Manchmal macht Lesen richtig glücklich. Man legt sich nach der letzten gelesenen Seite das Buch auf die Brust, schliesst die Augen und lässt diesen einen magischen Moment noch eine Weile nachklingen, den Nachglanz, das wohlige Gefühl, dass die Lektüre eines solchen Buches hervorruft. Mit «Lied der Weite» von Kent Haruf passierte es! Und wie!
Letzthin besuchte ich zum allerersten Mal einen Freund in dessen Wohnung. Einen Leser! Was für ein Vergnügen, vor dessen Bücherregalen zu stehen. Viele meiner Lieblinge, Favoriten und Geheimtipps waren da, spiegelten sich im Regal meines Freundes. Aber es gab auch Namen, die ich gar nicht oder nur vage kannte. Einer von ihnen war Kent Haruf, ein amerikanischer Schriftsteller, der 2014 mit 71 Jahren starb.
Kent Haruf schrieb sechs Romane. Mittlerweile sind vier von ihnen bei Diogenes erhältlich. Ich fragte meinen Freund, mit welchem Buch ich in die Haruf’sche Welt eintauchen sollte. „Lied der Weite“, meinte er. Was ich dann auch tat und mit grösstem Lesevergnügen belohnt wurde. Ein Lesevergnügen, dass förmlich nach Vertiefung ruft und mich zwang, schon einmal auf Vorrat die anderen drei Romane anzuschaffen.
Kent Harufs Romane spielen alle in einer fiktiven nordamerikanischen Kleinstadt namens Holt, ein paar Autostunden entfernt von Denver. Ein Kaff. Haruf generiert Bilder, zumindest bei mir, die mich an solche des Malers Edward Hopper erinnern. Bilder, die sich nicht zu bewegen scheinen, Bilder, die nichts verklären, ganz im Gegenteil. Standbilder, die sich in die Erinnerung eingraben.
Victoria ist 17. Sie ist schwanger. Und als die Übelkeit und das Verlangen, das Geheimnis mit jemandem zu teilen, die junge Frau zwingen, es der Mutter erzählen, stellt die Mutter die Tochter vor die Tür. Ihr ging es damals genauso. Eigentlich hätte es ihre Tochter besser machen sollen. Der Ausschluss ist endgültig, die Tür bleibt zu. Auch jene zu dem nicht viel älteren Jungen, den sie beim Tanzen kennenlernte und sie irgendwann wie eine leergetrunkene Dose stehen liess.
Kent Haruf «Lied der Weite», Diogenes Taschenbuch, 2019, 384 Seiten CHF 17.90, ISBN 978-3-257-24503-5
Tom Guthrie ist Lehrer in Holt. Eigentlich ein guter, wohlgesonnener Lehrer, wenn da nur der eine Junge nicht wäre und seine renitenten Eltern. Eine Familie, die ihn aus der Reserve lockt, die ihn seine Ruhe vergessen lassen. Der eigentlich genug an den Sorgen um seine Familie hat, mit einer Frau, die in ihren Depressionen erstickt und den beiden Jungs Ike und Bobby, die nicht wissen wie ihnen geschieht, denen man keine Fragen mehr beantwortet, viel zu oft sich selbst überlassen werden. Tom Guthrie versucht alles, um seine Mitte nicht zu verlieren, etwas, was ihm genommen wird, als ihm vor seinem Schulzimmer einer seiner Schüler die Faust ins Gesicht schlägt.
Und die alten Brüder McPherons, die weit draussen seit Jahrzehnten eine Farm betreiben, mehr schlecht als recht, sich längst in ihrem Alleinsein eingerichtet haben, jeden Tag nehmen, wie er kommt. Es ist kalt in Holt. Im Haus der McPherons ist es auch kalt. Man spricht nicht viel, die Zeit ist liegen geblieben, wie alles andere auch, ausser das Vieh und die Kühe, die trächtig sein sollen, damit es einen Frühling geben kann. Eines Tages steht eine junge Schwangere vor der Tür, Victoria. Die beiden nehmen sie auf, richten ihr das Zimmer, in dem einst die Eltern schliefen. Victoria bleibt, auch wenn die McPherons nur zögerlich lernen, mit der jungen Frau umzugehen.
Das Leseglück, das sich einstellt, passiert nicht, weil die Geschichte wie Honig fliesst. In Kent Harufs Geschichte sitzen Stacheln! Er schmeichelt nicht. Keine Sonnenuntergänge, kein Kitsch, keine Romantik, dafür ganz viel Liebenswürdigkeit neben Abgründen. Kent Haruf lässt sein Personal nicht grundsätzlich scheitern. Es sind nicht die Katastrophen, die Kent Haruf zu einem Buch macht, sondern die Stimmungen, die er mit seinem Erzählen evoziert. Haruf schreibt seismographisch.
Kent Haruf, geboren 1943 in Colorado, war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers’ Award, dem Wallace Stegner Award und dem Mountains & Plains Booksellers Award ausgezeichnet. Sein letzter Roman, «Unsere Seelen bei Nacht», wurde zum Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Haruf starb 2014.
Rudolf Hermstein, geb. 1940, studierte Sprachen in Germersheim und ist der Übersetzer von u.a. William Faulkner, Allan Gurganus, Doris Lessing, Robert M. Pirsig und Gore Vidal. Er wurde mit dem Literaturstipendium der Stadt München sowie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet.
Eine junge Fremdsprachensekretärin im sowjetrussischen Aussenministerium gerät 1941 in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen. Einem jungen Mann wird im Minsk der Gegenwart durch einen tödlichen Tumor die Frau genommen, die Frau, die sein Kind in ihrem Bauch trägt. Sasha Filipenko hat in seinem Romandebüt viel gewagt und viel gewonnen. Mit Sicherheit viele begeisterte LeserInnen!
Alexander ist noch jung. Er versucht in Minsk, der Hauptstadt Weissrusslands, einen neuen Lebensabschnitt, vielleicht sogar ein neues Leben zu beginnen. Noch ist seine kleine Tochter bei seinen Eltern, die Wohnung leer und hohl, das Neue nicht begonnen, das Alte noch viel zu nahe. In der Wohnung gegenüber wohnt eine alte Frau, allein, wie die Maklerin erzählt, mit Alzheimer, wohl nicht mehr lange. So wie Alexander, nachdem ihm eine heimtückische Krankheit die Frau weggerissen hatte, ein neues Leben zu finden versucht, neuen Tritt, so versucht sich die neunzigjährige Tatjana Alexejewnaauf der anderen Seite des Treppenhauses gegen das Verschwinden ihrer Erinnerungen zu stemmen. Alexander will sich von der Vergangenheit befreien. Tatjana Alexejewna will retten, was angesichts der sich einschleichenden Krankheit noch zu retten ist.
Sie treffen sich im Treppenhaus. Alexander will eigentlich seine Ruhe. Aber Tatjana setzt alles daran, den neuen Nachbar in ihre Geschichte hineinzuziehen. Sie will erzählen, „weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu.“ Aber wenn ihre Erinnerungen so einfach ausgelöscht werden, dann scheint Gott sie ein letztes Mal von der Klippe zu stossen. Deshalb lässt Tatjana wenig Widerspruch zu, als Alexander ihr den Rücken zeigen will.
Unwillig folgt Alexander ihr in ihre übervolle Wohnung, die mehr einem Atelier gleicht. Überall stehen Bilder herum, für ihn nicht ersichtlich ob fertig oder nicht. Tatjana erzählt; von ihren Eltern, die sich in Paris kennenlernten, wie sie in London 1910 zur Welt kam, wie ihr Vater nach der russischen Revolution in diesem neuen Land, an diesem neuen Aufbruch teilhaben wollte, wie sie mit neunzehn im Tessin war und im kleinen Porlezza auf der anderen Seite der Grenze einen jungen Mann kennenlernte, wie sie nach Moskau zurückkam, ihren Vater begrub und eine Stelle beim NKID, beim Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, dem heutigen Aussenministerium bekam.
Alexander hört zu, ein Leben wie jedes andere. Bis Tatjana davon erzählt, dass ihr Mann während des 2. Krieges in Gefangenschaft geriet und sie seinen Namen auf einer Liste des Roten Kreuzes fand. Alexander hört weiter zu und wird Zeuge eines Schicksals, einer Familie, einer Frau, die in den Mühlen der Geschichte beinahe zerrieben wurde und nur unter absoluter Kraftaufwendung aufrecht bleiben konnte. Tatjana gerät als Frau eines „Landesverräters“ in Lagerhaft, wird von ihrer Tochter getrennt, verliert alles – nur ihren Kampfeswillen nicht. Das, das spürt sie, was ihr der Alzheimer nehmen kann.
Alexander kann sich der Ehrlichkeit, der offensiven Nähe seiner Nachbarin nicht entziehen. So sehr nicht, dass Tatjana es schafft, dass auch Alexander zu erzählen beginnt. Seinem Leben als Schiedsrichter, dem einen Abend, als er seine zukünftige Frau kennenlernt, ihrem gemeinsamen, unschuldigen Glück und dem Moment, als man ihnen im Krankenhaus eröffnete, dass Alexanders Frau noch vor Ende ihrer ersten Schwangerschaft an den Folgen eines Hirntumors sterben wird. Der Mann, der auf dem Fussballfeld über richtig und falsch entscheidet, dem wird jede Entscheidung aus der Hand genommen. Bis es an ihm liegt, ob man nach dem langsamen Sterben und dem klinischen Tod seiner Frau alles daran setzen soll, das neue Leben im Leib seiner Frau mit allen medizinischen Mitteln zu ermöglichen. Ein Zustand, der kaum auszuhalten ist. Während seine Frau für tot erklärt wird, liegt ihr noch immer künstlich warm gehaltener Leib auf einer Liege im Spital, für niemanden mehr erreichbar.
Aber Lisa kommt zur Welt.
Tatjana wurde durch die Geschichte Mann und Tochter genommen. Alexander rettete wenigstens seine Tochter. Und doch sind sie beide Verlassene, jeder auf seine Art mit dem Vergessen konfrontiert.
Sasha Filipenko ist ein ausserordentlicher Roman gelungen. Geschichte spielt mit uns. Tatjana ist in ihrem fast hundertjährigen Leben selbst als Sekretärin im NKID mitten im Krieg. Sie bearbeitet Anträge der verschiedensten Kriegsparteien, die sich um Kriegsgefangene bemühen – und in den Mühlen der UdSSR abgeblockt werden. Bis auch der Name ihres Mannes auftaucht. Alexander ist Opfer eines anderen Krieges, eines scheinbar kleinen Krieges, dem Töten, das eine Krankheit anrichtet. Zwei Geschichten prallen aufeinander und aus der anfänglich einseitigen Anhänglichkeit der alten Frau wird eine Freundschaft über den Tod hinaus. Sasha Filipenko wählt dabei eine ganz spezielle Erzählstrategie, denn immer wenn Tatjana oder Alexander zu erzählen beginnen, kippt während zwei Sätzen die Perspektive. Ich tauche in einem einzigen Satz weg vom Erzähler direkt ins Geschehen. Eine Strategie mit ungeheurer Wirkung. Sasha Filipenko erzeugt einen Strudel, dem man sich nicht entziehen kann.
Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist weissrussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. «Rote Kreuze» ist der erste seiner fünf Romane, der auf Deutsch erscheint. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und lebt in St. Petersburg.
Ruth Altenhofer, geboren 1979, studierte Slawistik in Wien sowie in Rostow am Don und Odessa. wurde 2012 und 2015 für Übersetzungen von Marina Zwetajewa/Boris Pasternak und von Wjatscheslaw Pjezuch mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.
Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“ , seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.
Im Wissen darum, dass es absolut nicht selbstverständlich ist, dass der Betrieb eines Literaturhauses in diesen Zeiten aufrecht erhalten werden kann und darf, war der Abend mit Joachim B. Schmidt gut besucht und zeigt, wie sehr man gerade jetzt nach Kultur lechzt. Ein Abend mit Literatur. Ein Abend in Island in einem kleinen Dorf ganz im Norden der Insel, die nicht nur beim Schriftsteller selbst ein Sehnsuchtsort ist. Ein Abend mit Leidenschaft und Witz, mit Spontaneität und tiefen Bildern!
„Kalmann“ ist mehr als ein Buch. Vielleicht ist „Kalmann“ sogar ein Lebensgefühl. Wenn Joachim B. Schmidt aus seinem Roman liest, wird Kalmann lebendig, sein Grossvater, das Meer, die Kälte, Raufarhövn, dieses Dorf, das auch in Wirklichkeit auf verlorenem Posten steht, heruntergewirtschaftet, vergessen, irgendwie auf der anderen Seite der Zivilisation.
Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2
Joachim B. Schmidt wollte eigentlich einen Krimi schreiben. Auch ein bisschen aus der Verzweiflung heraus, dass sich seine ersten drei Romane nicht annähernd so verkaufen liessen, dass eine Familie sich damit nur ein Zubrot verdient hätte. Mit einem Krimi, einem Islandkrimi, hätte es klappen sollen. Das eine klappte, das andere nicht. Denn obwohl reichlich Blut fliesst, die Polizei zuweilen mit einem Grossaufgebot auftaucht, Drogen in Unmengen versteckt werden, ist „Kalmann“ kein Krimi geworden. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte an eine Insel, an die Menschen, an einen Ort, an diesen einen Menschen, der zufrieden in seinem Häuschen lebt, Polarfüchse vom Dorf fern hält und manchmal mit Petra hinaus aufs Wasser fährt um Grönlandhaie zu fangen, die er nach dem Rezept seines Grossvaters zu Gammelhai verarbeitet. Kein Krimi, aber der Erfolg seines Romans stellte sich trotzdem ein. Vielleicht deshalb erst recht.
