Hansjörg Schneider «Hunkeler in der Wildnis», Diogenes

Hansjörg Schneider legt mit „Hunkeler in der Wildnis“ seinen zehnten Hunkeler-Krimi vor. Der ist auch diesmal zum Niederknien. Weil alles bleibt, wie es ist. Und sich doch manches ändert.

Neues aus der alten Welt
Gastbeitrag von Frank Keil

Frank Keil

Sommer ists. So ein richtiger Sommer, warm, dann heiss, man kann nachts kaum schlafen. Was man morgens schon ahnt, wenn es noch kühl ist, dass es nicht so bleibt. Und die Wärme und die Hitze, sie werden es zum Vorschein bringen, was die Menschen freut, wenn sie etwas freut und was sie plagt, wenn sie etwas plagt.

Ein Morgen im Juni ist es, als wir lesend dazukommen. Hunkeler trinkt einen Kaffee. Er sitzt in keinem mondänen Café, an denen es in der Basler Innenstadt nicht mangelt, er sitzt vor einem Kiosk, am Eingang zum Kannenfeldpark, es gibt Brötchen mit Ei und Büchsenspargel, wenn einem danach ist. Hunkeler jedenfalls ist in diesem Moment zufrieden, die Welt ist in Ordnung für ihn, er hat in seiner Stadtwohnung übernachtet, nicht drüben in seinem Haus, im Elsass, wo es unbedingt kühler und schattiger wäre, aber wo er nicht unter Leuten sein könnte, die ihn trotzdem nicht stören, dass sie da sind.

Und dann – ein Toter. Im Park liegt er, zu dem der Kiosk gehört, von der Johanneskirche her sind die Glockenschläge zu hören. Da liegt einer, leblos, erschlagen, wie sich herausstellen wird und vorbei ist es mit der Ruhe und der Zufriedenheit, die eben noch Hunkeler mit gütiger Selbstverständlichkeit umschloss. Denn Peter Hunkeler, Kommissär, also: ehemaliger Kommissär, der froh ist, dass es vorbei ist, dass er im Kommissariat sass, unter Kollegen, die oft kaum zu ertragen waren und der so fest sich entschlossen hat, das Mörderfindungsgewerbe für immer ruhen zu lassen, wird sich einmischen. Das geht gar nicht anders, auch wenn er es anders will. 

Denn es ist seine Welt, die erneut aus den Fugen geraten ist, aus dem Gleichgewicht, das kann einer wie Hunkeler nicht stehen lassen; da kann er sich noch so dagegen wehren und beteuern, dass er diesmal sich zurückhalten will, dass er nicht einmal etwas wissen will, über das, was passiert ist, unmöglich ist das. Und er stellt seine erste Frage.

Hansjörg Schneider „Hunkeler in der Wildnis“, Diogenes, 2020; 222 Seiten, 22 Euro, CHF 29.90, ISBN 978-3-257-07097-2

82 Jahre alt ist Hansjörg Schneider jetzt, ein angesehener und auch erfolgreicher Schweizer Schriftsteller, was nicht immer zusammenfällt, der uns zum zehnten Mal in seine Hunkeler-Welt mitnimmt, in sein Hunkeler-Basel, in sein Hunkeler-Elsass. Und nicht minder wichtig sind die Wege zwischen beiden Orten, mit dem Auto, auch einmal zu Fuss, eine lange, lange Wanderung ist das, die ihn dennoch erfrischen wird, an der Tramlinie entlang nach Allschwil, zur Landesgrenze im Talgrund, weiter Richtung Folgensbourg, dann durch den Wald, bis es dunkel wird und dann ist; beide Welten sind wichtig, die Stadtwelt, die Landwelt, erzählen sie doch auch von dem tiefen Wunsch, noch einmal loszulegen und dessen Gegenstück, alles sein zu lassen, wie es nun mal ist, aufhören, still sein, einfach dasitzen.

Nur: Hunkeler, der pensionierte Kommissär, kennt den Toten; den Schmidinger, einen Journalisten, einen Kritiker; einen, der nichts anderes konnte, als Verrisse schreiben, selbst wenn ihm das gefiel, was er berufsmäßig zu begutachten hatte, da konnte er sich nicht bremsen, keine Gnade, keine Rücksicht, keine Milde – und losgeschrieben. Und also gibt es viele oder zumindest einige in der Basel-Stadt, die es nicht schade finden, dass er nun tot daliegt, mit eingeschlagenem Schädel, hinter einer Steinmauer in dem Park, in dem der Kiosk ist, wo Hunkeler morgens seinen Kaffee trinkt, wenn er in der Stadt ist.

Und – wie gesagt: Es ist der zehnte Hunkeler-Krimi – wir tauchen zum zehnten Mal in diese Hunkeler-Welt, die uns entsprechend vertraut ist. Streifen durch Basel, eine Karte zum Orientieren findet sich vorne auf der Rückseite vom Titelumschlag, baden diesmal auch im Rhein, lassen uns treiben wie ein Baumstamm sich absichtslos treiben lässt, gehen wieder gut essen, ins Restaurant Birseckerhof an der Heuwaage etwa, das seit jeher hausgemachte Teigwaren anbietet, dazu diesmal einen herben Barbera aus dem Piemont; verachten aber auch den billigen Rotwein nicht, wenn er uns nur freundlich angeboten wird, sitzen wieder mit am Küchentisch, wenn unter Glühbirnenlicht Lebensbeichten folgen, die unser Hunkeler nicht mehr hören will; gemeinsam sind wir alle ein Stück älter und vielleicht auch alt geworden, seit wir den ersten Hunkeler-Krimi aufschlugen, Anfang der 1990er-Jahre war das und diese heute alte Welt fasziniert noch immer. 

Weil uns damals gleich der Hunkeler-Ton überzeugte, diese unglaubliche Ruhe, die aus der Handlung und den Beschreibungen hervorstrahlt, Hansjörg Schneider war nie der Mann der schnellen Schnitte, mit lauter Musik unterlegt, sondern er ist der Mann der langen Einstellungen, der vorsichtigen Kamerafahrten; einer, der sich Zeit nimmt für seine Erzählungen, wenn es sein muss, alle Zeit der Welt.

Was nicht nur geblieben ist, was sich noch mehr verstärkt hat, ist die offensichtliche Dünnhäutigkeit unseres Helden, der eben noch voller Verständnis geduldig zuhört, nun brüllt, unangemessen und hartherzig, der nicht fair ist, sondern ungerecht, auch das, um sich im nächsten Moment genau dafür zu entschuldigen, das muss man können; dazu muss man bereit und fähig sein. Hedwig ist es und kann es, die Frau an seiner Seite, wie man so sagt. Die ihr eigenes Leben führt, damit Platz ist für einen wie Hunkeler.

Tiere sind diesmal wichtig, mehr als sonst schon: Schwalben, Fledermäuse, ein Fuchs, Wildschweine, ein Dachs, ein bissiger Hund, den Hunkeler mag und nicht mag. Sie bevölkern die Welt auf ihre Weise, dass sie in einem anderen Licht erscheint. Dass wir bemerken, wir sind nicht allein, da ist noch etwas anderes, schwer fassbar und greifbar. Uns zugetan und uns abgewandt und manchmal bekommen wir auch eine Ahnung, dass auch in uns eine Wildnis ist, vor der wir uns zu schützen haben und in der wir heimisch werden sollten, auch davon erzählt Hansjörg Schneider auf seine so selbstverständliche und grundruhige Art.

Foto: Philipp Keel / © Diogenes Verlag

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine ›Hunkeler‹-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Rezension von Hansjörg Schneiders «Kind das Aare» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau