Anna Stern «das alles hier, jetzt.», Elster & Salis #SchweizerBuchpreis 20/4

Ananke stirbt nach kurzer Krankheit. Eine junge Frau. Ihr Tod hinterlässt nicht nur eine Lücke, sondern pulverisiert ein ganzes Gravitationsfeld. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, gar nichts. Und weil es nach 150 Tagen aus der Trauer keinen Weg zu geben scheint, machen sich Anankes Freunde auf, um sich ihrem Eingeschlossenen Luft zu machen.

Anna Sterns Roman überrascht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Das kündigte sich schon in ihrem letzten, ihrem dritten Roman „Wild wie die Wellen des Meeres“ an. Aber mit „das alles hier, jetzt.“ geht die junge Schriftstellerin aus der Ostschweiz noch einen Schritt weiter. Ichor erzählt, wahrscheinlich ein Mann, wahrscheinlich. Er erzählt von der Zeit nach Anankes Tod und von der Zeit davor, den Erlebnissen als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene, mit Ananke zusammen oder in der Gruppe mit Freunden, in der kleinen Stadt am See.

„du hast angst vor dem vergessen und fängst an, alles aufzuschreiben.“

Anna Stern «das alles hier. jetzt.» Salis & Elster, 2020, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-03930-000-6

Anna Stern erzählt in zwei Teilen. Der erste Teil, jeweils auf der linken Seite in schwarzer Schrift von der Zeit nach Anankes Tod und rechts in grauer, etwas blasserer Schrift von den Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit mit Ananke, vor der Krankheit, vor ihrem Tod. Die Gegenwart klar wie in Stein gehauen. Die Vergangenheit, die irgendwann einmal verblassen wird, auch wenn man daran nicht denken will und kann, grau geworden. Die Textstücke in diesem ersten Teil erzählen unabhängig voneinander und zwingen mich als Leser, das eine oder andere Mal vor- und zurückzublättern, obwohl mir die Autorin bei der Vernissage in Rorschach versichert, den ersten Teil könne man überall zu lesen beginnen. Vielleicht könnte man den Roman auch im letzten Viertel beginnen, dem zweiten Teil des Buches, in dem Anna Stern linear und „traditionell“ von Anankes Freunden erzählt, die mehr oder weniger gemeinsam beschliessen, ihren dunklen Tunnel der Trauer zu verlassen und „Nägel mit Köpfen zu machen“. Dann wiederum könnte man den ersten Teil danach lesen und er würde mir erschliessen, was die Freunde dazu treibt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Friedhof zu fahren.

Aber Anna Stern springt formal noch mehr aus der Spur. Ausser den Namen ist nichts gross geschrieben, nicht einmal Satzanfänge. Vielleicht weil Namen das einzig Konstante sind, an das man sich halten kann. Und neben Ananke und dem Erzähler Ichor sind alle Namen so gewählt, dass sie seltsam androgyn erscheinen, geschlechtslos, als ob die Autorin Gefühle und die Art des Erinnerns von geschlechtspezifischen Vorstellungen abkoppeln möchte.
Zudem lässt die Autorin in vielen Sätzen das Verb weg, entseelt die Sätze, genauso wie Ananke mit ihrem Tod die Zurückgebliebenen entseelte. So wird Text und Form zu einem Spiegel der Geschichte.

Ananke war ein Fixstern. Mit ihrem Tod verschwand das Zentrum eines Sternensystems. Die Gravitation brach auseinander! Ananke war lebend ein Mythos, nach ihrem Tod nicht weniger.

„du bist müde, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem Körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.“

Dass sich Anna Stern nicht an gängige Erzählmuster hält, ist erfrischend und konsequent. Anna Stern geht es nicht darum, den Lebens-, Leidens- und Sterbensweg einer jungen Frau zu erzählen. „das alles hier, jetzt.“ ist auch kein Trauerroman, kein Abschiedsroman, schon gar kein Protokoll. Anna Stern erzählt ungeheuer sinnlich und in dieser Sinnlichkeit höchst präzis und unemotional. „Unemotional“ darum, weil „kühl“ falsch wäre. Ihr Roman bewegt ohne zu erschüttern. Er hinterlässt nicht Trauer, sondern das pure Glück über ein absolut gelungenes Sprachabenteuer. An Anna Sterns Roman ist nichts zu viel und schon gar nichts zu wenig. Er ist mutig und konsequent. Und so wie die Autorin selbst, ganz eigen. 

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich.»das alles hier, jetzt.» Zuvor erschienen «Wild wie die Wellen des Meeres» (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, «Beim Auftauchen der Himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «Der Gutachter» (2016, Roman, Salis) und «Schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com

Olga Tokarczuk «Der liebevolle Erzähler», Kampa

Was Olga Tokarczuk und Peter Handke gemein ist, ist ein Leben, Denken und Streben, das weit über das Schreiben, die Literatur und das Buch hinausgeht. Sie beide sind durchdrungen und beide Streiter für das, was die Literatur soll und will; Türen aufmachen. Aber vielleicht ist das eine der wenigen Gemeinsamkeiten der Nobelpreisträger von 2019 und 2020. Aber während Peter Handke schon seit Jahrzehnten zum Kanon der Deutschen Literatur gehört, ist Olga Tokarczuk für viele noch zu entdecken.

Das Buch «Der liebevolle Erzähler – Vorlesung zur Verleihung der Nobelpreises für Literatur» beinhaltet nicht nur den Text des Festaktes, sondern ergänzend das Essay «Wie Übersetzer die Welt retten» und als Zugabe «eine kleine Chronologie rund um die Literaturnobelpreisverleihung». Mit Sicherheit wäre es aufschlussreich, gäbe es von Peter Handke ein ähnliches Buch. Aufschlussreich für die Welt von Olga Tokarczuk ist «Der liebevolle Erzähler» aber mit Sicherheit, denn Olga Tokarczuks Welt ist eine grosse, eine ganze, aber auch eine bedrohte, in seine Kleinheiten auseinanderfallende. 

«Die Welt ist ein Stoff, an dem wir täglich weben.»

Olga Tokarczuks Welt, ihr Stoff, ist ein grosser. Olga Tokarczuks Werk gibt einen grossen Blick frei auf eine Welt durch die Jahrhunderte. Sie weiss um die Macht der Sprache und warnt vor dem Abrutschen ins Banale. Literatur ist ein Blick hinaus. Und wenn sie sich nur noch der Nabelschau und Selbstreflexion bedient, bleibt sie auf dem Niveau von all den neuen Medien, die weder Nachhaltigkeit noch Nachhall besitzen. Olga Tokarczuk nimmt sich nicht wichtig, dafür nimmt man ihre Bücher, ihre Romane und Erzählungen nun endlich wichtig und gewichtig genug. In einer Welt, die sich von der Literatur immer weiter weg hin zu einem Markt bewegt, zu einer Kommerzialisierung, zu Planbarkeit und Einengung. Dabei soll Literatur leben, gedeihen, wachsen, sich erneuern. In einer Zeit, in der ein wilder Streit entfacht ist darüber, welche Informationen nun wahr sind oder nicht, kann die Frage aus der Öffentlichkeit, ob denn das wahr ist, was da geschrieben steht, bloss aufzeigen, wie sehr die Literatur von Kommerz und Instrumentalisierung bedroht ist. Wohl schöpft Literatur aus der Wahrheit, der Wahrnehmung. Was sie daraus macht, ist ihr frei. Literatur ist Kunst, ist Gestaltung, ist etwas Neues, etwas, was aus Erfahrung neue Horizonte generiert.

«Nur die Literatur ermöglicht es uns, tief in das Leben eines anderen Wesens einzudringen; dank ihr können wir dessen Beweggründe nachvollziehen, seine Gefühle, sein Schicksal durchleben.»

Olga Tokarczuk «Der liebevolle Erzähler» Vorlesung zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur, Kampa, 2020, 144 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-311-10019-5

Olga Tokarczuks Blick auf die Welt ist ein liebevoller, ein sympathischer, aber auch ein kritischer, ein nach Ordnung suchender. Das zeigt auch ihr Essay über die schnell und leicht unterschätzte Arbeit von Übersetzerinnen und Übersetzer. Olga Tokarczuk macht sich in ihrem Essay, das sich unmittelbar an die Nobelpreisrede anschliesst, stark für ein Heer von Schreibenden, das die Welt schon mehrfach rettete, sei es in der Vergangenheit oder in der Gegenwart. Was wäre die Welt ohne all die Übersetzer während der Abbasiden-Dynastie ab dem 8. Jahrhundert, die die Texte aus dem untergehenden Römischen Reiches ins Arabische übersetzte oder im Mittelalter, wo in Klöstern Heerscharen von Mönchen die Welt der Fremde zugänglich machten. 
ÜbersetzerInnen übersetzen nicht einfach. Wahrscheinlich gibt es keine genaueren LeserInnen als die Übersetzer. Menschen, die die Fähigkeit besitzen, sich ganz von einem Text durchdringen zu lassen, ihn ganz zu verstehen. Nur so kann es möglich sein, ein Buch auch in einer Fremdsprache zur Entfaltung zu bringen.

Vor zwei Jahrtausenden brannte die Bibliothek von Alexandria nieder. Damals vielleicht die wichtigste und bedeutendste Bibliothek. Als uns unser Geschichtslehrer während meiner Ausbildung vom Brand, vom Verlust dieser Bibliothek erzählte, begann er zu weinen. Er stand vor uns, gegen das Lehrerpult gelehnt und nestelte in den Tiefen seiner Hosentaschen, zog ein Taschentuch heraus, nahm seine Brille ab und wischte über Augen und Gläser. Wir sassen da, als hätte sich mit einem Mal der Schmerz einer ganzen Welt geöffnet. Der Mann damals wusste genau, was bei dieser Katastrophe an Welt verloren ging. Er wusste, dass in der Sprache ein Tor zu ganz vielen Welten liegt und dass sich dieses Tor für immer verschliessen kann. 
Olga Tokarczuk kämpft mit ihrem Schreiben dafür, dass sich mit den Katastrophen der Neuzeit die Tore zu ganz vielen Welten nicht verschliessen.

Und dabei nimmt sich Olga Tokarczuk selbst nicht wichtig. Sie ist und bleibt bescheiden und durch die Verleihung des Nobelpreises wahrscheinlich nicht in allen Belangen gut bedient. Das zeigt der vom Kampa Verlag selbst verfasste Text «Eine kleine Chronologie rund um die Literaturnobelpreisverleihung». Der Nobelpreis brach wie eine Tsunamiwelle in das Leben der Autorin ein. Aber weil Olga Tokarczuk Olga Tokarczuk ist, wird sie dadurch den Blick von oben auf das Ganze ebenso wenig verlieren, wie ihre Bodenhaftigkeit.

«Der liebevolle Erzähler» ist ein perfekter Einstieg in den Kosmos Olga Tokarczuk!

© Łukasz-Giza

Olga Tokarczuk, 1962 im polnischen Sulechów geboren, studierte Psychologie in Warschau und lebt heute in Breslau. Sie zählt zu den bedeutendsten europäischen Autorinnen der Gegenwart. Ihr Werk wurde in 37 Sprachen übersetzt und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Für «Die Jakobsbücher», in Polen ein Bestseller, wurde sie 2015 (zum zweiten Mal in ihrer Laufbahn) mit dem wichtigsten polnischen Literaturpreis, dem Nike-Preis, ausgezeichnet und 2018 mit dem Jan-Michalski-Literaturpreis. Im selben Jahr gewann sie ausserdem den Man Booker International Prize für «Unrast», für den sie auch 2019 wieder nominiert war: Ihr Roman «Der Gesang der Fledermäuse» stand auf der Shortlist. 2019 wurde Olga Tokarczuk mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet. Zum Schreiben zieht Olga Tokarczuk sich in ein abgeschiedenes Berghäuschen an der polnisch-tschechischen Grenze zurück.

Lisa Palmes, 1975 geboren, 1995–1996 Studium der Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaft in Wien, 1996–2001 Ausbildung zur Friseurin und anschliessende berufliche Tätigkeit in Wien und Berlin, 2001–2007 Studium der Polonistik und Germanistischen Linguistik in Berlin und Warschau. Seit Ende 2008 freiberufliche Übersetzerin für polnische Literatur, 2013 Mitorganisatorin der Gesprächsreihe mit polnischen Reportagenschreibern „Reportagen ohne Grenzen“ in der deutsch-polnischen Buchhandlung Buchbund in Berlin.

Beitragsbild © Łukasz-Giza

Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes #SchweizerBuchpreis 20/3

Charles Lewinsky ist ein exzellenter Geschichtenerzähler. Sein neuester Streich «Der Halbbart» ist eine wahre Fundgrube hunderter Geschichten, die der Schriftsteller zu einem grossen, epischen Ganzen verbindet. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat ihn schon zum dritten Mal.

«Erzählen ist wie Seichen: Wenn man einmal damit angefangen hat, ist es schwer, wieder aufzuhören.»

Anfang des 14. Jahrhunderts schwelt ein Streit zwischen dem Kloster Einsiedeln und den Bauern, die Land und Wälder des Klosters bewirtschaften. Und weil das Kloster unter der Schirmherrschaft der Habsburger steht, wird aus dem konfliktreichen Nebeneinander ein Konflikt, der das Potenzial gehabt hätte, sich zu einer Katastrophe auszuwachsen. Glücklicherweise sind die Habsburger aber so sehr mit sich und der Nachfolge nach dem Tod Heinrich VII beschäftigt, dass der Marchenstreit erst 2 Jahre nach den Geschehnissen, die im Buch beschrieben werden, zur Schlacht bei Morgarten führen.

Warum erzählt Charles Lewinsky eine Geschichte, die um 1313 spielt? Mag sein, dass ihn eine Zeit lockte, die im «eidgenössischen» Bewusstsein über Jahrhunderte allzu sehr verklärt wurde, durch männliches Heldentum aufgeblasen und durch staats- und kulturhistorische Glorie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Mag sein, dass der Protagonist Sebi ein Geschichtensammler ist und zu einem Geschichtenerzähler werden will und das Geschichtenerzählen damals noch aus fast nur mündlicher Überlieferung bestand. Das Volk konnte weder lesen noch schreiben. Und Geschichten trösteten oft genug über das eigene sorgenvolle Leben, kalte Winternächte und angstvolle Abende.
Aber vielleicht ist jene Zeit vor 700 Jahren der unsrigen gar nicht so fremd. Man hatte Angst vor fremden Mächten. Zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden war damals nicht einfacher als heute. Oft genug und gut genug erzählt wurden und werden Unwahrheiten zu Wahrheiten. Die Angst, damals der Teufel, heute Teufelszeug, war allgegenwärtig und Klassenbewusstsein Grund genug, dass niemand seine Privilegien opfern wollte.

«Ein Gerücht muss nicht wahr sein, um seine Wirkung zu tun, es muss nur geglaubt werden.»

Charles Lewinsky «Der Halbbart», Diogenes, 2020, 688 Seiten, CHF 35.00, ISBN 978-3-257-07136-8

Der begnadete Geschichtenerzähler Charles Lewinsky erzählt die Geschichte des begnadeten Geschichtenerzählers Eusebius, Sebi, und die eines Mannes, der im gleichen Dorf wie Sebi auf seiner langen Flucht strandet. Alle nennen ihn nur Halbbart, ein Mann, dessen eine Gesichts- und Körperhälfte verbrannt und verkrustet ist, der aus einem alten Leben floh, der viel mehr weiss als fast alle im Dorf und der einen prallvollen Sack an Geheimnissen mit sich herumträgt. Geheimnisse, die Sebi und ich als Leser nur ganz langsam, häppchenweise erfahren. Halbbart schleppt ein Trauma mit sich, das Trauma einer Verbrennung, vieler schrecklicher Tode, das Trauma eines lauernden Feindes.

Sebi hats nicht einfach. Er ist der Jüngste in der Familie. An Mutter und Vater kann er sich kaum erinnern, höchstens aus den Erzählungen – und seine beiden grossen Brüder sind im Umgang mit ihm alles andere als zimperlich. Schnell ist klar; Sebi ist ein «Finöggel» und für die Arbeit auf dem Feld nicht zu gebrauchen. Auch nicht als Gehilfe des Totengräbers und nicht einmal im Kloster, in der Hoffnung, dereinst lesen und schreiben zu lernen. Schliesslich wird er zum Gesellen der Teufels-Anneli, einer umherziehenden Geschichtenerzählerin. Sebi wird das, wonach er sich sehnt, auch wenn er immer zwischen den Fronten bleibt.

«Wenn der Schnee klafterhoch liegt, kann ein Vogelschiss genügen, um eine Lawine auszulösen.»

Doch, Charles Lewinsky kann es. Er kann es mit übersprudelnder Vielfalt, mit einer Authentizität, die mir als Leser das Gefühl gibt, Charles Lewinsky hätte den unerschöpflichen Quell aller Phantasie gefunden. Und wer wie ich die Vielfalt, den Fleiss, und die unbestreitbaren Qualitäten des Tausendsassas kennt, würde ihm am liebsten den Titel «Sir» verleihen. Ein Roman über die Macht von Geschichten und die Wertlosigkeit so mancher Wahrheit. Heute wie früher – es wird munter erfunden, nicht nur aus Spass und Not, sondern strategisch. Dass aus Erfindung Lüge wird, ist auch keine Erscheinung der Gegenwart, nicht einmal die Schwierigkeit, das eine vom andern zu unterscheiden. Der Unterschied liegt im Bewusstsein des «Konsumenten», der aus der Lüge den Hass extrahiert.
Aber dem neuen Roman scheint trotz aller Üppigkeit und Fabulierkunst etwas zu fehlen; beiden Protagonisten scheint das Blut in den Adern nicht warm genug zu fliessen. Weder der junge Geschichtenerzähler noch der Halbbart, der zum Erfinder der Halbbarte (Hellebarde) wird, schlüpft einem während der 680 Seiten Lektüre unter die Haut. Es reiht sich Geschichte an Geschichte, Bild an Bild, Clou an Clou (was der Serienschreiber vorzüglich beherrscht). Aber mir wird nicht warm. Schade.

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger. Sein jüngster Roman «Der Halbbart» hat es auf die Shortlist des Deutschen und auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises geschafft. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Illustrationen © leafrei.com

Peter Zimmermann «Was der Igel weiss», edition bücherlese

Tom und Patrick waren Freunde. In den wilden Jahren ihrer Jugend zerriss es ihre Freundschaft. Leben, die vorgezeichnet schienen, warf es aus der Bahn. Ein Vierteljahrhundert später treffen sich die beiden wieder in Bern. Zwei Versehrte stehen einander gegenüber. Patrick hat in Übersee studiert, Tom ist Lehrer geworden. Alleine sind beide.

Patrick ist zur Beerdigung seiner Mutter in die Schweiz zurückgekehrt. Kurz vor seinem Rückflug steht er vor der Wohnungstür seines einstigen Freundes. Wenn die Vergangenheit nach einem Vierteljahrhundert so einfach vor der Türe auftaucht, dann nicht, um Hallo zu sagen, denn als sie sich gegenübersitzen, ist da das leise Surren von Patricks Handprothese.

Damals waren sie Freunde, Blutsbrüder, besuchten das Gymnasium, trafen sich nach der Schule, lümmelten in Rohbauten und Einkaufszentren herum, rauchten, tanzten in den Kellern des Ortes und verdienten sich auf dem Ticketschwarzmarkt vor grossen Konzerten einen ordentlichen Batzen Geld. Dass es dabei mit konkurrierenden Gangs zu Konflikten und handgreiflichen Auseinandersetzungen kam, schien die Freundschaft zwischen Tom und Patrick nur zu stärken, zumal sich die beiden mit aller Deutlichkeit von ihren Eltern abnabeln wollten. Patrick von Eltern, die nie da waren, selbst wenn die Mutter mit Pumps und vollen Tüten eines Lieferservices den peinlich gewordenen Geburtstag feiern wollte. Tom von seiner Mutter, die sich mit Alkohol tröstete. Weg von Eltern, die sie bloss Zombies nannten.

