen Sozialismus», sauber geblieben auch dann, als man nach der Wende die Stasiakten des Autors nach Ungereimtheiten untersuchte. Das Leben eines freien Schriftstellers in der DDR, der sich weder Mund noch Augen binden liess, war ein mühsames, sich zuweilen in skurrilen «Bürokratiesatire» verwickelnde Leidensgeschichte. Was aber ein Regisseur zu Gunsten filmischer Effekte aus dem Leben Christophs Heins machte, ist reine Fiktion und hat mit dem Leben 1984 in der DDR nur sehr, sehr oberflächlich zu tun. Einmal mehr «alternative Fakten»!

Christoph Hein erzählt vom letzten deutsch-deutschen Krieg, einem langen, kalten Krieg, dessen Opferbilanz eine ganz andere ist als die der heissen Kriege. Aber wie immer färbt die Gegenwart die Vergangenheit. Neben dem Vergessen und Verdrängen spielen Nostalgie, Schönfärberei und Naivität der Verfälschung in die Hand. «Gegenlauschangriff» präzisiert, sensibilisiert und mahnt. Erinnerungen, Anekdoten, die bewusst machen, wie viel Zeit vergangen ist, wie weit weg die Geschehnisse damals weggerutscht sind, wie leicht man vergisst und wie sehr uns das Bewusstsein von Geschichte fehlt. «Gegenlauschangriff» ist nie belehrend, höchst unterhaltsam, lehrreich und für jeden Leser des Kosmos Hein erhellend!

© Heike Steinweg/Suhrkamp

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle «Der fremde Freund / Drachenblut».
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Rezension von «Verwirrnis» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Trutz» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Philipp Lyonel Russell «Am Ende ein Blick aufs Meer», Insel

Frederick Bingo Mandeville, Meister der Selbstinszenierung, schon als Kind mit dem Namen „Spassvogel“ markiert, wird britischer Schriftsteller, ein Gigant im Literaturbetrieb mit über 50 Romanen. Und doch bleibt am Schluss eines langen Lebens nur der schwere Stein auf dem Friedhof über einem Komet, der in der Grube langsam erkaltet.

Ich nahm den Roman nur schon zur Hand, weil ihn der Schriftsteller Christoph Hein vom Amerikanischen ins Deutsche übersetzte. Der Name des Übersetzers, eines Schriftstellers, den ich seit Jahrzehnten überaus schätze, musste doch Garant und Versprechen genug sein, denn über das Pseudonym Philipp Lyonel Russell sind zumindest bis jetzt keine Rätsel zur knacken.

Frederick Bingo Mandeville geniesst bis kurz vor seinem Tod eine Sonderstellung, schon als ihn die Hebamme in die Wiege, die Ammen an ihre Brüste legten. Ein Sonnenkind. Ein Kind, das sich auch nicht grämt, als sich die Eltern wieder in den fernen Osten absetzen, um dort den hehren Aufgaben für Vaterland und Krone weiterzudienen und den Kleinen zusammen mit seinen Schwestern den Tanten überlassen.
Bingo erobert seine Welt im Sturm, obschon er von seinem Ammenduo gemästet zeitlebens den Speck nicht mehr ablegt. Trotz seiner Fülle, obwohl er in der Schule und später als Jugendlicher weder beim Militär noch im Sport zu reüssieren vermag, liegen ihm die Menschen zu Füssen. Denn Bingo kann eines wie kein anderer; erzählen. Zuerst gegen den Willen seiner Eltern in kleinen Theatern in London, später in Übersee vor immer zahlreicheren Zuschauern und Zuhörern, dann in der ‚Abtei‘, der Drehbuchwerkstatt von MPPC in Fort Lee nahe New York, dort, wo in prehollywood’schen Zeiten die zaghafte Filmgeschichte der USA begann. Schon dort beginnt Mandeville zu schreiben, Romane, die er in Schliessfächern zurückhalten muss, weil er vertraglich ganz an seinen rigiden Arbeitgeber gebunden ist.

