André David Winter «Die Leben des Gaston Chevalier», edition bücherlese

Längst nicht jede Geburt steht unter einem guten Stern, auch wenn man die eine jede Weihnachten feiert. André David Winter, der sich 2007 mit seinem Roman „Die Hansens“ schon einmal in die Abenteuer einer Familie hineinschrieb, überzeugt mit seinem neuesten Roman nicht nur durch den so gar nicht helvetisch grosszügigen Schwung des kräftigen Erzählens, sondern durch einen Sound, durch Bildfarbe, die an französische Filme erinnert, nicht nur wegen der frankophonen Namen.

Gaston wird 1929 in eine Pariser Artistenfamilie hineingeboren. Sein Vater ist artiste et céphalopode, Schlangenmensch, selten bis nie zuhause. Seine Mutter versucht sich selbst als Modistin über die Runden zu bringen, mehr schlecht als recht, zumal ihr Gemahl nur in den seltensten Fällen Geld von seinen Streifzügen zurück nach Hause bringt. Man deponiert den kleinen Gaston mal hier mal da, bis er im Unrat einer entfernten Verwandten liegen bleibt und zu einem sabbernden Stück Dreck zu werden droht, das die Tante bloss ihr „Tier“ nennt. 

Glücklicherweise kehrt Gastons Vater doch noch einmal zurück, rettet seinen verkümmerten Sohn vor dem sicheren Tod, nimmt ihn mit und lässt ihn bei einer Bekannten, die ein Bordell unterhält, in dem Gaston zu einem eigentlichen Maskottchen heranwächst und all jene Liebe dankbar entgegennimmt, die man ihm in seinem bisherigen Leben verweigerte. Schnell zeigt sich, dass Gaston sich nicht nur wohl in den vielen Kissen fühlt, sondern schnell zu lernen weiss, all das, was ihm seine Ammen beibringen und das, was in den Büchern geschrieben steht, aus denen man ihm in den Pausen gerne vorliest.

André David Winter «Die Leben des Gaston Chevalier», edition bücherlese, 2021, 208 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-906907-43-7

Aber als Gaston in die Schule gehen sollte und klar wird, dass das Haus, in dem er lebt das Leben des kleinen Jungen zur permanenten Provokation im Ort werden lässt, nimmt der Vater Gaston mit, obwohl der kleine Junge die Frauen und allen voran Paulette nicht gerne zurücklässt. Aus Gaston soll auch ein Artist werden. Gaston ist mehr als lernwillig, saugt auf wie ein Schwamm. Was er von seinem Vater und dem Leben auf der Strasse nicht lernt, lernt er in den wenigen Tagen und Wochen, in denen er dann doch immer wieder einmal zu Schule geht. Und als es Gastons Vater im Schatten der Soldaten mit einer Truppe junger Mädchen finanziell immer besser geht, stellt man gar Privatlehrer an. Doch in den letzten Monaten des Krieges wendet sich das Blatt. Gastons Vater gerät in Gefangenschaft und Gaston selbst rettet sich in den sicheren Hafen eines Klosters.

Nach dem Krieg macht sich Gaston auf auf die Suche nach seinem Vater, nach Paulette, durch die Trümmer eines verwüsteten Landes. Gaston wird zu einem Phantom, einem Geist, der immer wieder sein Antlitz wechselt, fremdes Leben zu seinem eigenen macht, bis die letzte Rettung nur noch in der Fremdenlegion zu liegen scheint, jenem Ort, wo man ihm mit einer Nummer eine neue Identität zu geben verspricht. Aus dem Phantom wird eine Kampfmaschine, bis Gaston ein letztes Mal seine Fesseln hinter sich lassen kann und er zurück in den sicheren Schoss jenes Klosters findet, das ihn schon einmal rettete. Gaston wird zu einem bischöflichen Privatsekretär und ausgerüstet mit einer geheimen Mission mit einem Mal zu einem Mann mit dicker Brieftasche und geheimnisvoller Aura. Ein Mann, der das Herz einer jungen Bankierstochter erobert.

Schlussendlich wird Gaston der Gehilfe von Monsieur Petit, dem Inhaber der Librairie Jousseaume mitten in Paris. Dort hofft Gaston, dass dereinst Paulette den Laden betreten werde, weil Gaston weiss, wie sehr ihr an der Welt der Bücher gelegen ist.

„Die Leben des Gaston Chevalier“ ist ein völlig atypischer Roman in der Literaturlandschaft Schweiz, die nur ganz selten Geschichten hervorbringt, die mit dem grossen Pinsel gezeichnet sind, die cineastisch erzählen, ohne oberflächlich und platt zu bleiben. André David Winter zeichnet einen Mann, der durch ein Jahrhundert gepeitscht wird, der dann aber doch weiss, dass nur zwei Dinge bleiben; die Liebe und die Literatur. „Die Leben des Gaston Chevalier“ ist Resultat purer Erzählfreude. Ein Abenteuerroman!

© Fabian Biasio

André David Winter, geboren 1962 in der Schweiz, verbrachte die ersten acht Lebensjahre in Berlin. Nach Stationen auf Bauernhöfen in der Schweiz und in Italien folgten die Ausbildung in der Psychiatrie und die Arbeit in der Notschlafstelle sowie in einem rumänischen Kinderheim. Heute arbeitet Winter als Kursleiter und Erwachsenenbildner im Gesundheitswesen. Er lebt mit seiner Familie im Kanton Luzern.

Beitragsbild © Ayse Yava

Bernardine Evaristo «Mädchen, Frau etc.», Tropen

Bernadine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ ist ein weit umspannendes Panorama jener Britinnen, deren Hautfarbe Sinnbild ist für eine Herkunft weit weg und deren Geschlecht sich längst nicht mehr in zwei konservativen Kategorien einteilen lässt, mit denen man Menschen über Jahrhunderte taxiert hatte. „Mädchen, Frau etc.“ ist mehr als ein Roman einer Orientierung, sondern für sich eine ganze Bibliothek!

Amma ist zu Fuss auf dem Weg zur Premiere ihres Stücks Die letzte Amazone von Dahomey im National Theatre in London. Sie hat es geschafft, obwohl sie sich auch vor dieser Premiere von Zweifeln zerfressen lässt. Geschafft, weil das National Theatre rein gar nichts mehr hat, von dem, was die Spielorte ihrer ersten Stücke ausmachte, als alles an ihrer Theaterarbeit ein Kampf gegen das Establishment, alles den Hauch des Anrüchigen, Rebellischen, Kaputten hatte. Ein Kampf gegen Ungerechtigkeiten aller Art, alle Formen der Unterdrückung, sei es wegen der Rasse, der Hautfarbe, der Herkunft, sei es jener gegen eine sexuelle Ausrichtung, einer aufgepfropften Identität, jeglicher Art des Konformismus und der Gedankenlosigkeit der Gesellschaft. Amma weiss, dass sie alle da sein werden, alle, die sie über die letzten Jahre in ihrem unablässigen Kampf begleiteten, auf welcher Bühne auch immer.