Peter Zimmermann «Was der Igel weiss», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-906907-31-4

Bis Tom Jasmin in seiner Klasse erstmals wahrnimmt. Ein Mädchen, das anders ist als jene, die im Keller tanzen. Ein Mädchen, das sich anders gibt, auch in der Schule. Auch keines von denen, die seinem grossen und athletischen Freund Patrick wie die Fliegen aufsitzen. Einmal steht Jasmin vorne beim Lehrerpult und hält wie alle anderen einen Vortrag. Aber der Vortrag ist eine Kampfansage gegen die Gewohnheiten der Gesellschaft; Halbnackte Hühner in Massentierhaltung, geschredderte Küken in einem Container, gestapelte Schweinehälften wie Tote in einem Konzentrationslager. Pater Zyrill, der Lehrer, bricht den Vortrag ab und schickt die Gymnasiasten an die frische Luft. Aber Tom ist fasziniert vom Mut seiner Mitschülerin. Sie treffen sich und er erfährt, dass Jasmin nicht bloss Vegetarierin ist, sondern Teil von „Straight Edge“, einer Bewegung, einem Lebensstil ohne Alkohol, Tabak oder andere Drogen, gegen häufigen PartnerInnenwechsel, nüchtern, gradlinig und selbstbestimmt. Tom verliebt sich. Er verliebt sich aber auch in die Kraft seiner Freundin, die sich nicht einfach blossen Schimpfen und Auflehnen hingibt, sondern in den Augen Toms auch für Veränderungen einsteht. Erst recht als klar wird, dass Jasmin Teil einer Gruppe junger AktivistInnen ist.

Tom ist mittendrin. Die alkoholabhängige Mutter, sein Freund Patrick, der mit seiner cool-lässigen Art die Welt zu nehmen versteht, Jasmin, die nicht bloss Steine wegkickt, Toms Onkel, der ihn zum Denken ermuntert und doch ganz anders ist wie sein erloschener Vater. Jasmin nimmt Tom mit und aus ihrer Überzeugung wird seine. 

Aber kann man eine Überzeugung wie einen Mantel umlegen? Wann wird Überzeugung zu eigenem Leben? Was bleibt von dem, was man in seiner Jugend wie ein Schwamm in sich aufgesogen hat? Den Plänen und den Träumen, den Vorstellungen und Visionen? Spiegelt mein gegenwärtiges Leben noch einen Funken dessen, was damals im Brennpunkt war, explosiv werden konnte?
Ein Vierteljahrhundert später treffen sich zwei Ernüchterte. Ist die Handprothese seines Freundes ein Grund, dass Tom Philosophieleher geworden ist? Ist jene Katastrophe, die damals Tom und Patrick beinahe das Leben gekostet hätte, bloss einfach ein Ende mit Schrecken oder ein Anfang?

Peter Zimmermann nimmt mich mit in die 90er Jahre, konfrontiert mich mit mir selbst, der ich auch einmal meine Überzeugung für jeden sichtbar mit mir herumtrug. Was bleibt vom Kampf gegen das Immergleiche, Unumstössliche, gegen Tradition und Establishment? Peter Zimmermanns Roman ist sehr konventionell erzählt, bleibt auf der eingeschlagenen Linie. Ich hätte dem Roman mehr Sprache und Konstruktion gewordenen Mut gewünscht. Doch auch wenn Peter Zimmermanns Debütroman manchmal etwas hölzern wirkt, lohnt sich die Lektüre allemal, weil da einer einen Kampf ausleuchtet, den wir alle mit uns herumtragen; die Rebellion und das, was davon bleibt.

Ein Interview mit Peter Zimmermann:

Tom wurde Philosophielehrer. Sie lassen im Verborgenen, wie sehr die verheerende Geschichte damals einer der Gründe wurde, warum Tom diesen Beruf auswählte. Und warum er einer der Menschen geworden ist, denen nicht die Karriere an erster Stelle steht, sondern ihr Idealismus. Ist jener Idealismus, den man sich bewahrt, nicht immer das Resultat von Leben, das an einem nagt?
Ja, das kann sein. Ich mag solche Figuren. Sie sind mir sympathischer als jene, die das Leben an sich abperlen lassen, keine Ideale besitzen und am Leben ihrer Mitmenschen nagen. Das ist es ja auch, was Tom in Bezug auf seinen Freund Patrick befürchtet: Dass dieser sich zu einem «zufriedenen, satten Geist» entwickelt. Auf der anderen Seite kann das Leben so sehr an einem nagen, dass der Idealismus, den man sich bewahrt, zahnlos wird, zu einer Flucht vor der Realität verkommt. Ich denke, Tom befindet sich da an einer Grenze.

Tom hat einen Onkel, den Bruder seines Vaters, der ganz anders ist, der Sätze sagt wie „Dein Verstand muss intuitiv werden. Er darf nicht sezieren, darf sich nicht in Einzelheiten verlieren“. Das tut doch aber die Literatur sehr oft. Man verliert sich in den Einzelheiten, den Details und traut der Intuition nur wenig. Oder liegt dort der Unterschied zwischen Handwerk und Kunst?
Gibt es diesen Unterschied überhaupt? Ich betrachte das literarische Schreiben – zumindest mein eigenes – eher als Handwerk. Aber ich verstehe den Sinn Ihrer Frage: Gewisse Texte sprechen uns in emotionaler und intellektueller Hinsicht auf eine ganz besondere Weise an und in diesen Fällen sagen wir üblicherweise, dass wir es mit Kunst zu tun haben.

 

aus den Notizen Peter Zimmermanns

Was zeichnet solche Texte aus? Ich formuliere eine Gegenthese zu Ihrer Aussage: Oft vernachlässigt Literatur den präzisen Blick auf die Details. Man verliert sich im Abstrakten, produziert «Geschwurbel» und behauptet, es wäre Kunst. Ich will Ihnen aber auch nicht widersprechen. Womöglich liegt die echte Kunst – oder das gute Handwerk – darin, die richtigen Details so zu wählen und zu arrangieren, dass Bedeutungen entstehen, die über die wörtliche Bedeutung des Textes hinausreichen. Dazu braucht es vielleicht tatsächlich so etwas wie Intuition. Ein solches Mehr an Bedeutung lässt sich dann wiederum bloss intuitiv erschliessen und nicht vollständig ausbuchstabieren, was zu dieser besonderen Leseerfahrung führt, die uns dazu bringt, von Kunst zu sprechen.

Was bleibt von dem, was einem in jungen Jahren umtreibt? Wie wächst Ideologie? Was ist von den Idealen des jungen Peter Zimmermann geblieben?
Das ist eine sehr persönliche Frage. Nun gut: Die Ideale des jungen Peter Zimmermann haben sich zu einem guten Teil darauf bezogen, was für ein Leben er führen möchte. Unter anderem wollte er auf keinen Fall Lehrer werden. Genau das ist aber aus mir geworden. Diese Entwicklung bereue ich keineswegs. Das Unterrichten ist eine sehr erfüllende Tätigkeit, die mir zwanzig Jahre lang grossen Spass bereitet hat. Allerdings nähere ich mich inzwischen dem Leben an, das ich mir als Jugendlicher erträumt habe: Nachdem ich diesen Frühling meine Stelle am Gymnasium gekündigt habe, um fortan nur noch in der Lehrerbildung tätig zu sein, werde ich in Zukunft deutlich weniger verdienen, aber auch deutlich mehr Zeit fürs Schreiben haben. Im Vergleich zu früher lebe ich heute in grösserer Übereinstimmung mit den Idealen des jungen Peter Zimmermann.

Sie zielen mit Ihrer Frage aber wohl auf andere Dinge. Wie steht es um meine moralischen Ideale? In gewisser Hinsicht war das auch mein Ausgangspunkt, als ich den Roman zu schreiben begann. Wie wird aus einem fünfzehnjährigen Jugendlichen, der genau dieselben Werte wie seine Eltern vertritt und der vor seinen Mitschülern ein flammendes Plädoyer für die Erneuerung der Schweizer Luftwaffe hält, in kurzer Zeit jemand, der auf die Strasse geht, um gegen die Anschaffung des F/A-18 zu demonstrieren? Auch wenn der Roman nicht als persönliche Aufarbeitung gedacht ist, interessiert mich grundsätzlich, wie ein solcher Wandel zustande kommt.

Im Erwachsenenalter und bis heute sind meine moralischen Überzeugungen im Wesentlichen aber stabil geblieben. Eine andere Frage ist die nach dem moralischen Engagement und der Konsequenz im Handeln. In dieser Hinsicht gilt es, Abstriche einzugestehen. Mein damaliges Ich hätte meine diesjährige Reise nach Costa Rica wohl kaum gutgeheissen. Auf der anderen Seite wäre es sicherlich erfreut zu hören, dass ich während der Recherche zum Buch endlich wieder zum Vegetarier geworden bin und inzwischen auch auf viele Milchprodukte verzichte.

Zur Frage nach der Ideologie: Meiner Meinung nach wächst Ideologie in der Weigerung, die Stimmen der Anderen zu vernehmen. Und Idealismus schlägt dann in Ideologie um, wenn entsprechende Überzeugungen entgegen ihrem Anspruch, vernünftig und allgemeingültig zu sein, lediglich der Verteidigung eigener Interessen dienen. In dieser zweiten Hinsicht würde ich, um auf das Thema des Romans Bezug zu nehmen, eher die Gegner einer veganen Lebensweise und Lebensmittelproduktion unter Ideologieverdacht stellen wollen als deren Befürworter.

am Aareufer © Peter Zimmermann

Sie schildern in ihrem Roman einen „Einbruch“ der jungen AktivistInnen in einen Schweinebetrieb. Eine Sauerei aus der Sicht der jungen Leute, eine Sauerei aus der Sicht des Schweinezüchters. Ihre Schilderungen sind so krass wie die Bilder des Tierschützers Erwin Kesslers. Erziehung, Überzeugung und Korrektur geschieht aber in den wenigsten Fällen durch Abschreckung. Und doch reizt kaum etwas so sehr wie das Krasse, das Schreiende, das Brutale. Warum stechen sie nicht noch viel mehr in die eiternde Beule?
Weil es den Roman aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Die Schilderungen sollten drastisch genug sein, um die Reaktionen der Figuren und das weitere Geschehen plausibel zu machen, ohne dabei die Grenze zum Reisserischen zu überschreiten. Die entsprechenden Passagen dienen der Geschichte und nicht umgekehrt. Aber ja, das Krasse und Schreiende reizt. Tatsächlich hat mir ein Literaturagent geraten, das Manuskript in die Tonne zu treten und die Geschichte neu aufzuziehen, mit literweise Blut und allem. Das entspricht jedoch nicht meinen Vorstellungen. Auch wenn in meinen Texten immer mal wieder brutale oder krasse Ereignisse vorkommen, reizt mich insgesamt doch eher das Subtile.

