Karl-Heinz Ott «Und jeden Morgen das Meer», Hanser

Sie ist abgetaucht, hat mit ihrem alten Leben gebrochen, radikal und unumkehrbar. Die Frau, die im Lindenhof am Bodensee zusammen mit ihrem Mann einen Gourmettempel führte, wo sich die Prominenz die Klinke gab, führt inkognito ein altes, ausgezehrtes Hotel an der walisischen Küste und versteckt sich vor allen, auch vor sich selbst.

Kann man seiner Vergangenheit den Rücken kehren? Kann man neu beginnen oder ist aller scheinbarer Neubeginn eine Flucht vor dem Alten, von dem man sich nicht wirklich lösen kann?
Sonja war 30 Jahre an der Seite ihres Mannes Bruno Chefin eines Hotels, sie an der Front, Bruno in der Küche. Der Fluch begann an jenem Tag, als Bruno für seine Küche einen Stern bekam. Was dem Gast Massstab ist, von der Öffentlichkeit als Adelstitel auf Zeit interpretiert wird, was zum Tor zur Öffentlichkeit werden kann, war für Sonja und Bruno der Beginn des Untergangs. Das Leben, das bis zum Stern schon hart genug war, nimmt nach der Auszeichnung an Härte nur noch zu. Erwartungen steigen ins Unermessliche, alles soll perfekt sein. Nicht bloss das Essen auf dem Teller, sondern das ganze Haus, das nicht nur nach Pinsel und Farbe schreit, sondern nach einer rigorosen Sanierung. Aber woher das Geld, wenn der Betrieb alle Einnahmen schluckt? Woher die Energie, wenn die Arbeit alles frisst, selbst das wenige, das vom Eheleben übrig geblieben ist.

Wärs nur die Geschichte eines unaufhaltsamen Untergangs. Aber es ist auch die Geschichte unendlicher Herablassung, denn niemand anders als Brunos Bruder zwingt Sonja das Jahrzehnte alte Zentrum ihres Daseins von einem Tag auf den anderen zu verlassen. Eine Mischung aus Zwang, Erniedrigung und Nötigung lässt Sonja überstürzt die Koffer packen, alles stehen und liegen lassen und an einen Ort ziehen, von dem sie nicht einmal die Ortsnamen aussprechen kann.

Alles, was sie an dem öden Ort hält, ist das Meer, der Blick in die Weite. Hier scheint ihr nutzlos gewordenes Leben in bester Gesellschaft zu sein, ein Ort, an dem nichts nach Effizienz und Perfektionismus gemessen wird. Auch wenn sie sich dort fremd fühlt, ist das marode Hotel am Ufer des Meeres genau jener Spiegel, den Sonja braucht. Was zählt, ist nicht mehr bloss Fassade und Inszenierung, sondern jener Moment, in dem man ganz bei sich ist. Mit dem Blick aufs Meer, der ein Blick in die Ruhe, in die Weite, in die Tiefe, ein Blick zurück ist.

Sonja resümiert. Ein Mann, den seine Arbeit in den Tod stiess. Eine Ehe, die längst den Zauber verloren hatte, keine Kinder, keine Familie, nicht einmal Freundschaften, die sie über die letzte Krise hinausgetragen hätten. Schuldgefühle nach dem Tod ihres Mannes, Schuldgefühle sich selbst gegenüber, weil sie sich mehrfach durch den Bruder ihres Mannes bedrängen liess.

Karl-Heinz Otts Blick auf das Geschehen ist weder melancholisch noch tiefenpsychologisch. Seine Schilderungen des Daseins einer Highendküche, dem perfekten Betrieb auf einem Kreuzfahrtschiff, dem katholischen Internat, in dem Sonja schon früh genug gezeigt wurde, was richtig und falsch war und der Ödnis walisischer Küstenprovinz sind herrlich, sinnlich und entlarvend.
So kurz der Roman, so tief der Blick!

Karl-Heinz Ott, 1957 in Ehingen an der Donau geboren, wurde für sein Werk mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Förderpreis des Friedrich-Hölderlin-Preises (1999), dem Alemannischen Literaturpreis (2005), dem Preis der LiteraTour Nord (2006), dem Johann-Peter-Hebel-Preis (2012) und dem Wolfgang-Koeppen-Preis (2014). Zuletzt erschien bei Hanser sein Roman «Die Auferstehung» (2015).

Beitragsbild © Sandra Kottonau