Bernardine Evaristo «Mädchen, Frau etc.», Tropen, übersetzt von Tanja Handels, 2021, 512 Seiten, CHF 37.90, ISBN 978-3-608-50484-2

Auch Yazz würde da sein, ihre mittlerweile neunzehnjährige Tochter, die in ihrer rebellisch unberechenbaren Art in nichts ihrer Mutter nachsteht. Auch Roland, der Vater von Yazz, ein schwuler Professor und Autor, der sich als Samenspender in genau jene Rolle einspannen liess, die Amma ihm in ihrer lesbischen Lebensart zugestehen wollte. Auch Dominique, mit der sie einst eine leidenschaftliche Liebe teilte, die aber dann für eine Liebe in die Staaten abtauchte, wo sie in den Fängen einer Schönen fast ihr Leben verlor. 
Amma, einst Rebellin und Kämpferin, ist längst Teil eines neuen Establishments geworden, einer Kulturoberschicht, die nach der Feier mit Prosecco anstösst und sich in den Lobgesängen der grossen Medien sonnt. 

Alles in den Leben dieser Frauen ist Statement, sei es die sexuelle Ausrichtung, die dazugehörigen Spielformen, das Outfit, die Frisur, der Auftritt. Bernadine Evaristo erzählt, wie über Generationen der Kampf ums blosse Überleben einer Frau nicht weisser Herkunft in den Generationen der Gegenwart, ob weiss oder schwarz, zu einer elitären Arroganz führt, in der es nur Sieg oder Niederlage gibt. Sinnbild dafür ist Ammas Tochter Yazz, die mit ihren neunzehn Jahren genau weiss, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist, die alles in ihrer Umgebung nutzbringend taxieren kann und selbst ihre Taufpatinnen und -paten dahingegen taxiert, ob Geburtstagsgeldgeschenke genügend Nullen auf den Banknoten aufweisen. Eine lesbische Mutter zu haben, in wechselnden Konstellationen, ob mono- oder polygam, einen schwulen Vater, den man aus der Distanz zu schätzen weiss, ist als Familienaufstellung ebenso Statement wie das eigene Bewusstsein, sich mit nichts etwas Fixem zuschreiben zu lassen.

Bernadine Evaristo erzählt in ihrem Roman ganz viele Leben, zeichnet ungeschönt und ungesühnt all die Schicksale, denen Frauen in Vergangenheit und Gegenwart lebensbedrohlich ausgesetzt sind. Mag sein, dass man sich als männlicher Leser noch mehr als nichtmännliche einer neuen, noch viel intensiveren Sehensweise ausgesetzt fühlt als alles, was man bisher zu Lesen vorgesetzt bekam. Der Kampf der Geschlechter ist noch lange nicht ausgestanden. Genauso wie all die Ungerechtigkeiten, die durch die ethnische Herkunft Menschen klassifizieren. Man reibt sich immer wieder die Augen, nicht nur wegen all der Gewalt, all dem Leid, all der Verbohrtheit und Arroganz. Auch darüber, wie filigran und emphatisch die Autorin zu erzählen versteht. Der Titel „Mädchen, Frau etc.“ suggeriert, dass es vornehmlich ums weibliche Geschlecht geht. Aber eigentlich ist das etc. der Nabel des Titels. Zumindest für mich schaffte es Bernadine Evaristo wie keine andere Autorin das Thema Gender in 500 Seiten einzuflechten, ohne dass einem das stören würde. 

Das unglaublich Verblüffende an diesem Roman ist die Sprache. Bernadine Evaristo gelingt es, jeder Protagonistin eine eigene Stimme zu geben, einen eigenen Sound. Sie erzählt klug, nie belehrend, mit einer Wärme, die mich bei der Lektüre einhüllt. Von den 500 Seiten ist keine einzige zu viel!

„Mädchen, Frau etc.“ ist ebenso eigenwillig wie grossartig!

Bernardine Evaristo wurde 1959 als viertes von acht Kindern in London geboren. Sie ist Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature. Für ihren Roman «Mädchen, Frau etc.» wurde sie als erste schwarze Schriftstellerin 2019 mit dem Booker-Preis ausgezeichnet.

Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische Romane, neben Anna Quindlen Zadie Smith, Elizabeth Gilbert, Tim Glencross und Scarlett Thomas, und ist als Dozentin für Literarisches Übersetzen tätig. Ihre Übersetzungen wurden schon vielfach ausgezeichnet, u.a. 2018 mit dem Arbeitsstipendium des Freistaates Bayern.

Beitragsbild © Jennie Scott

Karin Richner «Der Traum des Walnussbaums», bilgerverlag

Knackt man eine Walnuss, sieht das Innere einem Hirn sehr ähnlich; gespeicherte Zeit – gespeicherte Erinnerung. Karin Richner hat mit ihrem neuen Roman „Der Traum des Walnussbaums“ ein Buch über die Zeit geschrieben, über Erinnerungen, die mit ihr verblassen und entschwinden oder mit einem Mal wieder auftauchen. „Der Traum des Walnussbaums“ ist eine literarische Kostbarkeit, der ich jedes mögliche Podest wünsche!

Es hat acht Jahre gedauert, bis nun endlich ein neues Buch der Sprachkünstlerin meine Neugier stillt. Ein Buch, das trotz seiner Erzählspanne von fast 500 Jahren den Bogen in keiner Weise überspannt. Von 1874 bis 2351 erzählt Karin Richner von den Jahrringen einer um Dasein und Überleben kämpfenden Spezies. Ein Buch, das in sechs Kapiteln aus der Perspektive sechs verschiedener Menschen von dem erzählt, was wir in unserem Alltag viel zu leichtsinnig in Stein gemeisselt sehen; eine Welt, die wir zu kennen glauben, eine Welt, die immer so bleiben wird und muss, wie sie sich aktuell zeigt oder wie wir mit Bedacht einzublenden versuchen. Dabei ist nichts, wie es ist, weder die Gegenwart so, wie sie sich uns zeigt, noch die Zukunft, wie die Gegenwart verspricht. Alles ist im Fluss und nichts und niemand kann vorhersagen, ob dieser mäandernde Fluss nicht plötzlich das Ufer aufbricht und einen ganz anderen Lauf nimmt.

„Der Traum des Wahlnussbaums“ widerspiegelt etwas von dem, was passiert, wenn ich durch den nahen Wald meines Wohnorts spaziere, vorbei an all den knorrig alten Eichen, die schon so lange stehen und in ihren Jahrringen Dinge speichern, die längst jeder Erinnerung entglitten sind. Aber Karin Richner tut dies in keiner Weise in einer verklärten, übersinnlich entrückten Säuselei, sondern so wie in den drei Kapiteln vor der Gegenwart absolut sachlich und die Wirklichkeit respektierend, auch in den drei Kapiteln in der Zukunft. Einer Zukunft, die unseren Planeten im kommenden Jahrhundert in einen Krieg der Kontinente manövriert und „über die Erde fegt wie ein alles verschlingender Dämon“. Wie sich aus der verbrannten Erde erst mit den Jahrhunderten ganz langsam wieder scheues Leben hervorwagt und das, was von der Menschheit übrig geblieben ist, sich aus ihren unterirdischen Bunkern wieder hervortraut.

Karin Richner «Der Traum des Walnussbaums», bilgerverlag, 2021, 186 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03762-092-2

Karin Richners Roman ist keine Dystopie im eigentlichen Sinn, viel mehr ein Entdecker:innenroman, ein Abenteuerroman. Ein Roman, in dem jene Sorte Mensch die Hauptrolle spielt, die nicht an Macht und Reichtum interessiert ist, sondern die in erster Linie verstehen will. Die sich auf die Suche macht, die sich nicht in ein dumpfes Dahinvegetieren ergeben hat, die aufbrechen will, die weiss, dass es hinter allem etwas Anderes, Neues zu entdecken gibt. 