Um einen weiteren Aspekt Ihrer Frage aufzugreifen: Wäre es meine Absicht gewesen, Leserinnen und Leser zu überzeugen, hätte ich ein Sachbuch geschrieben. Und da stimme ich Ihnen zu: Abschreckung funktioniert nicht. Man müsste eher versuchen, vegetarische und vegane Lebensweisen noch stärker positiv zu besetzen, gegen das Vorurteil anzuschreiben, es handle sich dabei um genussfeindliche Einstellungen, die nur von miesepetrigen Besserwissern vertreten werden. Auf der anderen Seite bin ich schon der Meinung, dass jede Person, die Tierprodukte konsumiert, wissen sollte, unter welchen Bedingungen diese hergestellt werden. Dass ein solches Wissen oftmals schockiert, liegt in der Natur der Sache.

Tom liebte Jasmin, liebt jene Jasmin vielleicht auch noch nach einem Vierteljahrhundert als Imago. Tom ist alleine geblieben, Jasmin längst verheiratet und Mutter von Kindern. Bleibt Tom an seiner Geschichte hängen?
Dieser Schluss drängt sich auf. Aber das eigentliche Geschehen wird ja von drei Kapiteln eingerahmt, die in der Gegenwart spielen. Diese Kapitel sind mir wichtig, auch sie erzählen eine Geschichte: Tom trifft nach fünfundzwanzig Jahren auf seinen Jugendfreund, die Ereignisse von damals werden zum Thema. Das könnte durchaus der Ausgangspunkt einer Entwicklung sein, die es Tom ermöglicht, sich von seiner Vergangenheit zu lösen. Das Leben nagt an ihm, aber es besteht die Chance, dass es ihn nicht zerfrisst.

© Ayșe Yavaș

Peter Zimmermann, geboren 1972, wuchs in Nidwalden auf. Er promovierte in Philosophie und arbeitet als Fachdidaktiker an der Universität Fribourg. Ab 2016 publizierte er diverse Texte in Literaturzeitschriften und wurde für sein Schreiben bereits verschiedentlich ausgezeichnet: 2016 gewann er den Schreibwettbewerb von Das Magazin und den Literaturwettbewerb Treibhaus des Literarischen Monats, 2018 erhielt er einen Werkbeitrag der Zentralschweizer Literaturförderung für die Arbeit an «Was der Igel weiss», und 2019 den Irseer Pegasus. Peter Zimmermann lebt in Bern.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Tommy Orange «Dort dort», Hanser Berlin

Manchmal drängen sich Bücher auf. „Dort dort“ tat es, weil es tut, was Literatur wie kaum eine andere Kunstgattung tun kann. Sie mischt sich ein. Sie prügelt mich als Leser aus meiner Komfortzone. Sie schimpft mich einen Ignoranten, weil ich mich mit Erklärungen verschanze, Erklärungen darüber, warum meine Welt aus derart vielen Irrtümern besteht. 

1492 entdeckte Columbus eine neue Welt, nannte die Völker dort Indianer. Man pries ihn Jahrhunderte lang als Entdecker, goss ihn in Bronze, feierte ihn als Helden. Damals sollen nach Schätzungen 60 Millionen Menschen in Nord- und Südamerika gelebt haben. 100 Jahre später hatten bloss 10% von ihnen überlebt.
Aber das Sterben, Morden und Vertreiben ging Jahrhunderte lang weiter und hat sich tief ins Bewusstsein der indigenen Völker gefressen. Allein die Indianer in Kalifornien schrumpften zahlenmässig bis 1900 in Zeiten des Goldrauschs von 300 000 auf 16 000. Dass man dabei nicht von einem Genozid spricht, ist ein Hohn. Dass die USA sich ihrer Verantwortung allen nicht weissen Bevölkerungsgruppen gegenüber nicht bewusst ist, zeigen die jüngsten Ereignisse mit aller Deutlichkeit. Noch immer glaubt der Weisse an seine Vormachtstellung, an ein von Gott gegebenes Privileg. Dass dieses Selbstverständnis auch in Europa im Unterbewusstsein und manchmal auch ganz offen im Bewusstsein vieler steckt, beweisen Interviews mit in Deutschland, Österreich und der Schweiz geborenen nicht Weissen.

„Man kann das Leben nicht schönreden, wenn es nicht schön ist.“

Noch immer ist das Bild eines Indianers das in romantisch verklärten Bildern gezeichnete Fantasiemotiv aus Filmen und Büchern. Auch wenn sich dieses Bild langsam zu relativieren beginnt, bleibt eine kritische Auseinandersetzung mit sämtlichen Regungen kolonialen Denkens aus. Eroberung und Expansion, Übernahme und Ausweitung sind Begriffe in Wirtschaft und Geschichte. Die 500 Jahre Leidensgeschichte der nordamerikanischen Ureinwohner sind nicht vorbei, nicht ansatzweise aufgearbeitet. Wenn wir mit dem Wohnmobil in den Staaten Ferien und Fotos von bunt gekleideten Indianern machen, eine Kette kaufen und in die untergehende Sonne blinzeln, ist uns nicht bewusst, wie viel Zerstörung weisses Selbstverständnis angerichtet hat.

„Zuhause war ein verriegelter Kombi auf einem leeren Parkplatz. Zuhause war eine lange Busfahrt. Zuhause war, wo auch immer sie für eine Nacht sicher waren.“

Tommy Orange «Dort dort», Hanser Berlin, dem Englischen von Hannes Meyer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26413-7

Darum braucht es die Literatur. Darum braucht es Romane wie diesen von Tommy Orange. Weil sie in aller Klarheit und Direktheit schildern, was ist, nichts beschönigen aber auch in keine Depression verfallen. Tommy Orange erzählt aus dem Leben der Indianer heute, tut es von innen heraus. Und es ist nicht einfach die Geschichte eines Einzelnen, sondern eines Kollektivs, eines ganzen Volkes, das man seit Jahrhunderten schamlos belügt, betrügt und hinhält. Dass Teil des amerikanischen Traums sein soll, aber statt dessen den amerikanischen Alptraum erlebt.

Jaquine Red Feather, Drogenberaterin und selbst erst seit ein paar Tagen frei von Alkohol, gab als junge Frau nach einer Vergewaltigung ihr Kind zur anonymen Adoption frei. Wie alle in diesem Roman ist sie unterwegs in ein Stadion, unterwegs zu einem Powwow, einem grossen indianischen Treffen, an dem getanzt, gesungen und getrommelt wird. Jaquine Red Father ist aber wie alle auch unterwegs zu ihrer Familie, ihrer kleinen Familie, ihrer grossen, indianischen Familie. Dene Oxendene, ein junger Cheyenne und Arapaho Triebs, will mit der Kamera seines Onkels Geschichten der Native Americans, der Indianer festhalten. Und Erwin Black, ein junger Mann mit einer weissen Mutter und einem indianischen Vater, ist auf der Suche nach seiner Herkunft, seinem inexistenten Vater.

„Jugendliche springen aus dem Fenstern brennender Gebäude und stürzen in den Tod. Und wir glauben, das Problem wäre, dass sie springen. Getan haben wir Folgendes: Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, um sie am Springen zu hindern. Sie davon zu überzeugen, dass es besser ist, bei lebendigem Leib zu verbrennen, als Schluss zu machen, wenn es so heiss wird, dass sie es nicht mehr aushalten.“

In „Dort dort“ sind sie alle unterwegs, alle auf der Suche. Unterwegs zum Powwow, unterwegs zu einem Sehnsuchtsort, unterwegs, raus aus der Hoffnungslosigkeit, getrieben von Fetzen einer Perspektive. Und alles in diesem Buch, alles was aus einer grossen indianischen Katastrophe gründet, sich aus dem grossen indianischen Trauma zu schälen versucht, mündet wieder in einer Katastrophe. Ausgerechnet an jenem Ort, an dem die indianische Seele Atem schöpft, soll ein Verbrechen stattfinden, ein Raub.

„Du bist Indianer, weil du Indianer bist, weil du Indianer bist.“

Tommy Orange erzählt mit den Stimmen der Menschen, die er beschreibt, mit authentischen Dialogen, abgrundtiefen Einsichten in die gebeutelte indianische Seele. Und doch ist „Dort dort“ von grandioser poetischer Kraft, wenn Tommy Orange von Emotionen, Landschafts- und Seelenbildern erzählt – nicht zuletzt vom Sterben. Der Roman tut weh, weil Tommy Orange das letzte Fitzelchen Romantik verbannt, weil er mir mit Gewalt in den Nacken greift und mich zwingt hinzuschauen.

Tommy Orange, geboren 1982 in Oakland, ist Mitglied der Cheyenne und Arapaho Tribes. Er lebt mit seiner Frau und seinem Sohn in Angels Camp, Kalifornien.

Hannes Meyer wurde 1982 in Preetz bei Kiel geboren. Er studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen und arbeitet seit 2007 als freier Übersetzer. Er übersetzte u. a. Bücher von James Franco, Philip Kerr und Dana Spiotta. Für seine Übersetzung des Romans «Der Geschichte einer kurzen Ehe» von Anuk Arudpragasam wurde er für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert.

Beitragsbild © Christopher Thompson/NYT/Redux/laif

Katerina Poladjan «Hier sind Löwen», Gast am Literaare in Thun!

Das 15. Thuner Literaturfestival versucht es noch einmal! Und mit den Organisatorinnen hoffen all die Schriftstellerinnen und Schriftsteller auf eine Durchführung, auf BesucherInnen, Menschen, die sich trotz allem von der Literatur verführen lassen – nicht zum Leichtsinn, aber zum literarischen Hochgenuss!

Am Samstag, den 26. September, um 13.30 Uhr im Rathaus Thun: «Hier sind Löwen» von Katerina Poladjan:

Helene Mazavian kommt in Jerewan, der armenischen Hauptstadt an. Sie soll dort als Buchrestauratorin im Zentralarchiv für armenische Handschriften eine ganz spezielle Bindetechnik erlernen. Was Helene Mazavian aber wirklich lernt, ist sich mit ihrer Vergangenheit auseinanderzusetzen. Das Tor zu dieser ist ein Heilevangilar aus dem frühen 18. Jahrhundert. Aber Gewehr und Buch können ganz nah beieinander sein!