Aber nachdem er, der allen Frauen gegenüber stets zuvorkommend und niemals aufdringlich war, eine Frau kennenlernt und von ihr zukünftig getragen wird, startet er als erfolgreicher Schriftsteller durch. Von den Fesseln der Filmindustrie und des Alltags befreit, schreibt sich Mandeville in die Herzen der Amerikaner genauso wie in jene der Europäer. Nur nicht ins Herz seines Vaters, der sich noch immer schämt über seinen aus vom britischen Selbstverständnis emanzipierten Sohn.

Frederick Bingo Mandeville ist zufrieden. Er schreibt in seinem Arbeitszimmer mit Sicht aufs Meer, seine Frau tut alles, dass er es ungestört tun kann und seine Romane verkaufen sich wie warme Semmeln.
Selbst als auf dem alten Kontinent der Krieg ausbricht, ist das nichts, was mit der Welt Frederick Bingo Mandeville zu tun hat, auch nicht in den Welten seiner Romane, die nicht abbilden sollen, womit die Gegenwart zu kämpfen hat. Mandevilles Romane sollen Erholung sein, eine Auszeit bedeuten. Selbst als England Deutschland den Krieg erklärt, glaubt er an einen Sitzkrieg, einen Drôle de guerre, einen Zustand, der mit britischer Diplomatie zu entschärfen ist. Bis deutsche Soldaten auf seinem Grundstück in Boulogne-sur-Mer auftauchen und den Schriftsteller im Viehwagon nach Spittal in Kärnten karren, in ein Internierungslager für Engländer. Aber selbst dort inszeniert er sich als „Spassvogel“, tut, was er wie kein anderer kann; Menschen mit spitzer Zunge unterhalten, selbst als ihn die Nazipropaganda über Radio Germany Calling erzählen lässt, wie fein man sich um die englischen Internierten kümmert.

Mandeville merkt nicht, isoliert von allen Informationen über den katastrophalen Kriegsverlauf, dass ihn seine britische Heimat zum Verräter abgestempelt hat. Nach dem Krieg nützen alle Beschwichtigungsversuche nichts. Sein Stern schwindet, seine Romane sollen vergessen werden, die Welt, sein Publikum wendet sich ab.

„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist ein Roman über Verblendung. Frederick Bingo Mandeville erzählt zwar, filtert seine Wahrnehmung nach dem, was in seiner geschlossenen Welt Verwendung findet, sieht aber nicht. Sieht nicht, was Leben ausmacht, sondern verkauft in Geschichten verpackt, was sein Publikum hören und lesen will. Frederick Bingo Mandeville ist ein Mann, der sich in seinem ganzen Tun der Welt mit grossem Erfolg verschliesst, dem der Erfolg recht gibt. Bis das Weltgeschehen ihn dafür straft. In der Gegenwart fordert man von keiner anderen Kunst wie der Schriftstellerei Haltung der Welt, dem Weltgeschehen gegenüber. Die Gegenwart zeigt, wie sich Autoren mit nicht mehrheitsfähiger Meinung ins Abseits reden und schreiben können (Peter Handke mit seiner Sicht auf Serbien, Uwe Tellkamp zu Flüchtlingspolitik). Selbst die Naivität eines grossen Autors wie Frederick Bingo Mandeville im Roman von Philipp Lyonel Russell wird gnadenlos bestraft.

„Am Ende ein Blick aufs Meer“ ist meisterhaft erzählt und ins Weltgeschehen eingeflochten. Ein Roman, dem man vielleicht vorhalten kann, dass einem als Leser die eigentliche Hauptperson seltsam fern bleibt. Aber vielleicht ist das Absicht, denn auch der Protagonist selbst bleibt sich fern, eingebettet in eine Welt nach seinem Geist, ein Leben lang über den Boden der Realität getragen, eingepackt in eine dicke Schicht isolierendes Fett.

Philipp Lyonel Russell wurde 1958 in der englischen Grafschaft Suffolk geboren und lehrt seit 1986 an Universitäten der Ostküste der Vereinigten Staaten, derzeit hat er einen Lehrstuhl in Boston inne. Er hat sich als Autor und Mastermind der National Science Foundation einen Namen gemacht. Seinen neuen Roman veröffentlicht er unter dem Pseudonym Philipp Lyonel Russell.