Immer wieder ranken die Geschichten um das Leben in einer Universität, an den Orten, an denen Wissen und Erfahrung gespeichert ist, an denen Menschen forschen, festhalten und kombinieren, die zum Humus werden für all die Bäume, die in den Himmel wachsen sollen. Selbst die apokalyptischen Kriege der Zukunft werden diese Speicher der Erinnerungen nie ganz auslöschen können. Beschädigen leider schon, aber niemals dem menschlichen Hunger nach Erkenntnis entziehen.

Was mich neben Karin Richners erzählerischem Wagnis aber noch viel mehr überzeugt, bewegt und fasziniert, ist eine ausgereifte, farbige Sprache. Die satten Bilder, die Räume, die sie mit wenigen Sätzen zu erschaffen versteht. Die Nähe zu den Personen, obwohl sie sich auf ein halbes Dutzend Protagonist:innen konzentriert – auf nicht einmal 200 Seiten. Man liest dieses Buch mit hochgezogenen Brauen, klappt es am Schluss nicht einfach zu, sondern schliesst es ganz langsam, um mit allen Sinnen noch lange im Nachhall dieses Kunstwerks zu bleiben.

Und dann ist da noch das Buch als haptisches Objekt selbst. Der Verleger Ricco Bilger schafft es immer wieder meisterlich, jedem seiner Bücher jenes Gewand zu geben, das ihm entspricht. Als hätte er wirklich einen Finger mehr in seinem verlegerischen «Händchen».

Hätte ich einen roten Teppich; ich würde ihn vor der Autorin ausrollen!

Interview

Dass jemand mit einem Roman so viel Mut zeigt, ist schon beachtlich genug, denn jedes Experiment birgt auch vielfältige Möglichkeiten des Scheiterns. Sie spannen den Bogen weit, ohne ihn in irgend einer Weise zu überspannen. Schrieben Sie mit einem Plan? War da von Anfang an eine Idee, die sich durchsetzte?
Die Idee war anfangs, wie immer bei meinen Romanen, eher vage. Ich suchte nach einer Möglichkeit, verschiedene Lebensgeschichten – die zu verschiedenen Zeiten spielen – auf irgendeine Weise zu verknüpfen, mehr wusste ich nicht. Der Text hat sich aus dieser Grundidee allmählich entwickelt, und irgendwann wurde dann klar, wie die genaue Umsetzung sein sollte. Dass diese Form ein Experiment ist und ich damit scheitern kann, war mir ebenfalls bewusst… wenn ich aber überzeugt bin, dass ein Text die Form gefunden hat, die er natürlicherweise in sich trägt, spielen solche Überlegungen für mich keine Rolle. 

Tapetenstücke aus dem Aarauer Altstadthaus, in dem die Autorin eine Weile wohnte.

Ein Walnussbaum lässt im Herbst seine Nüsse fallen, und legt sich jeden Winter einen weitern Jahrring zu. Jede Nuss, jeder Jahrring etwas gespeicherte Zeit. In Ihrem Roman geht es um Zeit, Erinnerung und das Vergessen. Leben wir zu wenig im Bewusstsein unserer eigenen Nichtigkeit?
Ich glaube – ich empfinde das anders – das Leben eines Einzelnen kann vielleicht nichtig erscheinen, vor allem im grossen Zusammenhang der Menschheitsgeschichte, in Wirklichkeit ist aber die Existenz jedes Menschen von absoluter Bedeutsamkeit. Weil jedes Individuum diese Geschichte ja mitformt, und weil zudem jeder Mensch ein einzigartiges Wesen hat. 

Über Jahrhunderte war es der Mensch, der die Welt in eine Form zu fassen versuchte. Er baute Gärten und Parks, um in menschlicher Ästhetik die Natur zu optimieren. In der Zukunft ihres Romans hat sich der Mensch mit seiner reduzierten Natur unter Kuppeln zurückgezogen, weil das, was von der Natur übrig geblieben ist, menschenfeindlich wurde, zumindest für einige Jahrhunderte. Ist nicht selbst dieses Szenario ein optimistisches?
Dem würde ich zustimmen. Der optimistische Grundgedanke zieht sich durch den gesamten Roman, und er zeigt sich auch in diesem Szenario. Der Mensch adaptiert sich immer an veränderte Umstände, und er bleibt dabei menschlich: Beziehungen, Empfindungen, die Verbundenheit mit der Natur – all das ist in seinem Kern unveränderlich.

Büchern wird es in „Ihrer Zukunft“ fast keine mehr geben, dafür fleissige Archivare, die in endlos scheinender Kleinarbeit aus den Schutthalden zerbombter Bibliotheken nach dem Prinzip Zufall das Wenigste zu retten versuchen. Man hat den Tod des gedruckten Buches schon oft prophezeit. Aber wenn man auch in nächster Zukunft so rabiat mit den natürlichen Ressourcen umgeht, werden Bibliotheken mit Papier wohl zu Museen und Bücher zu Sonderanfertigungen für Sammler. Können Sie sich eine Wohnung ohne Bücher vorstellen? Eine Wohnung, in der Sie sich zuhause fühlen?
Generell denke ich nicht gerne in absoluten Kategorien. Wird die Welt der Zukunft eine bücherlose sein, wird es dafür anderes geben – Dinge, die wir uns nicht vorstellen können, bevor es sie gibt, und über welche die Menschen sagen werden: Wie hat man jemals ohne sie leben können? Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ich bin mit Büchern aufgewachsen, und wenn ich gegenwärtig die Möglichkeit habe, fülle ich mein Zuhause damit, aber wer weiss, welche veränderten Umstände mit dem Verlust von Büchern Hand in Hand gehen würden… vielleicht würden sie mir dann gar nicht fehlen. Veränderung war von Anfang an Bestandteil der Menschheitsgeschichte.

Zwei Männer reiten durch die Landschaft, dorthin, wo sie den Niedergang eines Meteoriten vermuten. Sie suchen und finden ihn, einen faustgrossen Brocken, der auf seiner unendlich scheinenden Reise durchs All auf der Erde einschlug. Ein Stück Materie gewordene Ewigkeit. Dabei trägt doch jeder Stein diesen Code in sich. Selbst wir Menschen. Ist es die Gier des Entdeckers, die die Bergung dieses Steins zur Besonderheit werden lässt?
Vielleicht empfindet man einen Meteoriten als etwas Besonderes, da er lange Zeit fern von der Erde existiert hat – er stellt eine Verbindung zur Unendlichkeit des Weltalls dar. Zudem sind Meteoriten rar, und das Seltene ist immer auch etwas Aussergewöhnliches. Im Fall des betreffenden Protagonisten kommt aber ganz bestimmt auch die Persönlicheit des Entdeckers hinzu.

Karin Richner, geboren 1980, lebt und arbeitet in Aarau. Sie studierte an der Universität Basel Deutsch, Englisch und Geschichte. 2007 erhielt sie ein Aufenthaltsstipendium von Pro Helvetia und einen Werkbeitrag des Aargauer Kuratoriums. Ihre Werke erscheinen im bilgerverlag.

Beitragsbild © Dieter Kubli

Joachim Zelter «Die Verabschiebung», Kröner Edition Klöpfer

Man verliebt sich, zieht zusammen und heiratet. Julia und Faizan tun genau das. Aber nichts scheint im Glück zu enden, viel mehr in Aussichtslosigkeit. Denn Faizan ist Asylbewerber aus Pakistan. Und Julia wollte genau das eine mit Sicherheit nie im Leben: Heiraten. Beide kommen in Deutschland nie an!