Helene Mazavian ist im Stillen entsetzt, als sie durch die Regale mit den Schätzen des Zentralarchivs geführt wird. Ganz anders wie in Deutschland, wo sie sich ausbilden liess, liegen hier die Bücher nicht in Archivboxen geschützt, sondern offen auf den Regalen. Ihre Chefin, die sie dorthin führt, meint: „Wären die Bücher alle umhüllt oder lägen sie in Schachteln, könnten sie nicht miteinander sprechen, nicht atmen. Eine Schachtel ist wie ein Grab, das Buch vereinsamt und stirbt.“

Katarina Poladjan «Hier sind Löwen», S. Fischer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397381-5

So manches ist anders, auch wenn Helene armenische Wurzeln hat, eine Vergangenheit, die mit dem blutigen Genozid zu Beginn des 20. Jahrhunderts verbunden ist. Die Menschen sprechen eine Sprache, die die ihre sein könnte, die sie aber nicht versteht, das Buch, das sie als erstes restaurieren soll, beginnt mit ihr zu kommunizieren, der Mann, der sie vom Flughafen abholte, bringt sie ins Wanken, sie, die sonst alles unter Kontrolle hat.

Schon Helenes Mutter, eine Künstlerin, die sich im Keller ihres Reihenhauses mit dem Genozid an den Armeniern beschäftigte und dabei auch nicht davor zurückschreckte die Puppen und Kuscheltiere ihrer Tochter in das nachempfundene Gemetzel jenes Schreckens einzubauen, liess, was damals geschah, nicht wirklich an sich heran. „Hier sind Löwen“ beschreibt, wie Geschichte, die Konfrontation mit ihr oder die Verweigerung einer solchen sich bis in die kommenden Generationen hineinfressen kann.

Die Buchrestauratorin und Schriftstellerin bei der Arbeit, © Katerina Poladjan

Die Familienbibel, an der sich die Buchrestauratorin versuchen soll, ist und war viel mehr als ein Buch. Ein Schatz, der in einer armenischen Familie von Generation zu Generation mitgetragen wurde. Ein Buch mit Wirkung und Geschichte. Ein Buch voller Zeichen, an die Seitenränder gekritzelt. Ein Buch, das zuerst gesäubert werden musste und zu dem ein Plastikbeutel aus dem Archiv gehört mit Haaren, toten Insekten, einer Theaterkarte, einer Zugfahrkarte von Wladiwostok nach Moskau, zwei Miniaturen, die einmal Seiten im Buch waren, einem Foto, einer Schiffsfahrkarte.

Während Helene sich immer tiefer in Land und Menschen begibt, fesselt sie dieses Buch, das ihr eine Geschichte erzählt. Die Geschichte von den Geschwistern Anahid und Hrant, die vor mehr als hundert Jahren auf der Flucht vor den Gräueln an ihrem Volk in die Berge flüchteten, ihr Zuhause, ihre Familie zurücklassen mussten, mit nichts als den Kleidern, die sie auf dem Leib trugen und diesem einen Buch, das sie beschützen sollte. „Hrant will nicht aufwachen“ steht mit ungelenken Buchstaben auf den Rand einer Seite gekritzelt. 

Und als Helenes Mutter Sara sie auffordert, jetzt wo sie doch dort sei, wo die Familie herkomme, jenes Foto, das sie ihr mitgab, als ersten Hinweis zur Suche nach ihrer Herkunft zu nutzen, begibt sich Helene auf eine Reise, die sie in mehrfacher Hinsicht an und über die Grenzen ihres bisherigen Lebens führt.

Mag sein, dass das Buch etwas kühl erzählt ist. Aber genau das macht den Roman zu dem, was ihn auszeichnet. Er spielt nicht mit den Gefühlen der Leserin, des Lesers. Es öffnet sich Seite um Seite einer Geschichte, eines Lebens, eines Dramas. Katerina Poladjan konstruiert gekonnt, verwebt Geschichten, Stimmen. Und so wie eine Buchrestauratorin mit Vorsicht und Umsicht an die Verletzungen eines Buchschatzes geht, so geht Katerina Poladjan an ihren Stoff.

Von 1915 bis 1917 starben unter der Verantwortung der jungtürkischen, vom Komitee für Einheit und Fortschritt gebildeten Regierung des Osmanischen Reichs mehr als eine Million Armenier, ein Völkermord, ein Genozid, den die türkische Regierung bis heute als «kriegsbedingte Sicherheitsmassnahme» bezeichnet und Regierungen und Persönlichkeiten rügt, die Tatsachen beim Namen nennen oder gar Konsequenzen fordern. Katerina Poladjan klagt nicht an, führt nicht vor. Aber «Hier sind Löwen» rückt ein Verbrechen zurück ins Bewusstsein, dem man angesichts der spannungsgeladenen Beziehungen zwischen der Türkei und dem Westen zu gerne aus dem Weg geht.

Ein Interview mit Katerina Poladjan

Sie öffnen mir als Leser die Tür zu einem Kapitel düsterer Geschichte des 20. Jahrhunderts mit aller Behutsamkeit. Und doch fühlte ich mich während der Lektüre gezwungen, mich mehr mit dem Genozid an den Armeniern zu beschäftigen. Es wäre ein Leichtes gewesen, ihren Roman mit unerträglicher Dramatik aufzublasen. Ist das auch ein bisschen ihr Kampf gegen den Zeitgeist?

© Katerina Poladjan

Kampf gegen den Zeitgeist klingt mir zu heroisch, vielleicht ist es eine Don-Quixoterie. Es war wirklich mein Anliegen, von einem der großen Menschheitsverbrechen zu erzählen, ohne dem allgemeinen Drang zur Polarisierung zu erliegen, ohne den Schreckensbildern zu erliegen, die mir oft genug bei der Recherche den Atem nahmen. Die Stille des Gedenkens war mir wichtiger, als laute Schreie der Anklage, Trauer und Wut. Und wenn es mir damit gelungen ist, ein kleines Fenster der Erinnerung zu öffnen, freut mich das sehr.

Das Unglück eines ganzen Volkes, das Unglück einer Liebe, die Helene in der Hauptstadt Armeniens loslassen muss, das Unglück einer Familie – das Glück einer Buchrestauratorin, die Auseinandergefallenes, Verwundetes, Zerrissenes, Verlorenes zurückgewinnen kann. Wie sind sie auf die Idee gekommen?

Einen Roman schreibe ich nicht von Anfang bis Ende. Am Anfang meines Schreibens steht ein Gefühl, eine Idee, ein Thema, ein Klang, hier ein Ort, dort die vagen Umrisse einer Figur. Ich skizziere, recherchiere, experimentiere, verwerfe. Mit diesem Material beginnt irgendwann ein Puzzlespiel, das sich beim Zusammensetzen ständig verändert und erweitert. Eines führt zum nächsten, anderes passt vielleicht nicht mehr ins Bild, Lücken entstehen und müssen gefüllt werden. Als ich in der Werkstatt des Handschriftenarchivs in Jerewan den Buchrestauratorinnen bei ihrer Arbeit zusehen durfte, war ich tief beeindruckt und fühlte ich mich ein wenig an meine eigene Anstrengung erinnert, erzählbare Geschichten aus der Unendlichkeit von Geschichte herauszuarbeiten. So ist Helene Buchrestauratorin geworden.

Liegt in ihrem Roman die Sehnsucht nach Spuren in die Vergangenheit? Eine Bibel, die die Zeichen über Generationen in und an sich trägt? Die Sehnsucht, dass sich mit dem Tod nicht alles dem Vergessen und Verschwinden auftut?

Ich würde nicht von Sehnsucht sprechen. Das Wesen menschlichen Denkens und Fühlens fusst doch auf der Fähigkeit zur Erinnerung. Wir können ja gar nicht nicht-erinnern, wir können nur leugnen oder vergessen. Erinnerung kann negativ wirken, traumatisch gar, und zum Durst nach Rache und Vergeltung führen. Viel mehr noch ist die Erinnerung eine Säule der Humanität und des Mitgefühls. Und letzteres ist doch Grund genug für die Spurensicherung.

© Katerina Poladjan

Anahid und Hrant sind jung, sehr jung und auf der Flucht. Hrant, der jüngere der beiden wird krank, fiebert und Anahid ist irgendwann gezwungen, ihren Bruder alleine zurückzulassen, eine Situation, die sich im Laufe der Geschichte noch einmal wiederholt. Darin steckt die Urangst eines jeden, verlassen zu werden. Aber braucht es dieses Verlassen-werden nicht, um autonom zu werden?

Um autonom zu werden, muss man selbst verlassen, ein aktiver Vorgang. Wenn einem das Autonom-werden aus der Zwangssituation des Verlassen-werdens gelingt, ist es ein Glück.

Wie viel will und soll man vom „Geheimnis Familie“ aufreissen, wenn man ahnt, dass es eine Wunde sein könnte, die sich niemals schliesst?

Das vermag ich nicht zu sagen. Nietzsche hat einmal den Satz geschrieben: „‚Wille zur Wahrheit‘ – das könnte ein versteckter Wille zum Tode sein.“

In Ihrem Roman fragt Helene: „Was gibt es Schöneres und Wichtigeres als Bücher?“ Ich stelle die Frage an Sie!

Seit wann gibt es auf rhetorische Fragen eine Antwort? Ach richtig – im Roman lautet sie: „Ein blankgeputztes Gewehr.“

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul.

Festivalprogramm 15. Thuner Literaturfestival 2020

Webseite der Autorin

Illustration © Lea Frei / leafrei.com

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte

Ein Büchlein im Taschenformat. Ein Büchlein, das in möglichst viele Taschen gehört, weil Alexandra von Arx alle StädterInnen und HeimwehberglerInnen mitnehmen kann. Ein paar Wochen, einen Sommer hinauf in die Hundsteinhütte zwischen Säntis und Hohem Kasten. Ein literarisches Kleinod, auch wenn der Einband kuhfladenbraun ist. 

Man fährt mit dem Postauto bis zum appenzellischen Brülisau, dem letzten Dorf unter dem Hohen Kasten, einem der beiden markanten Berggipfel in den ostschweizer Voralpen. Von dort steigt man zu Fuss vorbei am Sämtisersee zweieinhalb Stunden bis zur Hundsteinhütte hinauf, einer SAC-Hütte (Schweizer Alpen-Club), hoch über dem Fälensee, dem vielleicht mythischsten der drei Alpsteinseen.