Wer den Zeiten zum Trotz doch noch Zeuge einer der zauberhaften Lesungen mit Joachim B. Schmidt lauschen möchte, findet Infos dazu auf seiner Webseite.
Lesen Sie „Kalmann“!
«Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.» Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch
«Was gibt es Schöneres, als mit einem Freund die Bühne zu teilen. Takk fyrir mig, kæri Gallus. Der Auftritt im Bodman-Haus wird mir in guter Erinnerung bleiben, mehr noch: DAS Highlight auf meiner Schweiz-Tournee 2020. Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt»
Raufarhövn liegt ganz im Norden Islands. Dort wacht Kalmann über Raufarhövn. Ein Kaff, das im weissen Nichts zu verschwinden droht. Doch als Kalmann mit dem Verschwinden des Dorfkönigs konfrontiert wird und er fremdes Blut von seinen Händen putzen muss, drohen Helikopter den Frieden aus dem Dorf zu fegen. „Kalmann“ ist ein Geschenk!
Wenn es in Island Frühling ist, ist es noch immer kalt. Mitteleuropäische Frühlingsgefühle würden erfrieren. Aber Kalmann kennt nichts anderes. Er wohnt schon immer in Raufarövn (gesprochen: Reuwarhöbb), weit weg von Reykjavik, der Hauptstadt des Inselstaates. Kalmann gehört zum Dorf. Man nennt ihn Sheriff, weil er mit einem Cowboyhut und einem Sheriffstern durch die Landschaft zieht, manchmal auf der Jagd nach einem Polarfuchs, manchmal aber einfach, weil ihn etwas zieht. Manchmal auch mit seinem kleinen Boot aufs Meer, wo er mit eingelegten Fleischködern Grönlandhaie fischt und seinen Fang zu Gammelhai verarbeitet, einem isländischen Gericht, das aber nur echten IsländerInnen eine Gaumenfreude sein kann. Von seinem Grossvater hat er das Rezept. Aber der ist in einem Altersheim, ein- und weggesperrt. Sein Grossvater ist das einzige im Leben Kalmanns, das wirklich zählt. Freunde gibt es nicht, höchstens Noì, aber den trifft er nur im Netz – und eine Frau will ihn nicht.
Eigentlich heisst Kalmann Kalmann Óðinnsson. Aber in Raufarhövn ist Kalmann nur Kalmann. Ein Sonderling, einer, den man gewähren lässt, der keiner Fliege was zu Leide tun kann, der seine Sonderbarkeiten immer nach dem gleichen Muster haben will, zum Beispiel den immer gleichen Tisch für seinen Hamburger im Imbiss, auch wenn dieser Tisch von den einzigen Gästen sonst belegt ist. Und Kalmann ist ehrlich, so ehrlich wie niemand sonst, nimmt alle beim Wort.
Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2
Eines Tages findet Kalmann auf einem seiner Streifzüge auf der Ebene Melrakkaslétta mitten im Schneegestöber eine grosse Blutlache. Während der Schnee rundum ansetzt, schmilzt er auf dem Blut, dass auch für Kalmann nicht von einem Tier sein kann. Viel zu viel. Und Abdrücke im Schnee, hinunter zum Hafen. Kalmann erzählt es im Dorf. Und weil dort der einzige Mann mit Geld fehlt, muss es Róbert McKencie sein, dem das Hotel gehört, der die Rechte für die Fischgründe um Raufarhövn verhökert und wie niemand sonst im Dorf Feinde genug hat. Der, der nicht weit vom Dorf mit dem Bau eines modernen Steinkreises begonnen hat, dem Arctic Henge, einem Monument für den rettenden Tourismus in einer Gegend, die sonst nicht viel oder fast nichts zu bieten hat (Der Arctic Henge existiert wirklich!).
Das sonst so geregelte und stille Leben Kalmanns gerät aus dem Gleichgewicht. Plötzlich ist Polizei im Dorf und er, der Sheriff, im Brennpunkt ihres Interesses. Nicht weil er zu den Verdächtigen zählt, sondern weil die Ermittlerin Birne aus der Stadt schnell spürt, dass Kalmann bei der Wahrheit bleibt, sich niemals in ein Lügengeflecht begeben würde. Selbst als in einem Hai, den Kalmann aus dem Meer fischt, eine abgeschnittene Hand auftaucht, selbst als im Meer eine Tonne mit Rauschgift gefunden wird, selbst als ein Helikopter in Raufarhövn landet und ein halbes Dutzend schwer bewaffneter Polizisten über Kalmann herfallen.
„Kalmann“ ist kein Krimi, selbst wenn gewisse Ingredienzen daran erinnern. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an einen Sonderling, an einen Menschen, der nicht so tickt wie alle andern. Kalmann ist ein Original, mag sein, dass es dafür auch eine ziemlich abwertende medizinische Bezeichnung gibt. Aber Kalmann in Raufarhövn hat wenigstens Platz in seinem Dorf, wird nicht in eine Institution eingegliedert, weil man ihm eine Existenz im allgemeinen Wahnsinn der Gegenwart nicht zutraut. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte an Joachim B. Schmidts neue Heimat, „seine“ Insel, die Leere, die Ödnis. Joachim B. Schmidt liebt Island so wie es ist, nicht so wie es einmal war, auch wenn er sich als Reiseführer und Journalist bestens in der isländischen Geschichte auskennt.
Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.
12. Literaturblatt
„Kalmann“ ist höchstes Lesevergnügen! Noch vor ein paar Jahren meinte Joachim B. Schmidt in einem Interview auf literaturblatt.ch: «Ich bin noch immer auf der Kippe. Wenn ich nicht bald mal meinen Lebensunterhalt als Schriftsteller bestreiten kann, muss ich eine andere Tätigkeit suchen. Momentan verdiene ich mein Brot als Reiseleiter und Filmkritiker.» Es waren drei Romane, Romane, die das Zeug hatten, die all jene begeisterten, die ein Exemplar davon gelesen hatten, die sich an einer seiner Lesungen in der Schweiz betören liessen. Aber wenn einem kleinen Verlag (Landverlag) schlicht Ressourcen und Mittel fehlen, um Türen weit aufzureissen, dann ist es nicht verwunderlich, dass Qualität allein nicht ausreichen kann, selbst mit einer Einladung an die Solothurner Literaturtage 2013. Am Verlag damals lag es nicht, sondern an den Ohren und Augen, die nicht hören und lesen wollten! Damals war es sein erster Roman «Küstennähe», von dem ich auf meinem 12. Literaturblatt schrieb: «Der junge Bündner Autor, der auf Island mit seiner Familie lebt und schreibt, hat mehr als ein Buch über isländische Gegenwart geschrieben. Es geht um das Geheimnis wirklicher Beziehungen, das Geheimnis um Liebe und Freundschaft, nicht zuletzt um die Liebe des «Helden» zu sich selbst. Und das alles so meisterlich geschrieben, dass man staunt und hofft, einen neuen Stern am Literaturhimmel entdeckt zu haben.«
Und nun ist zu hoffen, dass es Joachim B. Schmidt doch noch geschafft hat, dass er seine Schriftstellerei nicht aus Gründen der Wirtschaftlichkeit, weil eine Familie zu ernähren ist, an den Nagel hängt. Die Zeichen stehen gut!
Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist, Autor dreier Romane, die in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental erschienen und diverser Kurzgeschichten. 2007 ist er nach Island ausgewandert, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.
Charles Lewinsky ist ein exzellenter Geschichtenerzähler. Sein neuester Streich «Der Halbbart» ist eine wahre Fundgrube hunderter Geschichten, die der Schriftsteller zu einem grossen, epischen Ganzen verbindet. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat ihn schon zum dritten Mal.
«Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.»
Anfang des 14. Jahrhunderts schwelt ein Streit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Bauern, die Land und Wälder des Klosters bewirtschaften. Und weil das Kloster unter der Schirmherrschaft der Habsburger steht, wird aus dem konfliktreichen Nebeneinander ein Konflikt, der das Potenzial gehabt hätte, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen. Glücklicherweise sind die Habsburger aber so sehr mit sich und der Nachfolge nach dem Tod Heinrich VII beschäftigt, dass der Marchenstreit erst 2 Jahre nach den Geschehnissen, die im Buch beschrieben werden, zur Schlacht bei Morgarten führen.
Warum erzählt Charles Lewinsky eine Geschichte, die um 1313 spielt? Mag sein, dass ihn eine Zeit lockte, die im «eidgenössischen» Bewusstsein über Jahrhunderte allzu sehr verklärt wurde, durch männliches Heldentum aufgeblasen und durch staats- und kulturhistorische Glorie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Mag sein, dass der Protagonist Sebi ein Geschichtensammler ist und zu einem Geschichtenerzähler werden will und das Geschichtenerzählen damals noch aus fast nur mündlicher Überlieferung bestand. Das Volk konnte weder lesen noch schreiben. Und Geschichten trösteten oft genug über das eigene sorgenvolle Leben, kalte Winternächte und angstvolle Abende. Aber vielleicht ist jene Zeit vor 700 Jahren der unsrigen gar nicht so fremd. Man hatte Angst vor fremden Mächten. Zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden war damals nicht einfacher als heute. Oft genug und gut genug erzählt wurden und werden Unwahrheiten zu Wahrheiten. Die Angst, damals der Teufel, heute Teufelszeug, war allgegenwärtig und Klassenbewusstsein Grund genug, dass niemand seine Privilegien opfern wollte.
«Ein Gerücht muss nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es muss nur geglaubt werden.»
Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes, 2020, 688 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-257-07136-8
Der begnadete Geschichtenerzähler Charles Lewinsky erzählt die Geschichte des begnadeten Geschichtenerzählers Eusebius, Sebi, und die eines Mannes, der im gleichen Dorf wie Sebi auf seiner langen Flucht strandet. Alle nennen ihn nur Halbbart, ein Mann, dessen eine Gesichts- und Körperhälfte verbrannt und verkrustet ist, der aus einem alten Leben floh, der viel mehr weiss als fast alle im Dorf und der einen prallvollen Sack an Geheimnissen mit sich herumträgt. Geheimnisse, die Sebi und ich als Leser nur ganz langsam, häppchenweise erfahren. Halbbart schleppt ein Trauma mit sich, das Trauma einer Verbrennung, vieler schrecklicher Tode, das Trauma eines lauernden Feindes.
Sebi hats nicht einfach. Er ist der Jüngste in der Familie. An Mutter und Vater kann er sich kaum erinnern, höchstens aus den Erzählungen – und seine beiden grossen Brüder sind im Umgang mit ihm alles andere als zimperlich. Schnell ist klar; Sebi ist ein «Finöggel» und für die Arbeit auf dem Feld nicht zu gebrauchen. Auch nicht als Gehilfe des Totengräbers und nicht einmal im Kloster, in der Hoffnung, dereinst lesen und schreiben zu lernen. Schliesslich wird er zum Gesellen der Teufels-Anneli, einer umherziehenden Geschichtenerzählerin. Sebi wird das, wonach er sich sehnt, auch wenn er immer zwischen den Fronten bleibt.
«Wenn der Schnee klafterhoch liegt, kann ein Vogelschiss genügen, um eine Lawine auszulösen.»
Doch, Charles Lewinsky kann es. Er kann es mit übersprudelnder Vielfalt, mit einer Authentizität, die mir als Leser das Gefühl gibt, Charles Lewinsky hätte den unerschöpflichen Quell aller Phantasie gefunden. Und wer wie ich die Vielfalt, den Fleiss, und die unbestreitbaren Qualitäten des Tausendsassas kennt, würde ihm am liebsten den Titel «Sir» verleihen. Ein Roman über die Macht von Geschichten und die Wertlosigkeit so mancher Wahrheit. Heute wie früher – es wird munter erfunden, nicht nur aus Spass und Not, sondern strategisch. Dass aus Erfindung Lüge wird, ist auch keine Erscheinung der Gegenwart, nicht einmal die Schwierigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden. Der Unterschied liegt im Bewusstsein des «Konsumenten», der aus der Lüge den Hass extrahiert. Aber dem neuen Roman scheint trotz aller Üppigkeit und Fabulierkunst etwas zu fehlen; beiden Protagonisten scheint das Blut in den Adern nicht warm genug zu fliessen. Weder der junge Geschichtenerzähler noch der Halbbart, der zum Erfinder der Halbbarte (Hellebarde) wird, schlüpft einem während der 680 Seiten Lektüre unter die Haut. Es reiht sich Geschichte an Geschichte, Bild an Bild, Clou an Clou (was der Serienschreiber vorzüglich beherrscht). Aber mir wird nicht warm. Schade.
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. Sein jüngster Roman «Der Halbbart» hat es auf die Shortlist des Deutschen und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.
Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!
Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet. Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch
Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.
Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt. Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch
Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.
Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell! ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch
Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!
als ob da im dunkeln was umkippt
hinter dem brustbein und beim atmen verschüttet.
jetzt, wo die luft so kühl und die blicke der andern
so zugefenstert, als ob da was scheuert und knotet,
als ob die ellbogen einwärts knicken und durch die rippen
nach innen wachsen, als ob auch die hände einwärts ästeln.
als ob da ein wald unter der zunge, ein blättriger
störton im hals; und dann das krachen der äste
hinter den augen, die zunehmende vermoosung
der gedanken – bis da aussen ein wald ums bett
und innen die fäuste, im rippentresor.
aufgewachsen
es ist nur noch ein leises da:
zwischen den zweigen ein schnittpunkt
den es damals schon gab, die hierarchie
der pflastersteine, leicht verschoben nur
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten und
was kümmert den hasel sein wachsender schatten
was die hagenbutte der fortgang der zeit;
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre, auf der abgespielten haut.