Was soll Literatur? Unterhalten? Provozieren? Streicheln? Sticheln? Aufbauen? Niederreissen? Weder das eine noch das andere allein. Im besten Fall mehreres zugleich. Selbst auf die Gefahr hin, das Leserinnen und Leser nicht alles in den Kram passt, was da geschrieben steht. Je mehr ein Buch aus der eigenen Innerlichkeit schöpft, je mehr es die Innenseite eines Autors offenbart, desto grösser das Risiko, mit dem Werk gleichgesetzt zu werden. Joachim Zelter schrieb aus tiefer Betroffenheit einen Roman, der zu tiefst betroffen macht. Einen Roman, den man nur schwer zuhause auf dem Liegestuhl, an der Sonne, am Strand, im Flugzeug lesen kann. Und doch ist sein neuer Roman literarische Auseinandersetzung. Aber die Geschichte für einmal nicht bloss der Träger der Sprache.

„Die Verabschiebung“ macht genau das, was im Titel des Romans passiert: Eigentlich verändert sich nur wenig, ein Buchstabe, und aus einem üblichen Vorgang wird eine Katastrophe. Wir wissen, dass es sie gibt, die Abschiebungen abgewiesener Flüchtlinge, die begleiteten Flüge, diskret, von fremden Augen abgeschottet, die Dramen, die Fesselungen, die Tränen, die Katastrophen. Manchmal dringen sie an die Oberfläche des öffentlichen Interesses, kurzzeitig, wie Strohfeuer. Eigentlich verändert sich nur wenig; meine Perspektive als Leser. Hätte ich Joachim Zelters Buch weggelegt, käme es einer Verweigerung gleich, einem Nicht-hinschauen-wollen.

Joachim Zelter «Die Verabschiebung», Kröner, 2021, 160 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-520-75201-7

2018 wurden aus Deutschland fast 24000 Menschen abgeschoben, in der Schweiz etwas über 3000. Joachim Zelter erzählt ein Stück Geschichte eines Mannes namens Faizan Muhammad Amir. Fiktiv, wie der Autor in einer Vorbemerkung betont: „Dieser Roman ist eine fiktive Geschichte. Darin liegt seine Wahrheit. Es handelt sich um eine literarische, menschliche und gesellschaftliche Wahrheit, nicht um die faktengetreue Wiedergabe tatsächlicher Ereignisse.“ Faizan floh auf dem Landweg von Pakistan nach Deutschland. Eine Flucht, die beinahe ewig dauerte und mit der Ankunft in Deutschland nie zu Ende war. Aus Pakistan, einem Land mit einer Militärregierung. Aber eben nicht Afghanistan oder Syrien. Faizan lernt Julia Kaiser kennen, auf der Treppe vor einem Tanzlokal; Faizan, der in einer Containersiedlung mit anderen Flüchtlingen auf engstem Raum zusammenlebt, Julia, die ihr Studium abgebrochen hatte und mit einem Job in einer Bücherei ihr enges Leben in den Griff zu bekommen versucht. Sie mögen sich, und weil ein Anwalt meint, es verbessere Faizans Aussichten in Deutschland bleiben zu können, würden sie heiraten, tun sie es. Durchaus aus Liebe, aber eigentlich nur, weil sie die Bürokratie, der Apparat zu diesem Schritt zwingt. Ausgerechnet Julia, die eine Magisterarbeit schrieb über die Zwänge der Institution Ehe, über die Unhaltbarkeit der Ehe, in philosophischer, literarischer, ästhetischer und jeder anderer Hinsicht. Sie heiraten schnell und still. Aber eben dieser Apparat schlägt gnadenlos zurück, denn nun ist staatlich zu prüfen, ob die Ehe zwischen den beiden eine vorgetäuschte Lebensgemeinschaft sei und damit Grund genug, um einer Aufnahme als Flüchtling unabwendbar einen Riegel zu schieben.

Was nach einem Plan aussah, was ein bisschen Hoffnung schenkte, erweist sich als Spiessrutenlauf. Ein Beamter erscheint fast täglich und bohrt. Faizans Panikattaken wachsen. Julia rennt von Amt zu Amt. Ihr Konto rutscht für Anwälte ins tiefrote Minus. Bis dann doch das Kommando auftaucht und Faizan drei Minuten Zeit gibt, das Wichtigste zu packen und einen letzten Anruf zu tätigen.

Erzählt werden die Monate von Johannes, Julias Bruder, der auf den ersten Seiten des Romans eine PIA besteigt, eine Boeing 474 der Pakistan International Airlines. Johannes, der wie alle andern im Umfeld von Julia und Faizan nie ganz begreifen konnte, was die Situation derart entgleiten liess, macht sich nach Pakistan auf, weil es sonst sein 83jähriger Vater getan hätte. Auf die Suche nach der Liebe.

Interview

Ich las dein Buch auf meinem Sofa in meiner Bibliothek. Andere lesen es vielleicht im Liegestuhl, im Flugzeug oder auf El Hierro am Strand. Eigentlich fast unerträglich. Unweigerlich stellt sich ein Gefühl der Scham ein. Muss und soll das passieren? Oder geht es dir gar nicht darum.
Niemand soll sich schämen. Schon gar nicht meine wenigen Leserinnen und Leser. Ich halte es da mit Nietzsche: „Was ist dir das Menschlichste? – Jemandem Scham ersparen.“

„Bitte verlassen Sie die Bundesrepublik Deutschland (könnte auch heissen „Bitte verlassen Sie die Schweiz.“)“ Hinter diesem «Bitte» steckt wenig Bitten, höchstens Schönfärberei. Für die einen logische Konsequenz einer propagierten Flüchtlingspolitik, für die anderen ebenso logische Konsequenz von Unmenschlichkeit und Angst. Ein ewiges Dilemma?
Als Autor interessiert mich weniger dieses Dilemma als vielmehr die euphemistische Sprache, die sich darin entfaltet. Je unmenschlicher die Sätze in ihrer tiefsten Substanz, desto mehr Anästhetikum im Vorgang einer alles benebelnden Sprache. Die ganze Asylverfahrenssprache, die ich in meinem Roman zitiere, sie ist sogar gendergerecht und politisch korrekt bis in die letzte Verästelung verfasst. Dazu noch auf Umweltpapier gedruckt. In jedem Universitätsseminar würde eine solche (sich nach allen Seiten immunisierende) Sprache eine Eins mit Sternchen bekommen. Doch am Ende scheut sie nicht davor zurück, Menschen gegen ihren Willen in ein Flugzeug zu setzen und sie ausser Landes zu schaffen.