Christoph Hein, der Übersetzer, (1944) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er verfasste ein umfangreiches Werk und gilt als einer der Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Christoph Hein «Verwirrnis», Suhrkamp

Zugegeben, ich verehre diesen Schriftsteller. Und je mehr ich von ihm lese, desto tiefer brennt sich der Respekt ein. Christoph Hein erzählt mit derart viel Selbstverständlichkeit, als wäre jedes Buch mehrfach durchlebt und jedes für sich das Resultat eines ganzen Lebens. «Verwirrnis» ist die Geschichte einer Liebe, die ihren Platz nicht findet, nicht in der Geschichte, nicht in der Gesellschaft, nicht einmal im Leben der Geliebten.

Friedeward Ringeling ist ein Sonderling. Professor, ein gefeierter Intellektueller, selbst ohne Parteizugehörigkeit in der DDR von fast allen geschätzt und verehrt, aber stets ein wenig steif, distanziert, äusserst korrekt und auf dem Campus seiner Universität respektiert, auch wenn man ihn «kleiner Professor» heisst. Doch Friedeward trägt einen Schmerz mit sich herum. Er ist ein Versehrter, ein vom übermächtigen Vater Bestrafter, ein vom steinernen Katholizismus Ausgesperrter, ein Mann, der nie zu seiner Liebe zu Wolfgang stehen konnte, sie im Verborgenen leben und verlieren musste. Ein von der Geschichte Überrollter, ein Einsamer mitten in der Gesellschaft.

Friedeward lernt als Schüler Wolfgang kennen und lieben, ein ganzes Leben lang, in einer Zeit, in der eine solche Neigung nicht nur von Kirche und Gesellschaft unterdrückt wurde, sondern ein vom Staat geahndetes Verbrechen war. Seine Liebe bleibt unglücklich, auch wenn er sie mit Hilfe eines lesbischen Paars zumindest an der Oberfläche zu kaschieren vermag. Permanent in der Angst vor der Denunziation, vor dem Siebenstriemer seines Vaters, stürzt sich Friedewald in seine Arbeit und in ein geschlossenes Seelenleben, von dem nur wenige wissen.

«Verwirrnis» ist die Geschichte einer Freundschaft, einer verbotenen, nicht tolerierten Liebe zwischen Friedeward und Wolfgang. Einer Liebe, die sich im Verborgenen halten muss, hinter Mauern, am Rand der Gesellschaft. Es ist die Geschichte der DDR, ebenso eine Geschichte der Abgrenzungen und Mauern. Es ist die Geschichte einer Familie, jene Friedewards, einer Familie die sich hinter unumstösslichen Mauern der Strenge und Unduldsamkeit von einer aufbrechenden Gesellschaft abgrenzt.

„Verwirrnis“ ist als Titel des Romans genau so treffend wie verwirrend, denn zumindest im Duden scheint dieses Wort in der Form nicht zu existieren. Und trotzdem beschreibt es nicht nur das Leben Friedewards, sondern eine ganze Zeit, ein ganzes Jahrhundert.

Fiedewards Kindheit und Erziehung war geprägt von Angst, Schmerz und Verwirrungen. Sein Vater, ein Pädagoge, erzog seine Kinder mit eiserner Hand und schreckte auch nicht vor drastischen Körperstrafen zurück, selbst dann, als die DDR die Körperstrafe in Schulen schon längst gesetzlich gebannt hatte. Die Schläge des Vaters wirkten ein ganzes Leben. Friedeward fürchtet sie selbst noch vor seinem eigenen Ende, obwohl der Vater Jahrzehnte tot ist.
Der grosse „Fehler“ im Leben von Friedewards Vater war nicht so sehr die Peitsche, sondern seine Uneinsichtigkeit, des Vaters unumstössliche Überzeugung gut und richtig gehandelt zu haben. Genau die Haltung, die auch viele Überzeugte nach der Nazizeit mit in ein „neues“ Leben nahmen.