1992
hattest beschlossen, dich bis zum gefrierbrand zu monden,
bis zur verbleichung durch den schnee zu stapfen
und stehst jetzt stattdessen so knie gegen heizstab, beschlägst
die scheiben mit tauendem gedankenfrost. hinterm kondensat:
der durchstapfte rasen, aneinander geflockte weggehversuche;
heimlich und klein und tief gefroren. – stehst ganz handwarm jetzt,
in deiner radiatorenstille, und enteist die wut in deinen fäusten.
langschlaf
dein händegeweih. und dann zwischen den lippen
ein wortwild ganz scheu, seine hufe dampfen vom laufen
im moos, so sprichst du, den rücken noch feucht
vom moos deiner träume und alles im zimmer
bleibt unterholz nach solchen nächten, bleibt
wurzelwerk und die ohren nach innen.
im feriehaus
abends, wenn im seetal die laternen angehen,
mir beweisen, dass wieder ein tag überstanden ist,
mach ich mir gierig eine erinnerung ans uns auf,
schlinge sie roh und im stehen; lehne dann
klumpbäuchig am kühlschrank und hasse den mond,
der wahllos jeden scheiss versilbert.
strawberryfields forever
und selbst wenn wir liegen, mit den ohren im gras,
den mündern in der sonne, den händen im salbei,
mit erdbeerzungen einander süsses sagen:
sorgsam gepflücktes beschwichtigungsobst;
selbst wenn wir uns auf instagram ins abseits liken,
gartenzaun an gartenzaun, labiles gewissen umhegen:
# strawberrymoments; selbst dann kandieren wir heimlich
ein paar idyllen für später, für tage, die mager sind,
den outgesourcten frost, der wieder heimfinden wird,
irgendwann, und die früchte verbittern.
ans eingemachte
dein schweigen ein einweckglas, hygienisch
ausgekocht deine herzkammerwände, lückenlos
das vakuum deines rückzugs. weck sie nur ein,
unsere essigliebe, luftleer konserviert
hält sich angebrochenes länger.
Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt «Wurfschatten» (Metrolit, Berlin, 2014). Ihr zweiter Roman «Der Sprung» erschien Ende August 2019 bei Diogenes und ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International und ist Mitglied des AdS (Verband Autor*innen der Schweiz).
Hansjörg Schneider legt mit „Hunkeler in der Wildnis“ seinen zehnten Hunkeler-Krimi vor. Der ist auch diesmal zum Niederknien. Weil alles bleibt, wie es ist. Und sich doch manches ändert.
Neues aus der alten Welt Gastbeitrag von Frank Keil
Frank Keil
Sommer ists. So ein richtiger Sommer, warm, dann heiss, man kann nachts kaum schlafen. Was man morgens schon ahnt, wenn es noch kühl ist, dass es nicht so bleibt. Und die Wärme und die Hitze, sie werden es zum Vorschein bringen, was die Menschen freut, wenn sie etwas freut und was sie plagt, wenn sie etwas plagt.
Ein Morgen im Juni ist es, als wir lesend dazukommen. Hunkeler trinkt einen Kaffee. Er sitzt in keinem mondänen Café, an denen es in der Basler Innenstadt nicht mangelt, er sitzt vor einem Kiosk, am Eingang zum Kannenfeldpark, es gibt Brötchen mit Ei und Büchsenspargel, wenn einem danach ist. Hunkeler jedenfalls ist in diesem Moment zufrieden, die Welt ist in Ordnung für ihn, er hat in seiner Stadtwohnung übernachtet, nicht drüben in seinem Haus, im Elsass, wo es unbedingt kühler und schattiger wäre, aber wo er nicht unter Leuten sein könnte, die ihn trotzdem nicht stören, dass sie da sind.
Und dann – ein Toter. Im Park liegt er, zu dem der Kiosk gehört, von der Johanneskirche her sind die Glockenschläge zu hören. Da liegt einer, leblos, erschlagen, wie sich herausstellen wird und vorbei ist es mit der Ruhe und der Zufriedenheit, die eben noch Hunkeler mit gütiger Selbstverständlichkeit umschloss. Denn Peter Hunkeler, Kommissär, also: ehemaliger Kommissär, der froh ist, dass es vorbei ist, dass er im Kommissariat sass, unter Kollegen, die oft kaum zu ertragen waren und der so fest sich entschlossen hat, das Mörderfindungsgewerbe für immer ruhen zu lassen, wird sich einmischen. Das geht gar nicht anders, auch wenn er es anders will.
Denn es ist seine Welt, die erneut aus den Fugen geraten ist, aus dem Gleichgewicht, das kann einer wie Hunkeler nicht stehen lassen; da kann er sich noch so dagegen wehren und beteuern, dass er diesmal sich zurückhalten will, dass er nicht einmal etwas wissen will, über das, was passiert ist, unmöglich ist das. Und er stellt seine erste Frage.
Hansjörg Schneider „Hunkeler in der Wildnis“, Diogenes, 2020; 222 Seiten, 22 Euro, CHF 29.90, ISBN 978-3-257-07097-2
82 Jahre alt ist Hansjörg Schneider jetzt, ein angesehener und auch erfolgreicher Schweizer Schriftsteller, was nicht immer zusammenfällt, der uns zum zehnten Mal in seine Hunkeler-Welt mitnimmt, in sein Hunkeler-Basel, in sein Hunkeler-Elsass. Und nicht minder wichtig sind die Wege zwischen beiden Orten, mit dem Auto, auch einmal zu Fuss, eine lange, lange Wanderung ist das, die ihn dennoch erfrischen wird, an der Tramlinie entlang nach Allschwil, zur Landesgrenze im Talgrund, weiter Richtung Folgensbourg, dann durch den Wald, bis es dunkel wird und dann ist; beide Welten sind wichtig, die Stadtwelt, die Landwelt, erzählen sie doch auch von dem tiefen Wunsch, noch einmal loszulegen und dessen Gegenstück, alles sein zu lassen, wie es nun mal ist, aufhören, still sein, einfach dasitzen.
Nur: Hunkeler, der pensionierte Kommissär, kennt den Toten; den Schmidinger, einen Journalisten, einen Kritiker; einen, der nichts anderes konnte, als Verrisse schreiben, selbst wenn ihm das gefiel, was er berufsmäßig zu begutachten hatte, da konnte er sich nicht bremsen, keine Gnade, keine Rücksicht, keine Milde – und losgeschrieben. Und also gibt es viele oder zumindest einige in der Basel-Stadt, die es nicht schade finden, dass er nun tot daliegt, mit eingeschlagenem Schädel, hinter einer Steinmauer in dem Park, in dem der Kiosk ist, wo Hunkeler morgens seinen Kaffee trinkt, wenn er in der Stadt ist.