Weder Julia noch Faizan entsprechen den Normen. Wer den Normen entspricht, wird vom Apparat in Ruhe gelassen. Sei dies in Deutschland, der Schweiz oder Pakistan. Was du mit deinem Roman tust, entspricht wohl für viele auch schon nicht mehr einer Norm, denn es lässt sich mehr als deutlich eine politische und gesellschaftlich Haltung ablesen. Julia und Faizan bezahlen dafür. Sollten sich Schriftstellerinnen und Schriftsteller nicht viel mehr „ausserhalb der Literatur“ zu aktuellen Themen äussern? Selbst auf die Gefahr hin, sich damit die Finger zu verbrennen?
Ich selbst tue mich schwer mit punktgenauen Äusserungen zur Politik, gerade ausserhalb der Literatur. Vielmehr neige ich dazu, das Politische direkt (oder indirekt) in die Literatur zu nehmen. Ich denke da an meine Romane SCHULE DER ARBEITSLOSEN, DER MINISTERPRÄSIDENT, UNTERTAN oder IM FELD. Innerhalb der deutschsprachigen Literatur sehe ich mich da in einer Tradition mit Heinrich Mann oder auch Friedrich Dürrenmatt, den ich in der VERABSCHIEBUNG einige Male erwähne. In der englischsprachigen Welt sind es Autoren wie Jonathan Swift, George Orwell oder Aldous Huxley, alles eminent politische Autoren. Für mich bilden Literatur und Politik keine Gegensätze. Jeder literarische Text ist politisch, selbst dann, wenn er sich unpolitisch gibt. Das Unpolitische ist am Ende noch politischer als das Politische: in seiner völligen Anpassung und Hinnahme bestehender Verhältnisse. Die Frage ist, ob der Autor oder die Autorin davon weiss – oder nicht. 

Wäre Faizan Informatiker, Wissenschaftler, Arzt oder Fussballer bei Bayern München, würde man ihn niemals unfreiwillig mit Begleitschutz in einen Flieger setzen. Man behandelt Menschen nach ihrem möglichst messbaren Wert. Von Menschenmaterial kann man sich sehr effektiv trennen. Davon zeugt die Geschichte. Materialismus bis ins Menschenbild?
Leider stimmt das. Menschen werden sehr stark auf ihre (überwiegend ökonomisch gedachte) Nützlichkeit reduziert, entgegen aller Ethik und auch entgegen des ersten Artikels des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Doch diese Ökonomisierung geht weit über ein Asylverfahren hinaus. Wir sprechen ja auch von unserer Jugend oder von der Bildung als unserem grössten Kapital. Oder von einem Buch als einem hervorragenden Buch, wenn es sich gut verkauft. Das Gegenstück dazu ist der wunderbare Satz von Oscar Wilde: „All Art is quite useless.“ Dieser Satz begründet eine ganze Ethik. 

Julia Kaiser riskiert alles. Das weibliche Urbild der sich Aufopfernden? Hätte die Geschichte auch mit vertauschten Rollen funktioniert?
Eine gute Frage. Doch ich glaube, dass die Geschichte auch mit vertauschten Rollen funktionieren würde. Julia opfert sich zu einem gewissen Grad auf, das stimmt, doch das Wort Aufopferung greift zu kurz. Julia gewinnt auch sehr viel – an Nähe, Wärme, Kraft, Verbundenheit und Zuneigung. So wie umgekehrt die Menschen, die so sehr darauf bedacht sind, alles Fremde von sich zu halten, damit auch viel verlieren. Der Bildende Künstler Jo Winter brachte es einmal auf den Punkt: Wer die Welt ausschliesst, schliesst sich selbst immer mehr ein. Denmark is a prison.

© Yvonne Berardi

Joachim Zelter, 1962 in Freiburg geboren, studierte und lehrte Literatur in Tübingen und Yale. Seit 1997 freier Schriftsteller. Bei Klöpfer & Meyer erschienen u. a. «Der Ministerpräsident» (2010), nominiert für den Deutschen Buchpreis, sowie «Im Feld» (2018). Zuletzt erschien «Imperia» (2020).
Joachim Zelter erhielt zahlreiche Auszeichnungen: u. a. den begehrten Preis der ›LiteraTourNord‹. Er ist Mitglied im Deutschen PEN.

Rezension von «Imperia» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Im Feld» auf literaturblatt.ch

Joachim Zelter «Gegen die Gewissheiten» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsbild © Yvonne Berardi

Beatrix Langner «Der Vorhang», Matthes & Seitz

Man stösst völlig unerwartet auf sie. Und sie entpuppen sich als Perlen, als Edelsteine, glänzen in warmem Licht, leuchten aus allem heraus. Nicht weil sie bisher verborgen waren, sondern weil man blind an ihnen vorbeiging, nicht von ihnen wusste. Und dann hält man diese Schätze in Händen, reibt sich die Augen ob der Strahlkraft, die sie besitzen. „Der Vorhang“ von Beatrix Langner ist ein solcher Schatz!

Wäre ich in der Jury irgend eines Buchpreises, dann würde ich für dieses Buch die Fahne schwenken. Ein Buch in überraschender Sprache, einem Sound, der mich betört, mit Sätzen, die mich berauschen und einer Konstruktion, die fasziniert. Ein Buch mit vielen Ebenen, Schichten, die sich dem oberflächlichen Lesen entziehen, mit Bildern, die in ihrer Intensität bewegen, einer Bedeutsamkeit, die weit über den Nabel der Schriftstellerin hinausgeht. Ein Buch, das gleichermassen erzählt und Fragen stellt, das mich auf ganz verschiedenen Ebenen mitnimmt und nicht zuletzt von erhellender Klarsichtigkeit und dem brennenden Wunsch, die Welt zu verstehen.

„Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie lächelt mich an. Sie lockt mich, sie schneidet mir Grimassen, sie lallt und flüstert, erinnere dich, stammelt sie, damit du vergessen lernst.“

Beatrix Langner erzählt von einer Familie im Nachkriegsdeutschland, irgendwo in der Provinz, wo alle versuchten, ein Stück des Aufschwungs, des Wirtschaftswunders zu ergattern. Sie erzählt von verschwundenen Landschaften, nicht nur jenen, die in den Seelen der Menschen durch den Krieg zerstört wurden, sondern wortgewaltig von jenen Landschaften und Landstrichen, die der Kohletagebau im Dienste des Fortschritts Schicht für Schicht wegfrisst und riesige Löcher hinterlässt. Von Wäldern, Dörfern, Friedhöfen, kleinen Ortschaften, die untergingen, sich in Nichts auflösten, von den grossen Löchern geschluckt wurden. Von den Sedimenten der Zeit, die nicht verbergen können, die nichts verbergen können, die einem im Bewusstsein durch die Landschaft gehen lassen, dass da viel zurückgelassen wurde; Leben, Liebe, Leidenschaft. Dass alles, was uns umgibt, von dem durchsetzt ist, was von all den Leben zuvor übrig geblieben ist.

Beatrix Langner «Der Vorhang», Matthes & Seitz, 2021, 192 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-7518-0019-8

Die Erzählerin steht am Rande eines riesigen Lochs, jenes, das die Ereignisse in ihr Leben gerissen haben und jenes, das sich durch den Braunkohleabbau Hambach in die Landschaft gefressen hat. Sie sieht zurück in ihre Kindheit, als ihre Familie aus der DDR in den Westen floh, der Vater im Westen ein Kaufhaus gründete und dann doch Opfer des Wirtschaftswunders wurde, in eine Vergangenheit in der westdeutschen Provinz, katholisch und abweisend, einen Ort, an dem man als Familie trotz grösster Anstrengung nie ankommen sollte. Die Erzählerin steht auch an einem anderen Loch, dem Loch in der Gegenwart, dem Loch, das Krankheit und Gebrechlichkeit ins Leben ihrer Mutter gefressen hat. Einer Mutter, die zur Pflege liegt, einer Mutter, deren Erinnerung sich verflüchtigt. Die Tochter besucht die Mutter im Spital, im Glauben, sie werde sterben, später dann in der „Residenz“, wo nicht die Mutter der Tochter Geschichte erzählt, sondern die Tochter der Mutter. Erinnerungen verflüchtigen sich, verschwinden. Beatrix Langner stemmt sich gegen das Vergessen, das Verschwinden der Erinnerung, gegen die Maxime „Der Zweck heiligt die Mittel“.