Der erste Weltkrieg war nicht mit den Unterschriften 1918 im Wald von Compiègne bei Paris beendet, der zweite Weltkrieg nicht mit der bedingungslosen Kapitulation am 7. Mai 1945, noch viel weniger die DDR mit dem Mauerfall. Jede Zeit hallt nach, so wie der erste Weltkrieg im Tod Friedewards Vater, der ein halbes Jahrhundert nach dem „Ende“ des 1. Weltkriegs an den Folgen eines Giftgasangriff starb. «Verwirrtes» ist ein Roman über Folgen und Auswirkungen.

Unglaublich mit welcher Selbstverständlichkeit Christoph Hein schreibt. Wenn ich seine Roman lese, überwältigt mich der Ton. Hein zelebrieren weder Sprache, Konstruktion noch Inhalt. Er erzählt. Und das mit derart schlafwandlerischer Sicherheit und Selbstverständlichkeit, dass es mich tief beeindruckt. Wenn ich dann feststelle, dass die Lektüre und die Gespräche darüber zu einer Entdeckungsreise werden, Schicht für Schicht, verstärkt das den Respekt vor dem Schreiben Christoph Heins noch mehr.

Grosse Literatur, einmal mehr!

© Heike Steinweg

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle «Der fremde Freund / Drachenblut».
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.

Rezension von «Trutz» von Christoph Hein auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Christoph Hein «Trutz», Suhrkamp

Christoph Heins neuer Roman „Trutz“ ist auf dem Schutzumschlag als „Jahrhundertroman“ angepriesen. Ist er das? Gemessen an der Zeitspanne, die der Roman beschreibt, mit Sicherheit. Aber auch sprachlich und in seiner Erzählweise? Christoph Hein, der seine ersten Werke noch in der DDR veröffentlichte, schrieb die Geschichte von Menschen, die der Sturm der Geschichte durch ein Jahrhundert peitscht. Er zeichnet ein Stück Weltgeschichte des 20. Jahrhunderts von Norddeutschland über Berlin und Moskau bis ins tiefste Sibirien, das mir bewusst macht, wie sehr Wohlstand und politische Stabilität zur Selbstverständlichkeit wird. Geschichte rutscht aus dem Bewusstsein weg, erst recht heute, wo Ausblenden und Verleugnen zum politischen Programm werden kann.