Dorthin lockte es die Schriftstellerin Alexandra von Arx, als sie noch als Wahlbeobachterin im ukrainischen Kiew arbeitete. Ein Inserat, das eine „flinke, belastbare und teamfähige“ Mitarbeiterin suchte. Von Kiew in den Alpstein, von einer Dreimillionenmetropole ins Appenzeller Hinterland, hinter sieben Berge, von politischer Aktualität in eine Realität gewordene Idylle. Und wenn eine Beobachterin, die ihr Tun gleich mehrfach zum Beruf macht, dies unternimmt, dann mit Stift und Leerbuch. Vielleicht nicht mit ausgesprochener, aber mit unterschwelliger, letztlich nicht zu verleugnender Absicht.

Die Hütte liegt auf 1554 m und bietet über vierzig Schlafplätze. Als Hütte wohlverstanden nicht in Doppel- und Einzelzimmern mit Sprudelbad und Regendusche, sondern verteilt in drei „Massenschläge“. Der Hüttenwart kocht und backt, die Mann- und Frauschaft schenkt aus, serviert, putzt, räumt auf, holt Nachschub aus dem Tal. Viele Hände für müde und hungrige WandererInnen. Da wird die Verteilung der 44 Schlafplätze schon zu einem kniffligen Tetrispuzzle, kombiniert mit vegetarischen, veganen oder fleischessenden Besuchern, Angemeldeten, Nichterschienenen in Stosszeiten zu wahren Herkulessaufgaben

Alexandra von Arx «Hundsteinhüttenbuchrandnotizen», orte, 2020, 128 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-85830-274-8

Die „Hundsteinhüttenbuchrandnotizen“ sind aber viel mehr als das Konzentrat eines Tagbuchs, eines Skizzenbuchs für literarische Szenen. Alexandra von Arx hält sich mit aller Absicht ganz im Hintergrund. Wenn es um sie als Person geht, dann stets witzig, würzig und mit Selbstironie. Das zeigt sich, wenn sie sich als Oltnerin vom appenzeller Dialekt umgarnen lässt, einem Dialekt, der selbst in dem kleinräumigen Kanton nicht immer aus allen Winkeln gleich tönt und klingt.

Erzielen beim Fussballmatch zwischen Heiden und Gais beide Mannschaften ein Tor, so tönt dies etwa so: „Heede – Gees, ees – ees“

Es sind nicht nur die Feinheiten der Sprache, denen die Autorin nachspürt, denn in diesen Feinheiten liegt auch das Wesen eines Menschen. Landschaft, Geschichte, Tradition wirken hinein in eine Sprache. Und vielleicht prallen die Gegensätze nirgends intensiver und gleichzeitig schöpferischer aneinander als im Appenzellerland. Mag sein, dass die Landschaft etwas von der Sehnsucht nach Idylle stillt. Mag sein, dass das Appenzellerland wie keine andere Gegend die Idylle zu einem erfolgreichen Geschäftsmodell machen konnte. Alexandra von Arx malt diese Idylle nicht aus, betreibt keine naive Brauchtumskunst. Sie taucht ein in ein Leben, das abseits ist von all dem, was die meisten von uns kennen. Ein Leben, dass die Hüttenidylle erst möglich macht, ein Leben im Schweiss ihres Angesichts, ein Leben zwischen Kuhfladen und Facebookpost.

Warum ein solches Buch lesen? Weil Alexandra von Arx mich mitnimmt an einen wunderschönen Ort. Ich spüre die Majestätik des Alpsteins. Weil sich Alexandra von Arx nicht produziert, sondern mit viel Liebe und Empathie schildert, was hängen bleibt. Weil sie der Bissigkeit und Entblössung widersteht. Und weil alles in franzhohlerischen Witz getaucht ist, der sich nie auf Kosten anderer in Szene setzt.

Wer das Büchlein auf dem Nachhauseweg von der Arbeit aus seiner Tasche oder Jacke zieht, um ein paar Seiten zu lesen, bei dem fängt der Feierabend früher an – mit Sicherheit!

Alexandra von Arx ist 1972 in Olten geboren und aufgewachsen. Nach Abschluss ihres Studiums der Rechtswissenschaften spezialisierte sie sich auf Menschenrechtsfragen und wurde 2011 in den Schweizerischen Expertenpool für zivile Friedensförderung aufgenommen. Seither ist sie als internationale Wahlbeobachterin tätig. Seit sie 2016 einen Schreibwettbewerb der LiteraTour Stadt Olten gewonnen hat und mit dem Text «OlteNetlO» auf dem Schweizer Schriftstellerweg vertreten ist, widmet sie sich intensiv dem Schreiben. Der Kanton Solothurn hat sie 2018 mit dem Förderpreis für Literatur ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Webseite der Hundsteinhütte

Rezension von «Ein Hauch Pink» mit Interview auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Peter Ehrbar, Hüttenwart Hundsteinhütte

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe

Reduziert man die Dinge, die einem ein Leben lang umtreiben, auf das Wesentliche, bleibt wenig, auch wenn das zuweilen viel ist. Aber wahrscheinlich beschäftigt man sich zu gerne mit den überflüssigen Dingen, die trotz aller Einsicht oben aufschwimmen und die Sicht auf all das verbergen, was die Verdrängung, die schiere Menge der Dinge, die einem umtreiben, ausmacht. Janna Steenfatt hat mit ihrem Debüt einen erstaunlich reifen Roman geschrieben, auch wenn der Titel sperrig tönt.

Inas Mutter ist mit ihrem Auto gegen einen Baum gefahren. Alles spricht dafür, dass sie es aus Absicht tat. Ein mässig theatraler Abgang aus einem Theaterleben mit mässigem Erfolg. Inas Mutter hatte an den grossen Bühnen Deutschlands gespielt. Aber irgendwann dünnten die Verpflichtungen aus, die Rollen wurden immer unbedeutender. Und als sie ganz ausblieben, wurde der Rausch der Bühne durch den des Alkohols ersetzt. Das Leben ihrer Mutter verlor sich, so wie sie sich mit ihrem Selbstunfall ausradierte. Nicht das der Tod der Mutter Ina in eine Krise gerissen hätte, dafür hatten sie sich schon lange zuvor verloren. Aber ihr Tod und alles, was sie mit ihm mitgenommen hatte, all die Fragen, die nie eine Antwort bekamen, zwingen Ina, sich mit dem Unvermeidlichen auseinanderzusetzen, auch wenn Falk, ihr Mitbewohner fast alles regelt, was mit dem plötzlichen Sterben Inas Mutter anfällt.

„… das Warten auf das richtige Leben machte bereits der unguten Ahnung Platz, dass es das hier tatsächlich schon sein sollte.“

Janna Steenfatt «Die Überflüssigkeit der Dinge», Hoffmann und Campe, 2020, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-455-00831-9

Ina studierte Germanistik und Philosophie. Aber daraus wurde nie wirklich etwas, so wie sich bei ihrer Mutter das verflüchtigte, was vielversprechend begonnen hatte, ein Dasein als erfolgreiche Schauspielerin. Das Leben Inas Mutter dümpelt im Alkohol weiter, das Leben Inas in Unentschlossenheit. Bis sie in der Hinterlassenschaft ihrer Mutter Spuren ihres Vaters findet.
Und als eben dieser Mann zurück nach Hamburg kommen soll, um am Theater Shakespeares Sommernachtstraum zu inszenieren, wird klar, dass Ina ihr Leben nur weiterführen kann, wenn sie sich nicht nur dem Vater stellt, sondern ihrem im gemässigten Unglück eingerichteten Leben. Ina schafft es, in der Theaterkantine einen Aushilfsjob zu ergattern, auch wenn diese Arbeit nur Vorwand ist, ein Versteck, um „den richtigen Moment“ zu erwischen. Noch so ein Moment, der Ina zu entwischen droht.

„Ich dachte darüber nach, dass man andauernd etwas Neues, Aufregendes wollte, aber dann war das nach kurzer Zeit nicht mehr neu und aufregend, sondern normal, und dann wollte man wieder etwas anderes. Und immer weiter so.“

Am Theater lernt Ina die Schauspielerin Paula kennen, die in dem von ihrem Vater inszenierten Stück den Puck spielt, eine schelmische Fee. Zwischen Ina und Paula wächst eine Liebe, etwas was mit anderen zuvor nie entstehen wollte. Paula wird zu einem Puck in Inas Leben, bringt Inas Leben aus dem Zustand des permanenten Wartens. Aber so wie die vor Wolf Eschenbach dem Regisseur, den Menschen um sie herum, nicht einmal Falk, mit dem sie schon so lange die WG teilt und auch nicht bei Paula preisgibt, wonach sie wirklich sucht, kulminiert in Janna Steenfatt Roman alles auf den einen, unausweichlichen Punkt hin.

„… ich wusste damals noch nicht, dass sich nie etwas ergab, in diesem Rohrkrepiererleben.“

„Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist eine Suche nach der Herkunft. Darüber, was bleibt, was bleiben soll, wenn ein Mensch stirbt. Was bedeutet Mutter- und Vaterschaft? Was passiert, wenn Verbindungen wissentlich gekappt werden? Heilt die Zeit Wunden wirklich? Gibt es Fragen, die man unbeantwortet stehen lassen kann?
Aber „Die Überflüssigkeit der Dinge“ ist auch ein Theaterroman, ein Roman, der sich das Theater und den ganz eigenen Kosmos mit aller Selbstverständlichkeit zur Kulisse macht. Für einmal ein Theaterroman nicht über die hausinternen Frustrationen und Intrigen. Janna Steenfatt beschreibt einen Kampf. Und selbst wenn dieser Kampf autobiographische Züge hätte, schafft es die Autorin, mit kluger Distanz zu erzählen. Ich hätte es dem Roman gegönnt, wenn der Titel nicht durch den sperrigen Genitiv verzerrt worden wäre, denn Janna Steenfatt erzählt direkt, gradlinig und frech. Von diesen Eigenschaften des Romans verspricht der Titel nichts.