„Nichts geht verloren, alles ist aufgeschrieben im grossen Buch der Erde, was Wasser und Steine in die Erde geschrieben haben.“

Das Hambacher Loch ist Symbol für die Regentschaft des Kommerz. Beatrix Langner steht fassungs- aber ganz und gar nicht sprachlos am Rande dieses Lochs und füllt es auf mit ihrem Erzählen, ihrem Erinnern. Die Sedimentschichten an den Flanken des Lochs fächern eine globale Chronik auf, sind Schriftbild für das Bewusstsein, dass nichts einfach so verschwinden kann.

Und dann diese Sprache, die einem rauschig macht!

Interview

Auf dem Vorsatzpapier, nicht auf dem Cover, steht unter dem Titel Ihres Romans „Eine (beinahe) wahre Geschichte“. Warum war Ihnen dieser Untertitel so wichtig? Sind Geschichten, die erzählt und geschrieben sind nicht alle nur fast wahr?
Sie haben Recht! Das Geschichtenerzählen ist immer ein Balanceakt, und um so mehr, als wir mittlerweile im digitalen Zeitalter leben. Die Grenzen zwischen wahren und erfundenen Geschichten werden immer durchlässiger. Vielen Leuten fällt es schwer, zwischen verifizierbaren Fakten und Fiktion in medialen Inhalten zu unterscheiden. Das sieht man derzeit auch an der  erstaunlichen Beliebtheit des autobiografischen Erzählens. Ich habe den Eindruck, viele Leserinnen und Leser haben noch einen sehr naiven, unreflektierten Begriff von Wahrheit. Autobiografisches Schreiben bedeutet ja, aus sich selbst eine Kunstfigur zu formen, eine Auto-Fiktion sozusagen.  Und genau darauf wollte ich mit der Umschreibung «beinahe wahr» hinweisen, indem ich verschiedene Formen des Erzählens mische, um zu zeigen, wie viele Arten von «Wahrheit» es gibt.  Ist die Begegnung von Stalin und Churchill auf Jalta wirklich so gewesen wie Churchill sie in seiner Autobiografie beschreibt (und ich sie kolportiere), nur weil sie Teil der europäischen Geschichte geworden ist? Und ist sie darum wahrer als die Beschreibung einer Reise durch die Erdgeschichte oder eine Traumszene? 

Und ganz am Schluss Ihres Romans schreiben Sie in einem Nachsatz, dass das Beben vom 19. Januar 2019 unter der Stadt Elsdorf am Hambacher Tagebau kein geologisches, sondern ein menschengemachtes Beben war. Kann Literatur zur Waffe gegen die Profitgier von Konzernen und ihrer ExponentInnen werden, auch wenn sich diese manchmal wie Heilsbringer und Retter gebärden?
Ich würde das Wort „Waffe» nicht benutzen, denn Waffen bedeuten Gewaltanwendung. Aber ja, Literatur kann und muss den Gesetzen der kapitalistischen Ökonomie ihre Grenzen zeigen – viel mehr, als es derzeit geschieht. Sie kann das, weil sie nicht mit Gewinnmargen und Daxwerten, sondern mit Bewusstseinszuständen operiert, weil sie den Menschen mit sich selbst bekannt macht und Menschen miteinander verbindet, während die Ökonomie uns vereinzelt und anonymisiert. Und sie muss das, weil es nicht reicht, dass Kinder auf der Strasse Transparente gegen die Verseuchung von Luft und Wasser herumtragen. Es ist ein Generationenproblem. Wir brauchen eine neue literature engagée!

Ihr Roman ist ein Roman gegen das Vergessen. In einer Zeit, in der das Vergessen, das Ausblenden angesichts der globalen Wirklichkeiten zur Überlebensstrategie wird. Die Tochter in ihrem Buch muss die Mutter genauso loslassen wie ihre Verzweiflung dem kollektiven Vergessen gegenüber. Mahnen Sie?
Ich bin mir beim Schreiben bewusst gewesen, dass das Thema «Naturzerstörung», zumal in Verbindung mit einer tragischen Mutter-Tochter-Geschichte, schon ein gewisses moralisches Pathos in sich trägt. Der kranke Planet, die kranke Mutter etc., das sind bleischwere Metaphern, die einen Roman auch erdrücken können. Moralismus oder gar Mahnung im Sinne innerer Läuterung war aber nicht mein Ziel. Natürlich, es geht auch um das Vergessen historischer Schuld, um Gewissenlosigkeit in ökologischen Fragen, um den berühmten blinden Fleck im eigenen Auge, doch nicht unbedingt im philosophischen oder gar globalen Sinn. Es ist einfach so, dass in Deutschland die Dinge ein wenig anders liegen als bei unsern europäischen Nachbarn. Ich vertrete die These, dass die deutsche Teilung von 1949 den zivilen Widerstand und die Mitbestimmung bei politischen  oder ökonomischen Prozessen, sei es in der Umwelt- Europa- oder Wirtschaftspolitik, über Jahrzehnte geschwächt hat – sowohl im Osten wie im Westen; auch noch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung sprechen wir immer noch nicht mit einer Stimme, wenn es darum geht, die Regierenden zu kontrollieren. 

Die Erzählerin besucht einmal in der Woche das verlassene Haus ihrer Mutter. Alles sieht aus, als würde sie zurückkehren. Vor mehr als einem Jahrzehnt besichtigte ich als interessierter Mieter das Haus einer alten Frau, die nur wenige Wochen zuvor in ein Altersheim eingeliefert werden musste. Ein ganz spezieller Gang. Auf dem Tisch im Wohnzimmer lag noch der Einkaufszettel mit Stift. Was einmal Bedeutsamkeit hatte, sackt mit einem Mal in die Bedeutungslosigkeit weg. Wertvoll wird wertlos. Im Kleinen wie im Grossen. Ist sie nicht urmenschlich, diese Sehnsucht nach Bedeutung?
Sicher, die meisten Menschen haben den Wunsch, sich mit den alltäglichen Gegenständen, mit denen sie sich umgeben, zu identifizieren, in dem Sinn, dass sie sagen: das ist MEIN Rasenmäher, MEINE Kaffeetasse, MEIN Auto. Sie adoptieren die Dinge sozusagen und leihen ihnen dadurch eine Bedeutung, die auf Projektion beruht. Umgekehrt färbt dann der Geldwert ihres SUVs scheinbar auf den Besitzer ab. Man lebt in Symbiose mit den Dingen. Verlassen von ihren Besitzern, zeigt sich dann deren rapider Wertverfall, der einen schon melancholisch machen kann. That’s it! 