Christoph Hein erzählt die Geschichte von Rainer Trutz und seinem Sohn Maykl, von Waldemar Gejm und dessen Sohn Rem, von Deutschland und Russland, in denen durch die Geschehnisse des 20. Jahrhunderts kein Stein auf dem andern bleibt. Und von der Mnemotik, einer vergessenen Wissenschaft gegen das Vergessen.
Rainer Trutz entflieht der elterlichen Engstirnigkeit auf dem norddeutsche Hof ins von der Wirtschaftskrise gebeutelte Berlin, einer Stadt zwischen den Weltkriegen. Seine Hoffnungen, dort schnell eine Arbeit und einen Platz zu finden, verflüchtigen sich angesichts der grassiereden Armut und Arbeitslosigkeit. Erst durch einen Unfall, den „Zusammenstoss“ mit dem Auto einer jungen Frau, findet er einen Job als freier Mitarbeiter in Zeitungen und Zeitschriften, auch einen Platz im „Schwimmerbassin“ des „Romantischen Cafés“, wo sich die früheren Stammgäste des „Café Grössenwahn“ treffen; Schriftsteller, Maler, Journalisten, Schauspieler, Kreti und Pleti, Männlein und Weiblein der Berliner Szene. Und als dann auch noch sein erster Roman erscheint und er gemeinsam mit Gudrun eine kleine Wohnung bezieht, scheint er wider Erwarten schnell dem Ziel seiner Träume näher gekommen zu sein.
Aber Rainer stolpert. Ein erstes Mal mit seinem Roman, der seiner Frivolität wegen den moralischen Vorstellungen der aufstrebenden braunen Bewegung missfällt. Und sein zweiter Stolperer ist sein zweiter Roman, der in der Presse als „Wühlarbeit einer roten Ratte“ diffamiert wird. Rainer gerät unversehens zwischen die Fronten, muss fliehen, zuerst aus seiner Wohnung, später ganz aus Deutschland, mangels Alternativen ins sowjetische Moskau. Gudrun arbeitet nicht mehr als Gewerkschaftssekretärin, sondern an den Maschinen einer Schokoladenfabrik. Rainer mit seinen zwei linken Händen in der „Brigade Karl Marx“, die mit andern das Vorzeigeprojekt Metro in der sowjetischen Hauptstadt zu Ehren Stalins vorantreiben soll. Rainer überlebt die moskauer Jahre nur, weil er Wladimir Gejm kennenlernt, einen hochdekorierten Professor für Mathematik und Sprachwissenschaft an der Lomonosow-Universität. Ein Gelehrter, der mit seiner Wissenschaft der Mnemotik, der Lehre von Ursprung und Funktion der Erinnerung (Keine Erfindung des Autors!) Neuland betritt und darin Rainers Sohn Maykl und seinen eigenen Sohn Rem zu Probanden dieser neuen Technik macht. Zwei Familien wachsen zusammen. Für wenige Jahre bedeutet es das grosse Glück der beiden Kinder Maykl und Rem, die wie Brüder zueinander aufwachsen.
Aber die Mühlen der Geschichte drehen unberechenbar weiter. Manchmal ändert die Drehrichtung vollkommen. In den Wirren der verschiedenen russischen Säuberungsaktionen, in denen sich nicht nur Stalin, Generalsekretär und Diktator der Sowjetunion von scheinbaren Konkurrenten befreit und damit Tausende der Willkür und Denunziation zum Opfer fallen, wird auch Rainer Trutz wegen einer Buchbesprechung in seiner Berliner Zeit zu fünf Jahren Zwangsarbeit in einem sibirischen Lager verurteilt. Ebenso Professor Gejm, dessen Lehrstuhl aufgelöst, alle Manuskripte und Unterlagen vernichtet werden, um ihn zuerst in die Garderobe eines Moskauer Theaters und später in eine Besserungsanstalt, wo er Bäume fällen soll.
Familien werden auseinandergerissen, Leben zerbrochen. Christoph Hein erzählt das Panorama zweier Familien über fast hundert Jahre. Eine Geschichte, von der Christoph Hein vor dem ersten Kapitel erklärt: „In diesen Roman geriet ich aus Versehen, oder viel mehr durch Bequemlichkeit.“ Eine Geschichte, die erzählt werden musste!
Ein Buch, das ich atemlos bis zur letzten Seite las. Ein Buch, das mich bewegt, wie alle Bücher des grossen Autors, der erst im Jahr 2016 mit „Glückskind mit Vater“ (ebenfalls auf literaturblatt.ch besprochen) bei Suhrkamp einen tief beeindruckenden Roman veröffentlichte. Christoph Hein fesselt jene genauso, die nach historischen Stoffen dürsten, wie jene, die sich gerne über grosse Erzählbögen von Geschichten mitreissen lassen. Ich spüre Christoph Heins Pflicht, sich mit den Wirrungen der unmittelbaren Geschichte auseinanderzusetzen, mit Verantwortung für die Gegenwart, ohne dass er mit einem Mahnfinger drohen muss.
„Trutz“ ist grosse deutsche Literatur!

Christoph Hein wurde am 8. April 1944 in Heinzendorf/Schlesien geboren. Nach Kriegsende zog die Familie nach Bad Düben bei Leipzig, wo Hein aufwuchs. Ab 1967 studierte er an der Universität Leipzig Philosophie und Logik und schloss sein Studium 1971 an der Humboldt Universität Berlin ab. Von 1974 bis 1979 arbeitete Hein als Hausautor an der Volksbühne Berlin. Der Durchbruch gelang ihm 1982/83 mit seiner Novelle „Der fremde Freund / Drachenblut“.
Hein wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Uwe-Johnson-Preis und Stefan-Heym-Preis.