„Alles, was ich tat, führte dazu herauszufinden, was ich nicht wollte, aber ich dachte, dass auf diese Weise immerhin irgendwann einmal das, was ich wollen könnte, übrig bleiben müsse.“

Eintauchen und lesen!

Interview mit Janna Steenfatt:

Ina verliebt sich in Paula. Paula spielt in der Inszenierung von Shakespeares Sommernachtstraum den Puck, ein buntes, rätselhaftes Fabelwesen, „wild und schön und nicht von dieser Welt“. Sie kommen sich sehr nahe; doch je näher, desto mehr entschwindet Paula. Ist das Entschwinden wirklich Resultat eines Verrats oder nicht viel mehr das Resultat von Unfähigkeiten?
Ich würde sagen: ein Verrat ist immer ein solcher, wenn die verratene Person ihn als solchen empfindet. Und das tut Ina. Natürlich sind Unfähigkeiten – sich zu artikulieren, sich zu zeigen, miteinander zu kommunizieren – die Grundproblematiken meiner Figuren. Das Wort Verrat im Klappentext ist natürlich ein sehr starkes und kommt im Übrigen von meiner Lektorin, nicht von mir.

Inas Mutter stirbt. Und doch hat Ina ihre Mutter damit nicht verloren. Das Verlieren hat schon viel früher begonnen. Ina verliert auch den Vater, verliert die Orientierung, Freundschaft, die Liebe, fast alles. Und trotzdem schildern sie Ina nicht als Geschundene, Verletzte, Verlorene. Ina strahlt Kraft aus, obwohl ihr Leben fast nur aus Warten besteht, dem Warten darauf, dass sich Dinge ergeben. Ist Leben Verlust, wenn man zurückschaut und Gewinn, wenn man die Hoffnung nicht verliert?
Ich glaube, das Leben ist keine Kosten-Nutzen-Rechnung und lässt sich somit nicht so leicht in Verlust und Gewinn unterteilen. Aus Verlusten kann Gewinn entstehen und zurückschauen sollte man vielleicht trotzdem ab und an, um die Dinge klarer zu sehen. Es kommt nur darauf an, wie man es tut und nicht auf alle Fragen gibt es Antworten. Was Ina auf ihrer Suche lernen muss: die Dinge gutsein lassen. Die Hoffnung nicht zu verlieren ist dabei die Grundvorraussetzung, überhaupt am Leben zu sein.

Wolf Eschenbach, Inas Vater, hat sich vor Jahrzehnten aus dem Staub gemacht. Und Inas Mutter hat sich den Annäherungsversuchen Inas Vaters verschlossen. Heiner, der Koch aus der Theaterkantine sagt: „Es gibt Dinge, die kann man nicht wiedergutmachen.“ Etwas, was Ina auch gar nicht will. Aber ist es die Absicht, Ordnung zu machen? Nicht Ordnung in die Umstände, aber Ordnung in ihr selbst. 
Ja, ich glaube schon. Das hat auch mit Erwachsenwerden zu tun, damit, die eigene Geschichte zu begreifen und sich nicht als das Opfer der Umstände zu sehen. Ina will letztlich ihren Frieden machen, denn für eine direkte Konfrontation mit der Mutter ist es zu spät, also bleibt nur der Vater.

Ina verrät, das sie noch nie zu jemandem „Ich liebe dich“ gesagt habe. In der Schweiz ist dieser Satz noch viel fremder. Eigentlich ein Satz, der nur in Schrift und Bild vorkommt. Doch eigenartig, wo sich dermassen viel Leben um diesen Satz dreht? 
Das habe ich schon mal gehört, dass man diesen Satz in der Schweiz eigentlich gar nicht sagt. Ich finde das schade. Es ist so ein gewaltiger Satz. Er ist natürlich auch beängstigend, die Worte wiegen so stark im Deutschen, anders als beispielsweise im Englischen, wo dieser Satz etwas inflationärer gebraucht wird, nicht nur in romantischen Beziehungen. Ich weiss gar nicht, wie diese Stelle in einer Übersetzung funktionieren würde.

Für ein ganzes Stück in Inas Leben reichte ein Auskommen, genug Schlaf, etwas Sex und Gin Tonic. Was braucht Janna Steenfatt? 
Ebenfalls diese vier Dinge! Plus Inspiration, Liebe, Sonne, Wind, Bücher, Filme, Musik und gutes Essen.

Janna Steenfatt, geboren 1982 in Hamburg, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als freie Autorin und Moderatorin für verschiedene Filmfestivals. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, Teilnehmerin des 19. Open Mike und erhielt zahlreiche Aufenthaltsstipendien. Die Überflüssigkeit der Dinge ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Sascha Kokott

David Vann «Momentum», Hanser Berlin

Schon eines seiner ersten Bücher „Legend of a Suicide“ (Im Schatten des Vaters, Suhrkamp, 2011) drehte sich thematisch um die Selbsttötung seines Vaters. Sein neuster Roman „Momentum“ (engl. Halibut on the moon) ist ein schmerzhafter Roadtripp zweier Brüder. Der eine gelähmt durch seine Hilflosigkeit, der andere zerfressen von einem Schmerz, der ihn von allem wegreisst und unaufhörlich auf ein selbstzerstörerisches Ende zutreibt.

Ich fragte einen Freund, ob er in diesen Zeiten ein aussergewöhnliches Buch gelesen habe. Er zögerte keinen Augenblick und nannte „Momentum“ von David Vann. Er musste den Namen buchstabieren, hatte ihn noch nie gehört, obwohl ich im Nachhinein feststellen musste, dass Suhrkamp ein halbes Dutzend Bücher dieses Autors preist, die alle an meiner Wahrnehmung vorbeigingen. Ein Versäumnis!

Jim wird an einem Flughafen in San Francisco von seinem jüngeren Bruder Gary abgeholt. Gary, dessen Bruder für ihn lange sein grosser Bruder, sein Vorbild war, wird vom kleinen Bruder zum Beschützer, zum Behüter seines Bruders. Jim ist Ende dreissig und schwer depressiv. In der halbvollen Ledertasche, die er von Alaska mitgebracht hat, liegt ganz unten eine 44er Ruger Magnum und in seinem Koffer die dazugehörige Munition. Dr. Brown, der Jim Medikamente verschreibt, warnt, dass diese erst nach zwei Wochen zu wirken beginnen und man Jim auf keinen Fall alleine lassen dürfe, weder am Tag noch in der Nacht.

„Du bist wie ein Kompass neben einem Magneten.“

So fährt Gary am Steuer seines Pick-ups, neben ihm sein Bruder. Gary will seinen Bruder zurück und Jim steuert entschlossen auf den von ihm bestimmten Endpunkt seines Lebens entgegen. Für ihn gibt es nichts zu retten, schon gar nicht sein beschissenes Leben, ein Leben, das ausser Kontrolle geraten ist, das ihn hin- und herschlägt von überbordender Euphorie in abgrundtiefe Depression. Das einzige, was ihm Sicherheit gibt, ist die Knarre in seinem Gepäck und die Gewissheit, dass sie ihn in einem einzigen kontrollierten Moment aus dem permanenten Schmerz wegreissen kann, für immer befreien.

David Vann «Momentum», Hanser Berlin, 2020, 304 Seiten, 35.90 CHF, ISBN 978-3-446-26594-3

Jim, der in der Schule zu den Besten gehörte, wie sein Vater Zahnarzt wurde und einen Haufen Geld verdiente, zweimal verheiratet war, zwei Kinder hat und nichts lieber tat, als mit seinem Bruder zu jagen, hat allen Halt verloren, alle Sicherheit, jede Hoffnung. Er stellt alles in Frage, stellt dauernd Fragen, die jene, die ganz in der Gegenwart zu leben versuchen, gar nie stellen, sich gar nie zu stellen trauen. Jim reisst alle Fassaden, alle Kulissen nieder. Selbst als er seine Ex noch einmal besucht und einen Ausflug mit seinen beiden Kindern zu machen versucht, endet alles im Fiasko von Fragen, überbordender Reaktionen und der Hilflosigkeit aller Beteiligten. Unversöhnliche Gegensätze zerschmettern das wenige, das geblieben ist, da der fatalistische Frontalangriff auf alles, dort die immer gleichen religiösen und konformistischen Litaneien. Jim kann nicht mehr. Das Theater seines Lebens formiert sich zu einem finalen Ende.

„Wir kommen nirgends hin und entkommen auch nicht meiner Zukunft.“

Gary und Jim fahren zu ihren Eltern, beide alt geworden, müde vom Leben. Irgendwann sitzen sich Jim und sein Vater im Halbdunkeln gegenüber. Beide verstehen nicht. Bis der Vater sagt: „Alles ist ein Haufen Scheisse. Das ganze Leben. Nichts ist so, wie es sein sollte.“ Jim kann nicht fassen, dass sein Vater für einen kurzen Moment sein Versteck verlässt. Und doch ist Jim unrettbar verloren, die Fahrt mit seinem Bruder eine Fahrt auf den Abgrund zu.

Zugegeben, es tut weh. Erst recht, wenn einem bewusst wird, dass der Autor Jims Sohn den Namen David gegeben hat, etwas von seinem eigenen Leben erzählt, der Depression, dem Suizid seines Vaters. Wenn David die Szenen mit Jims Kindern schildert, die Ausweglosigkeit, die Verzweiflung des Bruders, die Ratlosigkeit einer ganzen Familie, dann wird deutlich, wie tief das Leiden, wie gross die Verzweiflung war.
Und doch braucht es solche Bücher, die an Fassaden und Kulissen reissen, die Fragen stellen, die sonst nicht gestellt werden, existenzielle Fragen über Sinn und Erlösung, über Wahrheiten und Liebe. David Vann tut es mit seinem Buch unmittelbar. Wer während der Lektüre nur ein Fünkchen Selbstreflexion zulässt, wird das Buch nicht atemlos lesen können, wird es weglegen müssen, weil sich Eigenes aufdrängt. Was will Literatur mehr!

© Mathieu Bourgois Agency

David Vann wurde 1966 auf Adak Island/Alaska geboren. Seine Romane sind vielfach preisgekrönt und erscheinen in 22 Ländern. David Vann lebt in Neuseeland und ist derzeit Professor an der University of Warwick in England.

Der Übersetzer Cornelius Reiber, 1963, studierte Germanistik, Geschichte und Kulturwissenschaften in Köln, Berlin und Princeton und lebt in Berlin. Daneben lehrt er gelegentlich an der Universität Basel. Zuletzt übersetzte er Bücher von Forrest Leo, Paul Theroux sowie einen Gesprächsband mit David Bowie.