Und – wie gesagt: Es ist der zehnte Hunkeler-Krimi – wir tauchen zum zehnten Mal in diese Hunkeler-Welt, die uns entsprechend vertraut ist. Streifen durch Basel, eine Karte zum Orientieren findet sich vorne auf der Rückseite vom Titelumschlag, baden diesmal auch im Rhein, lassen uns treiben wie ein Baumstamm sich absichtslos treiben lässt, gehen wieder gut essen, ins Restaurant Birseckerhof an der Heuwaage etwa, das seit jeher hausgemachte Teigwaren anbietet, dazu diesmal einen herben Barbera aus dem Piemont; verachten aber auch den billigen Rotwein nicht, wenn er uns nur freundlich angeboten wird, sitzen wieder mit am Küchentisch, wenn unter Glühbirnenlicht Lebensbeichten folgen, die unser Hunkeler nicht mehr hören will; gemeinsam sind wir alle ein Stück älter und vielleicht auch alt geworden, seit wir den ersten Hunkeler-Krimi aufschlugen, Anfang der 1990er-Jahre war das und diese heute alte Welt fasziniert noch immer.
Weil uns damals gleich der Hunkeler-Ton überzeugte, diese unglaubliche Ruhe, die aus der Handlung und den Beschreibungen hervorstrahlt, Hansjörg Schneider war nie der Mann der schnellen Schnitte, mit lauter Musik unterlegt, sondern er ist der Mann der langen Einstellungen, der vorsichtigen Kamerafahrten; einer, der sich Zeit nimmt für seine Erzählungen, wenn es sein muss, alle Zeit der Welt.
Was nicht nur geblieben ist, was sich noch mehr verstärkt hat, ist die offensichtliche Dünnhäutigkeit unseres Helden, der eben noch voller Verständnis geduldig zuhört, nun brüllt, unangemessen und hartherzig, der nicht fair ist, sondern ungerecht, auch das, um sich im nächsten Moment genau dafür zu entschuldigen, das muss man können; dazu muss man bereit und fähig sein. Hedwig ist es und kann es, die Frau an seiner Seite, wie man so sagt. Die ihr eigenes Leben führt, damit Platz ist für einen wie Hunkeler.
Tiere sind diesmal wichtig, mehr als sonst schon: Schwalben, Fledermäuse, ein Fuchs, Wildschweine, ein Dachs, ein bissiger Hund, den Hunkeler mag und nicht mag. Sie bevölkern die Welt auf ihre Weise, dass sie in einem anderen Licht erscheint. Dass wir bemerken, wir sind nicht allein, da ist noch etwas anderes, schwer fassbar und greifbar. Uns zugetan und uns abgewandt und manchmal bekommen wir auch eine Ahnung, dass auch in uns eine Wildnis ist, vor der wir uns zu schützen haben und in der wir heimisch werden sollten, auch davon erzählt Hansjörg Schneider auf seine so selbstverständliche und grundruhige Art.
Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.
Die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine ist gross, nach einem idealen Gefährten, der das Leben leicht macht, von der Erfindung des Rades bis hin zum Computer. Ian McEwan spinnt den Faden noch viel weiter, gibt dem Menschen eine Eva und einen Adam in die Hände, die wie Menschen sein sollen, aber als humanoide Roboter Maschine bleiben. Ian McEwan tut das mit derart bestechender Meisterschaft und stringenter Konstruktion, dass einem bei der Lektüre durchaus schwindlig werden kann.
Als Mary Shelley Anfang des 19. Jahrhunderts Viktor Frankenstein sein Monster erschaffen liess, war dieses über zwei Meter gross und eine wenig liebliche Erscheinung. Adam, einer von 12 männlichen und 13 weiblichen (Evas) Robotern, ist das genaue Gegenteil, wohl im Labor erschaffen, aber von perfekter Gestalt, käuflich zu erwerben, doch nach den Bedürfnissen der jeweiligen KäuferInnen formbar und alles andere als ein Monster. Adam ist äusserlich kaum von einem Menschen unterscheidbar, es schlägt gar ein Puls in ihm, wenn auch nur nachempfunden. Adam lernt, lernt ungeheuer schnell, vernetzt sich mit allem anderen, was elektronisch passiert und soll der Käuferin und dem Käufer als Android nicht bloss Helfer und Begleiter sein, sondern Gesprächspartner und Freund.
Cover der Originalausgabe bei Jonathan Cape
Charlie, schon seit seiner Kindheit fasziniert von künstlicher Intelligenz, den Möglichkeiten von Computern und Algorithmen und leidlich erfolgreich mit Finanzgeschäften über seinen Computer erfüllt sich seinen Traum und ist einer der exklusiven Käufer dieser neuen Errungenschaft, von der sich der Hersteller und deren Entwickler viel erhoffen. Er lässt sich seinen Adam nach Hause liefern, hievt ihn auf einen Stuhl und lässt ihn aufladen. Und weil sich zwischen ihm und seiner jungen, hübschen Nachbarin Miranda schon länger ein mehr als freundschaftliches Verhältnis anbahnt, entschliesst sich Charlie, die «charakterliche Feinjustierung» zusammen mit ihr vorzunehmen. Adam erwacht und wird zu Charlie und Mirandas gemeinsamen Projekt. Ein Wesen, das sich anfangs nur ganz vorsichtig in Charlies vier Wänden physisch und intellektuell bewegt, das sich aber immer mehr in das Leben der beiden Nachbarn einmischt. Adam macht nicht nur die Küche und faltet Wäsche. Adam kommuniziert, interagiert, stellt Fragen, stellt in Frage, so sehr, dass sich Charlie gezwungen fühlt, einmal den Notfallknopf am Hinterkopf zu drücken und ihn abzuschalten. Eine Aktion, die ihm kein zweites Mal gelingt, denn Adam lernt schnell und zu seinem Lernen gehört schmerzhafte Autonomie.
Ian McEwan genügte es aber nicht, ein Kammerspiel zwischen drei AkteurInnen zu schaffen. «Maschinen wie ich» ist eingebettet in ein Grossbritanien von 1982, von Margrit Thatcher regiert, einem Land, das eben den Falkland-Krieg verloren hatte, eine Welt, die dank der genialen Forschung von Wissenschaftlern wie Alain Turning (den es wirklich gab, den Ian McEwan aber 1954 nicht sterben lassen wollte, den er bis in seine Gegenwart weiterhin an seinen Forschungen arbeiten lässt) Internet, Mobilphones und selbstfahrende Autos längst zur Selbstverständlichkeit machte. McEwan verbindet Fiktion mit Realität so absolut überzeugend, dass spürbar wird, mit welcher Lust der Autor sich wohl immer wieder die Frage stellte, wie es hätte sein können, wenn…
«Die Gegenwart ist ein unwahrscheinliches, unendlich fragiles Konstrukt. Es hätte anders kommen können.»