Das „Hambacher Loch“, das Loch, das Kriege reissen, das Loch des Vergessens. Sind Erinnerungen das, was Löcher auffüllen kann?
Erinnerungslöcher sind ja erstmal nichts anderes als harmlose Gedächtnislücken in unserm Bewusstsein. Aber sie funktionieren wie die schwarzen Löcher im Universum: sie sind Zentralen des Nichts. Sie reissen alles in ihren dunklen Schlund, was ihnen zu nahe kommt. Das Problematische ist doch, meiner Erfahrung nach, dass das Gedächtnis in Schichten aufgebaut ist, wie Eschersche Treppen etwa. Aber um beim Hambacher Loch zu bleiben: Kurz vor Ausbruch des  2. Weltkriegs wurde ihm Rheinischen Becken unter dem Hambacher Forst ein Braunkohletiefbergwerk errichtet, um Rohstoff für Benzin zu gewinnen, mit dem dann die Panzer und U-Boote und Kriegsschiffe betankt wurden. Der Betreiber war juristisch ein Vorgänger des heute dort tätigen Energiekonzerns. Zigtausende Zwangsarbeiter aus Italien und Osteuropa starben dort bis 1945. Vergisst man den Wald, vergisst man die Dörfer, die seit den 1980er Jahren der Braunkohle weichen mussten, dann vergisst man auch die Toten unter dem Wald. Und vergisst man diese, dann vergisst man auch ihre Mörder, und vergisst man die Mörder, dann vergisst man den Krieg 1939 – 45 und vergisst man diesen, dann vergisst man den Holocaust und Versailles und Bismarcks Sozialistengesetze…

Gibt es ein Buch, das Sie in letzter Zeit lasen, das sie mit Vehemenz empfehlen möchten?
Ich lese gerade «Die Situation» von Peter Weiss, den deutschen Dramatiker und grossen Stilisten, dessen «Ästhetik des Widerstands» uns in der DDR 1974 begeistert hat und dessen Stück «Die Ermittlung» über die Auschwitzprozesse ein Höhepunkt des politischen Theaters in Deutschland war. Sein nachgelassener Roman «Die Situation» wurde 1956 geschrieben, fand aber damals keinen Verlag. Fast schon unglaublich, wie modern dieser Roman in seiner Erzählweise ist, wie freizügig in der Beschreibung männlicher Sexualität, und  – obwohl er in Schweden spielt, seiner Exilheimat – wie extrem anders doch seine 1950er Jahre waren im Vergleich mit der Zeit, die ich als Kind in jener bigotten, verlogenen, dumpfen rheinischen Kleinstadt erlebte. So ist das eben mit der «Wahrheit» (siehe erste Antwort), man kriegt sie nicht zu fassen!

Beatrix Langner, 1950 geboren, ist promovierte Germanistin, Autorin und Literaturkritikerin und lebt in Berlin. Seit 1990 zahlreiche Rundfunk-Features und Kulturreportagen für DeutschlandRadio Berlin sowie Feuilletons und Kritiken für Süddeutsche Zeitung, Neue Zürcher Zeitung, Deutschlandfunk Köln u.a. Sie veröffentlichte eine Biografie über Jean Paul (C. H. Beck), für die sie 2013 den Gleim-Literaturpreis erhielt, und ist Mitglied des PEN-Zentrums Deutschland.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper

Philipp Dorn ist Krimiautor. Und weil Arbeiten abgeschlossen sind und die Kasse aufgestockt, nimmt sich Philipp mit seinem neuen Joe Louis ein paar Tage Ferien in Italien. Nicht nur seinem Sehnsuchtsort, sondern auch jenem seiner Mutter, die er vor noch nicht langer Zeit zu Grabe tragen musste.

Mein erstes Auto kaufte ich für wenig Geld meiner Patentante ab, einen gelben Suzuki, den meine Gotte liebevoll Susi nannte und mir dann Sorgfalt ihrem Schützling gegenüber sehr ans Herz legte. Menschen, die ihrem Auto Namen geben, sind mir grundsätzlich suspekt. Ebenso solche, die aus Freude am Sound den Motor ihres Lieblings aufheulen lassen. Philipp Dorn hat sich mit einem neuen (Gebraucht-) Wagen belohnt, nachdem der alte, ein Jaguar, mit seinen Macken immer eigenwilliger wurde. Belohnt für ein abgeschlossenes Manuskript, belohnt mit einer Pause. Er fährt weg Richtung Süden, in eine Gegend in Italien, von der Philipp weiss, dass es in weiter Vergangenheit eine Liebe seiner Mutter gab, die er, der Sohn, mit einem Nein beendete.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Damals lebten seine Eltern wohl noch unter dem gleichen Dach, er Pfarrer, sie Lehrerin, aber eine Affäre der Mutter hatte den Vater kalt werden lassen. Man spielte gegen Aussen das makellose Paar, und liess das eigene Zuhause zu einem stummen, frostigen Nebeneinander werden. Als Philipp vierzehn war, lud ihn seine Mutter auf ein Eis ein und fragte ihn, ob er mit ihr nach Italien siedeln würde. Ihrer Liebe zu einem amerikanischen Soldaten wegen. Philipp wollte nicht. Wollte nicht all seine Pläne sausen lassen, kein neues Leben beginnen, wo doch das hiesige erst so richtig in Schwung zu kommen schien. Die Mutter blieb. Der kalte Krieg zwischen den Eltern auch. 

Später unternahm Philipp mit seiner Mutter das eine und andere Mal Reisen nach Italien. Reisen, bei denen man sich noch immer nach seiner Mutter umdrehte und später nach ihm, weil man es löblich fand; ein Sohn mit seiner alten Mutter. Doch jetzt, Mutter schon länger tot, er von ihr zurückgelassen, vieles weggeräumt, Brigitte, deine langjährige Freundin verloren, ausgezogen aus der Wohnung, fährt Philipp weg, gen Süden. In einem Ferienhaus mit Pool will er Ordnung in sein Leben, seine Gedanken bringen, Platz schaffen für Neues. Bis er in einer schlaflosen Nacht ein Plätschern im Pool hört und beim Näherkommen eine Frau schwimmen sieht, nackt, Länge um Länge. Bis er sich von seinem Balkon aus zu erkennen gibt und man sich zu einem Glas Wein dort trifft. Bis aus den nächtlichen Treffen im Gezirpe der Zikaden lange Gespräche wachsen. Woher man kommt und wohin es gehen soll. Und Philipp spürt, dass das, was er glaubte, abgeschlossen zu haben, das Abenteuer einer Frau näherzukommen, mit einem Mal zu einem Gefühl wird, das ihn gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Wer ist die Frau, die ihm im Bademantel nachts gegenübersitzt, die ihm Geständnisse über die Lippen lockt, die ihn staunend machen? 

So wie Philipp mit seinem Auto durch die Toskana kurvt, so dreht er sich hinein in seine eigene und die Vergangenheit seiner Mutter. Philipps Nein damals, das Wissen, dass er mit jenem Nein das falsche Leben seiner Mutter um Jahre verlängerte, das abgewürgte Glück in Italien und die immerwährende Frage, was gewesen wäre wenn, treibt ihn um.

„Das Glück meiner Mutter“ liest sich leicht, ohne zu behaupten, der Roman wäre leichte Kost. Nur liegt Thommie Bayer nichts daran, dort zu dramatisieren, wo Risse tief genug sind. Philipp ist ein Normalo, seine Selbstzufriedenheit und Distanz zu seiner Welt manchmal fast unerträglich – so wie seine infantile Liebe zu seinem fahrenden Spielzeug. Aber man muss Protagonisten nicht lieben. Dafür die Art des Erzählens. Thommie Bayer hat seine ganz eigene. Ich mag sie sehr!