Webseite des Autors

Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, Gastbeitrag von Frank Keil

Christian Baron erzählt in seinem Debütroman „Ein Mann seiner Klasse“ von Armut, von seinem prügelnden Vater, seiner depressiven Mutter – und wie ihm der Aus- wie Aufstieg gelang.

Frank Keil

Von dort, was man ‚unten‘ nennt
von Frank Keil

Doch, es gibt Lichtblicke. Es gibt Momente, in denen der Vater noch nicht so heillos betrunken ist, dass er hemmungslos um sich schlägt und seine Gewaltausbrüche keine Grenzen kennen. Helle Momente, in denen er vielleicht angetrunken ist, daher gut gelaunt, lustig gestimmt bald, zu Scherzen aufgelegt; wo er aus heiterem Himmel den einen oder anderen Geldschein springen lässt und dann können sich seine Kinder was kaufen, was sie grad wollen; dann umgarnt er seine Frau, auf charmante Art. Oder Momente, wo er seinem ältesten Sohn plötzlich sagt, der könne sein, wie er will, seinetwegen auch schwul – Hauptsache er sei auf das, was er sei, stolz. Richtig stolz. So wie auch sein Vater stolz auf sich sei, egal was die Nachbarn sagten oder die Polizei oder das Jugendamt. Es sind – wie gesagt – Lichtblicke. Meistens aber ist es dunkel. Sehr dunkel. Bis rabenschwarz.

Christian Baron kommt von dort, dass man „unten“ nennt, wenn man nicht von dort kommt; sondern von „oben“ oder – noch beliebter, weil unverfänglicher: „so aus der Mitte“. Er hat einen anderen Weg erst einschlagen können, nachdem das Jugendamt zugriff und dem Vater nach dem Tod seiner Frau die Kinder entzog. Er hat nicht nur die Schule abgeschlossen, er hat studiert und er ist Journalist geworden, Redakteur. Aktuell ist er beim Berliner „Der Freitag“ beschäftigt. Und als die Wochenzeitung eine Kulturbeilage zum Weltfrauentag produzierte, schreibt er für diese einen Essay: „Ganz egal, ob geprügelt und ob das Geld versoffen wurde: Ich wollte immer genau so werden wie mein Vater“, der Untertitel (www.freitag.de/autoren/cbaron/ein-mann-seiner-klasse). Die Literaturagentin Franziska Günther bekommt ihn in ihre Hände, und sie kontaktet Baron und schlägt ihm vor, genau darüber ein Buch zu schreiben. Und er setzt sich hin und schreibt seine Lebensgeschichte auf, und er hat sie vor allem literarisch geformt. 

Die Kapitel heissen ZORN, GLÜCK, SCHMERZ und ÜBERRASCHUNG. Sie heissen SCHAM, STOLZ, ANGST, LIEBE, dann HASS und HOFFNUNG. Und das letzte Kapitel heisst ZWEIFEL. Jeweils in Grossbuchstaben.

Christian Baron «Ein Mann seiner Klasse», Claassen, 2020, 288 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-546-10000-7

„Vom Laster gefallen“ murmelnd der Vater, wenn er von der Arbeit kommt und irgendetwas mit nach Hause bringt, was er sich sonst nicht leisten könnte, manchmal Spielzeug für die Kinder. Er ist kräftig und stark, der Vater, er arbeitet als Möbelpacker, der alles tragen kann, im doppelten Sinne des Wortes. Und er fürchtet sich nicht – und das hat seine guten, aber vor allem hat es seine schlechten Seiten. Von denen er durchaus weiß, die ihm nicht unbekannt sind. Dass er, der so stolz auf seine körperliche Arbeit ist, die er jeden Tag stemmt, genau davon nicht leben kann, macht die Wut aus, die ihn immer wieder packt. Hätte es einen Ausweg gegeben? Gibt es einen für einen wie ihn?

Baron, 1985 in Kaiserslautern geboren, erzählt die Geschichte seiner Kindheit einerseits gradlinig und direkt; andererseits wechselt er hin und wieder in sachte Rückblenden. Schaut sich zu wie er schaut, auf sich und seine Geschwister und die Eltern, damals. Ist aber auch unterwegs in der erzählerischen Gegenwart, sitzt dann mit seinem entsprechend erwachsenem Bruder zusammen und sie reden über das, was damals war; an das sie sich durchaus unterschiedlich erinnern, wie das so ist. Und im nächsten Moment geht es wieder zurück ins damalige Geschehen, mit einer Unmittelbarkeit, die einen packt, als sei man dabei. Im Schlechten wie im manchmal im Guten.

Und so ist sein Buch entsprechend auch keine blanke Abrechnung mit seinem Vater. Es ist kein hasserfülltes Buch, das ist es so gar nicht. Baron schreibt von dem, was damals war; schlüpft als erwachsener und als entsprechend distanzierungsfähiger Autor in die Sicht eines Kindes, dass sich seine Welt, in der es nun mal lebt, so erklären muss, dass das Leben in ihr aushaltbar bleibt. Und am besten mehr als das. Und er erzählt auch davon, dass es helfen kann, das Lebens (s)eines Vaters zu verstehen, was nichts damit zu tun hat, es zu entschuldigen oder zu billigen. Sondern: verstehen, um wichtiges für sich selbst zu erfahren. Etwa: Warum man seinen Vater, der einen schlägt, trotzdem liebt. Das es kein entweder/oder ist, als Kind. Und später dann auch nicht mehr.

Wobei wir bei alledem nicht im luftleeren Raum bleiben, sozusagen. Es gibt schliesslich auch Nachbarn, die wegschauen oder die mal gegen die Wand hauen, wenn es drüben in der kleinen Wohnung drunter und drüber geht und sie der Lärm stört. Es gibt Mitschüler, die dem Erzähler immer wieder klar machen, dass er unter ihnen nichts zu suchen hat; dass er wieder dort hingehen soll, wo er herkommt. Und dass er dort zu bleiben hat. Auch davon erzählt Baron.

Und es gibt starke Frauenfiguren, offenbar im Leben wie erst recht im Buch. Die Mutter etwa, die in ihren Jugendjahren Gedichte schrieb – und es gibt eine Szene, in denen ein Lehrer diese Gedichte vor der versammelten Klasse verhöhnt und die nun sichtbare Brutalität steht in nichts dem nach, was ihr Mann später mit ihr anrichtet, wenn er ihren Kopf greift und zuschlägt. Gewalt – auch davon erzählt Baron – sind nicht nur Schläge. Man kann auch einen Menschen niederschlagen, ohne ihn zu berühren.

Und es gibt die Tante, die zu retten versucht, was noch zu retten ist: ihre Schwester, die immer wieder in tagelange Depressionen versinkt und dann das Bett nicht verlässt; die Kinder, die in dem Wechselspiel von unerwarteter Zuneigung und plötzlich ausbrechender Gewalttätigkeit unterzugehen drohen. Wie soll man das auch verstehen, dass mit einem Mal wieder alles ganz anders wird?

Es sind denn auch immer wieder die hoffnungsvoll aufscheinenden Momente, die einen durch die Lektüre leiten und die davon erzählen, dass Menschen auch in Momenten großer Bedrängnis versuchen sich ihre Freiräume zu sichern und seien es noch so weniger: Die Mutter tanzt hingebungsvoll zur Musik der Kelly Family. Mit dem Vater spielen die beiden Jungs eine Runde Super Mario auf der Konsole, die rein zufällig vorher vom Laster gefallen ist. Und gelegentlich taucht auch ein ganz feiner Humor auf; der Humor der vordergründig Unterlegenen, die nicht daran denken, dass sie klein beigeben; die darauf bestehen, dass auch ihr Leben eine eigene Würde und immer auch Geschichte hat.

Ja, es gab Momente, in denen sass man gerne mit dem Erzähler, seinen drei Geschwistern und der Mutter in der kleinen Küche und schaute zu, was sich ergab; hörte zu, was gesprochen wurde, was gescherzt. Und wenn der Vater hinzukam, dann war das zuweilen auch okay. Eher selten, eigentlich fast nie. Aber manchmal eben doch. Und genau diese Momente versucht der Autor zu bewahren. Auch um sich zu retten, vielleicht bis heute.

© Hans Scherhaufer

Christian Baron wurde 1985 in Kaiserslautern geboren. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Germanistik in Trier. Nach Stationen bei der Lokalzeitung Die Rheinpfalz und Neues Deutschlandsowie Veröffentlichungen bei nachtkritik, Neue Zürcher Zeitung und Theater der Zeit arbeitet er seit 2018 als Redakteur bei der Wochenzeitung der Freitag.

Das Harbour Front Literaturfestival vergibt den Klaus-Michael Kühne-Preis zum elften Mal an das beste Romandebüt des Jahres. Der mit 10.000 Euro dotierte Preis soll junge Literatur fördern und deren Bedeutung unterstreichen.

Die Mitglieder der Hauptjury – Felix Bayer (Spiegel), Stephanie Krawehl (Buchhandlung Lesesaal), Stephan Lohr (NDR Kultur a.D.), Maximilian Probst (Zeit) und Meike Schnitzler (Brigitte) – begründen ihre Entscheidung für Christian Baron und seinen Roman „Ein Mann seiner Klasse“ (Claassen) wie folgt:

„In seinem autobiografisch angelegten literarischen Debüt «Ein Mann seiner Klasse» beschreibt Christian Baron auf sehr eindrückliche Art das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie in Armut. Die Jury hat besonders überzeugt, dass die Leserinnen und Leser in ein Milieu geführt werden, das oft nur als statistische Grösse auftaucht. Hier bekommt diese Welt eine Stimme und das in einer literarisch klug gestalteten Weise. Christian Baron verzichtet auf Klischees und ideologische Zuordnungen. Vielmehr entlarvt er die Muster gesellschaftlicher Kategorisierungen und überzeugt durch die Bestandsaufnahme eines Lebens mit einem stets betrunkenen und prügelnden Vater und einer depressiven und früh an Krebs gestorbenen Mutter – Mit allem Schrecken, mit allem Schmerz, aber auch mit den Momenten von Stolz und Glück.

Beitragsbilder © Hans Scherhaufer