Aber selbst das Drama von Personen und erfundener Gegenwart, wachsender Verflechtung der drei Protagonisten, Charlie kommt durch Adams Geschick zu Geld, Adam verliebt sich in Miranda, Miranda schliesst einen Jungen in ihr Herz und britischer Schockstarre nach einem verlorenen Krieg und dessen Auswirkungen auf Politik, Gesellschaft und Wirtschaft genügen dem Autor nicht. Ian McEwan stellt Fragen, Fragen durch das Tun seiner Figuren, denn obwohl die Roboter perfekt zu sein scheinen, gar menschliche Gefühle entwickeln können und ihr Tun im Vergleich zum Menschen mit absoluter Konsequenz verfolgen, begehen die ersten Evas und Adams schon nach kurzer Zeit digitalen Suizid. Was macht Menschlichkeit aus? Sind es die Gefühle oder viel mehr die Fähigkeit Unübersehbares auszublenden? Wo liegt die menschliche Überlegenheit der perfekten Maschine gegenüber wirklich? Beseitigen solche Maschinen die von Menschen angerichteten Probleme wirklich?
Ian McEwan Meisterwerk ist facettenreich, durchsetzt von derart viel Liebe zum Detail, von Fachkenntnis, überraschender Wendungen und kluger Erzählweise, dass die Lektüre trunken macht. Und wenn man die Kadenz seiner Veröffentlichungen, den Tiefgang, mit der der Autor in seine Themen eintaucht und die Leichtigkeit seiner Erzählweise betrachtet, katapultiert das die Bewunderung für diese Buch und das Werk dieses Schriftstellers in schwindelnde Höhen.
«Menschen wie ich» ist viel mehr als ein Roman, der perfekt unterhält!
Ian McEwan, geboren 1948 in Aldershot (Hampshire), lebt bei London. 1998 erhielt er den Booker-Preis und 1999 den Shakespeare-Preis der Alfred-Toepfer-Stiftung. Seit seinem Welterfolg «Abbitte» ist jeder seiner Romane ein Bestseller. Zuletzt kamen Verfilmungen von «Am Strand» (mit Saoirse Ronan) und «Kindeswohl» (mit Emma Thompson) in die Kinos. Ian McEwan ist Mitglied der Royal Society of Literature, der Royal Society of Arts und der American Academy of Arts and Sciences.
Der Übersetzer Bernhard Robben, geb. 1955, lebt in Brunne/Brandenburg und übersetzt aus dem Englischen, u. a. Salman Rushdie, Peter Carey, Ian McEwan, Patricia Highsmith und Philip Roth. 2003 wurde er mit dem Übersetzerpreis der Stiftung Kunst und Kultur des Landes NRW ausgezeichnet, 2013 mit dem Ledig-Rowohlt-Preis für sein Lebenswerk geehrt.
In Simone Lapperts Roman „Der Sprung“ geht es vordergründig um eine Frau auf einem Dach. Hinausgedrängt aus ihrem Leben droht sie zu springen und alle um sie herum sehen die Frau, die sich das Leben nehmen will. Aber „Der Sprung“ meint wohl viel mehr jenen Sprung, den ein Leben macht, wenn verschiedene Leben ineinander verwoben mit einem mal einen Kulminationspunkt erreichen. Wenn die Zeit springt. Wenn man sich vom Trauten ins Unbekannte wirft, wenn einem die „Umstände“ aus der Schiene springen lassen.
Es ist Sommer und die Stadt kocht. Menschen überall. Und wenn sich irgendwo eine Sensation anbahnt, man die Handys zückt, stehen bleibt und glotzt, wenn Sirenen die heisse Luft und sich Gaffer den Mund zerreissen, wenn eine hoch oben auf dem Dachfirst steht und mit Ziegeln schmeisst, nicht einmal Polizei, Absperrgitter und Krankenwagen den Mob verdrängen können, dann verweben, verstricken, verknoten sich Schicksale, klaffen Leben auseinander, bohrt sich der Moment tief in den Nerv.
Simone Lappert, die schon mit ihrem Erstling „Wurfschatten“ (Literaturblatt 21) überraschte und überzeugte, legt mit ihrem zweiten Roman ein Buch vor, das in seiner Erzählweise wie ein Episodenfilm funktioniert. Voneinander unabhängige oder bloss durch Zufall mehr oder weniger verknüpfte Geschichten verweben sich zu einem Ganzen. Ein Konstrukt, das Simone Lappert mit viel Feingefühl und Empathie zu komponieren wusste, das überzeugt und in seiner Leichtigkeit und Feinmaschigkeit den Eindruck erweckt, als wären der Autorin die Ideen zugeflogen. Was passiert, wenn mit einem Mal, wenn von einem Augenblick auf den nächsten nichts mehr so ist, wie es einmal war? Wenn ein altes Leben nicht einfach wieder aufgenommen werden kann, wenn Konsequenzen unvermeidbar sind, wenn aus dem Schreck ein Erwachen wird?
Eine junge Frau in Gärtnerkleidung hält einen Tag und eine Nacht eine ganze Stadt in Atem. Springt sie oder springt sie nicht? Wer ist die Frau, die tobt und schreit, dieDachziegel schmeisst und auf keine Beschwichtigungsversuche reagiert?
Ein ganzer Reigen von Figuren reagiert: Felix, ein junger Polizist, psychologisch geschult, wird an den Ort gerufen, weg von seiner schwangeren Frau und dem
wachsenden Riss, der ihn von seiner werdenden Familie entfernt. Finn, den ein Auftrag als Fahrradkurier durch Zufall auf den menschenverstellten Platz führt, der erst seit kurzem Manu kennt und geblendet von seiner jungen Liebe nicht verstehen kann, warum die junge Frau auf dem Dach dieselbe ist. Egon, den das Leben abdrängte, der im kleinen Lokal an der Ecke mit seinem Fernglas das Geschehen bloss noch aus der Ferne betrachtet und fast vergessen hat, wie nah er dem Geschehen ist. Theres, die alt geworden zusammen mit ihrem abgedrängten Mann den Laden um die Ecke am Laufen zu halten versucht und sich für einen Tag kaum mehr retten kann vor dem Ansturm der Gaffer auf ihr kleines Lebensmittelgeschäft. Oder Maren, die ihren Mann, der in seinem Fitness-, Ernährung- und Reinlichkeitswahn seit seinem 40. Geburtstag in vielerlei Hinsicht nicht mehr erkennen kann und durch den Trubel und die Polizei von ihrer Wohnung ausgeschlossen ist.
Alle sind sie auf dem Sprung, genötigt durch die Frau auf dem Dach. Sie alle werden durch den Zwang des Geschehens aus der Bahn katapultiert, in einen neuen Zusammenhang gezwängt. Es gibt kein Zück mehr. Nicht für Felix, den Polizisten, der sich seinem Alp stellen muss. Nicht für Finn, den Freund der jungen Frau auf dem Dach, dem klar wird, dass Fassaden die Wirklichkeit verstellen. Nicht für Egon, der glaubte, das Leben sei gelaufen. Nicht für Theres, die sich fürchtet vor dem Ende mit Schrecken. Und all die andern.
Schon verblüffend, mit welcher Routine und Tiefe Simone Lappert erzählt! Eine Autorin, die den Moment derart detailreich auffächern kann, die keine Nabelschau zelebriert, mich als Leser in ihrem Detailreichtum überzeugt und mich bis zum Schluss atemlos lesen lässt. Wie sie einen feinen Erzählteppich vor mir auslegt! Wie sie mit Ideen verblüfft, mit Vielfalt und Empathie!
Was für ein Vergnügen!
Schon dein erster Roman hat mich überzeugt, dein neuer noch mehr. Ich staune über die Gewandtheit, die Sicherheit, mit der du erzählst, wie feinmaschig das Gewebe deines Romans ist. Was reizte dich an dieser Art des Erzählens?
Der Roman greift fiktionalisierend ein Ereignis auf, welches ich vor ein paar Jahren mitbekommen habe, das mich sehr erschüttert und nachhaltig beschäftigt hat. Um die betroffenen Personen zu schützen und den erfundenen Figuren Freiraum für ein Eigenleben zu ermöglichen, habe ich jedoch nur die Grundkonstellation der Situation beibehalten: auf der einen Seite eine exponierte Person, die mehrere Stunden auf einem Dach zubringt, auf der anderen Seite Schaulustige und Einsatzkräfte, die zu einer Überforderungsdynamik beitragen und sich auf je eigene Weise mitschuldig oder eben auch mit-unschuldig an den Ereignissen machen.
Ich konnte damals mit einer Angehörigen sprechen und fand die Brutalität der Situation einschneidend: Angehörige, die ungefiltert mitbekommen, was über eine geliebte Person gesagt wird, von „spring doch“, bis „so jemanden sollte man erschiessen“. Es hat mich interessiert, mit den Mitteln der Fiktion zu fragen, wer diese Menschen sein könnten, die da unten stehen, was in ihnen vorgeht. Es war vor allem die Frage danach, wie es als Gesellschaft um unsere Empathie bestellt ist, wie wir mit Menschen umgehen, die aus der Reihe tanzen, sich ausserhalb einer gefühlten Norm verhalten, die mich dabei umgetrieben und den Schreibprozess am Roman begleitet hat, die Frage schwingt für mich unter dem Text mit.
Jede deiner Figuren mit der jeweiligen Geschichte, wäre Stoff genug gewesen für einen Roman. Sei es Felix der Polizist, den ein Trauma aus seiner Kindheit blockiert. Sei es Finn, der durch die Liebe zu einer ganz und gar kompromisslosen Kämpferin den Tritt verliert. Sei es Theres, die Frau von Werner, die kinderlos den kleinen Laden um die Ecke führen wie ein leckgeschlagenes Schiff, den Untergang gewiss. Wuchs der Roman und dehnte sich aus oder hast du an der Peripherie zu erzählen begonnen, an den Rändern der Geschichte?
Die Idee einer quasi stummen Protagonistin entstanden, die auf dem Dach Dreh- und Angelpunkt der Geschichte ist, entstand nach und nach, die Figuren, die unten stehen, haben sich aus der Grundkonstellation des realen Ereignisses ergeben, sie sind aber alle fiktiv. Einige waren von Anfang an da, etwa Finn, Manus Freund oder Felix, der Polizist, andere sind erst später hinzugekommen oder haben sich gar in den Text eingeschlichen, zum Beispiel Egon, der Hutmacher, der war eigentlich gar nicht geplant.Manche Geschichten habe ich am Stück geschrieben, um zu sehen, wohin die Figuren mich mitnehmen, andere sind darum herum gewachsen. Das ist das Schönste beim Schreiben: wenn die Figuren ein Eigenleben entwickeln, mich überraschen und meine Pläne durchkreuzen. Wichtig war mir aber von Anfang an, nicht vollkommen aufzulösen, was Manu aufs Dach getrieben hat, damit man sich als LeserIn nicht in die Beruhigung einer Erklärung zurückziehen kann.
Eine der Figuren in deinem Roman ist Henry, ein in die Jahre gekommener Obdachloser, der den Leuten für ein paar Münzen Fragen verkauft. Du stellst mit deinem Roman ganz viele Fragen. Fragen wie: Was braucht es, dass man Konsequenzen zieht? Henry verkauft Zettelchen mit Fragen wie: Wann und warum hast du zum letzten Mal geweint? Was tröstet dich? Müssen Geschichten, Romane Fragen beantworten?
Ich glaube, sie sollten viel eher Fragen stellen, Fragen, die hängen bleiben, zum Denkenund Überdenken anregen. Jedenfalls habe ich beim Schreiben immer viel eher das Gefühl, eine Fragenauslegeordnung zu machen, mich präziser und tiefer in die Fragen hineinzuschreiben, die Schreibanlass waren, sie im besten Fall greifbarer zu machen.
Du bist Lyrikerin und stehst, soweit ich weiss, kurz vor deiner Erstveröffentlichung in dieser Sparte. Wie weit hilft dir als Romanautorin das Talent der Lyrikerin?
Letztendlich sucht sich der Text seine Form, aber ob ich nun Prosa oder Lyrik schreibe, ich schreibe immer auch mit den Ohren. Der Klang eines Wortes, der Rhythmus eines Satzes, das sind wichtige Inhaltsträger. Ein Text ist für mich immer auch ein Klangkörper.
Du schilderst viele Gegensätze; die Arbeit eines Polizisten und jene seiner Frau, die schwanger ist, ein Spagat zwischen der Brutalität der Gesellschaft und eine „Parallelwelt zischen Lavendel und Hirsekissen“, der schreiende und gaffende Mob und die zerbrechliche Welt deiner ProtagonistInnen, die wütende, junge Frau auf dem Dach und die Verzweiflung in einer Existenz. Wie sehr reizen dich Gegensätze? Und wie sehr muss man als Autorin aufpassen, ihnen nicht allzu platt aufzusitzen?
Ich schreibe meistens ohne vorgefertigtes Konzepte. Mich interessieren Menschen, Risse, Kippmomente, warum jemand tut, was er oder sie tut. Die Gegensätze, die du ansprichst, sind aus der realen Grundkonstellation und aus den Figuren heraus entstanden. Sich in eine Figur hineinzufragen, hineinzuschreiben, ist manchmal ein bisschen, wie im echten Leben jemanden kennenzulernen. Man hat ein Bild, eine Vorstellung, vielleicht auch Vorurteile. Und je näher man jemandem kommt, desto komplexer wird das Bild der Person, mit all ihren Abgründen und Feinheiten. Mir ist es wichtig, meine Figuren nicht zu verspotten oder als Schablonen für vorgefertigte Meinungen zu benutzen, ich versuche, ihnen mit Respekt zu begegnen, gerade auch, um Plattitüden zu vermeiden.
Meine Henryfrage: Was macht dich wirklich glücklich?
Wach und im Moment zu sein. Und zur Zeit die Begegnungen mit den LeserInnen auf der Lesereise.
Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt Wurfschatten (Metrolit, Berlin, 2014). Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International.