Interview 

Eine Reise nach Italien, eine Ferienwohnung in der Toskana, tiefroter Wein, warme Nächte und eine Frau, die nackt ihre Bahnen im Pool zieht. Eine Fahrt mit dem Auto gen Süden, unabhängig, beinah frei von Pflichten. Genug Geld im Rücken und den leisen Kitzel eines Geheimnisses aus der Vergangenheit. Du bedienst gleich einige Sehnsüchte. Erst recht jetzt in dieser queren Zeit. Philipp hat fast alles. Seine Mutter damals fast nichts mehr, nur einen Platz im falschen Leben. Ist das nicht genau der Spiegel der heutigen Zeit? Klagen noch und noch und man vergisst, wo man lebt?
Das kann man so sehen. Ich denke zwar beim Schreiben nicht über Allgemeines nach, aber es schleicht sich irgendwie von selbst mit ein. Und wenn ich meine eigenen Sehnsüchte spazierengehen lasse, finden die automatisch ihre Komplizen, die Leute, die dieselben Sehnsüchte haben. Und wenn ich mir die Romanfigur vorstelle, wird die automatisch zu einer, die von der heutigen Zeit geprägt ist.

Die Mutter damals fragte ihren Jungen, ob er bereit wäre, weit weg ein neues Leben mit ihr zu beginnen. Ein Nein machte für eine ganze Weile alles zu und liess das Leben der Mutter auch später nur noch durch einen Spalt am Grossen und Ganzen teilhaben. Zumindest ist das die interpretierte Schuld, die sich Philipp aufgeladen hat. Machen wir nicht ganze Leben kaputt durch hineininterpretierte Schuld?
Ganz bestimmt tun wir das. Aber zum Erwachsenwerden gehört das Übernehmen von Verantwortung, auch der für frühere Verfehlungen. Der Blick wird weiter, die Perspektiven ändern sich, und was für einen vierzehnjährigen Jungen ganz naheliegend und vollkommen verständlich war, wird für den fast fünfzigjährigen Mann zu etwas, das er bereut und gerne ungeschehen gemacht hätte.

Philipp lernt Livia kennen, eine junge Frau, die ihm schon beim ersten Treffen mit aller Selbstverständlichkeit das Innerste entlockt. Eine Begegnung, die wahrscheinlich nur im Dunkel der Nacht jenen Zauber entwickeln konnte. Was kann die Nacht, was der Tag nicht kann?
Vielleicht wirft uns die Nacht auf uns selbst zurück, vielleicht hat sie auch an sich schon einen Zauber, der auf manches abfärbt, was in ihr geschieht. Das Licht ist weitgehend weg, sodass alles, was wir noch sehen, sich in ganz anderer Weise zeigt, die Stille der Umgebung macht das Wenige, was wir hören bedeutender, und das Gefühl ganz alleine oder fast alleine wach zu sein während alle anderen schlafen, ist aufregend. Man fühlt sich wacher als wach.

Philipp war seiner Mutter sehr nah, obwohl er nicht erst nach ihrem Tod feststellen musste, dass sie sich nach seinem Nein damals nie mehr wirklich für sein Leben interessierte. Als wolle sie sich nie mehr die Finger an fremdem Leben verbrennen. Als wäre sie nur mehr auf sich selbst fokussiert. Aber hängt nicht genau dort der Fallstrick, wo man sein Leben von fremdem Leben allzu abhängig macht?
Ja. Genauso ist es. Aber wir leben mit anderen. Eremitage ist nicht die Lösung. Das nennt man Schicksal. Wenn man alt genug ist, Verantwortung zu übernehmen, ist man vielleicht auch alt genug, sich in die Verbindung mit anderen Menschen zu schicken. Und eine solche Verbindung lässt nun mal nicht jeden jederzeit frei.

In einem „alten Leben“ warst du Musiker. Vor deinem Roman steht das Zitat des Liedermachers Francesco De Gregori „È tutta stesa al sole, vecchio, questa vecchia storia.“ Wo treffen sich Literatur und Musik in deinem Leben?
Sind beide wohl ganz eng verzahnt. Das Poetische in Liedtexten, das musikalische in Literatur, die Anregung, die von beiden Künsten ausgeht, das Inspirierende und Bewegende darin. Sicher auch das Gefühl der gesteigerten Anwesenheit in den besten Momenten. Beides ist irgendwie immer da, ob ich nun gerade lese oder Musik höre, oder nicht.

Hat dein Auto in deiner Garage einen Namen?
Es heisst „Edelkatz“. Manchmal auch „Superschöner Edelkatz“.

Ein Buch und eine Musik, die dich nicht loslassen. Und warum?
Ein Buch fällt mir gerade nicht ein, aber ein Stück Musik, das sich immer wieder bei mir meldet ist „Broken Barricades“ von Procol Harum. Die leitende Klavierfigur übt noch immer diese Faszination auf mich aus wie beim ersten Mal als ich es hörte. Und das muss so etwa fünfzig Jahre her sein.

© Peter von Felbert

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das innere Ausland».

Rezension von «Das innere Ausland» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Seltene Affären» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Thommie Bayer

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser

Rolf Lapperts neuer Roman „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ kann einem erschlagen! Sein Roman ist die Geschichte von der Vertreibung aus dem Paradies und den Lügen des Lebens. Erzählt mit weitem Horizont und der Magie eines Geschichtenzauberers!

Lesung mit Rolf Lappert am Donnerstag, den 3. Juni 2021, um 19:30 Uhr im Literaturhaus Thurgau / Bodmanhaus
Eintritt: CHF 10 // CHF 8 Freunde des Bodmanhauses // CHF 5 ermässigt
Wir bitte Sie um Anmeldung unter diesem Link.

Rolf Lapperts Winnipeg liegt nicht in Kanada, sondern irgendwo in der BRD-Provinz, in Niedersachsen, weit weg von der nächsten Siedlung. Dort versucht sich eine Kommune, abgeschottet von der Aussenwelt, einen eigenen Weg durch das Leben zu bahnen. Bis Ämter und Behörden Wind davon bekommen, dass dort Kinder ohne Schule, ohne Kontakt zur Aussenwelt, fest eingebunden in den Tagesablauf der Selbstversorger zu „befreien“ sind. Die Erwachsenen werden festgenommen, vor Gericht gestellt und verurteilt, die Kinder auseinandergerissen und in Pflegefamilien verteilt.

«Wir waren ein Wesen. Was einer dachte, wussten die anderen, was einer fühlte, empfanden wir alle.»

Rolf Lappert erzählt in „Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ vier Leben; von Frida, Ringo, Leander und Linus, jenen vier Kindern, drei Jungs und einem Mädchen, die 1980 aus einer Landkommune behördlich befreit wurden. Damals vier Kinder, bis in die Gegenwart, in der sie sich längst verloren haben, nicht nur einander, sondern auch sich selbst. Was damals die Presse über die Kindheit der vier Kinder schrieb, scheint in keiner Weise mit dem in Verbindung zu stehen, was die vier Kinder in die andere, neue Welt mittrugen. Damals ein Fressen für die Presse. Dabei war es ein Übergriff in das Leben der vier Kinder. Vielleicht sogar die Vertreibung aus dem Paradies.

„Niemand kam auf die Idee, den Zustand ihrer gänzlichen Abgeschiedenheit mit etwas anderem gleichzusetzen als ideologischer Inzucht, Einsamkeit und Verwahrlosung.“

Rolf Lappert «Leben ist ein unregelmäßiges Verb», Hanser, 2020, 992 Seiten, CHF 39.90, ISBN 978-3-446-26756-5

In epischer Länge über fast 1000 Seiten breitet Rolf Lappert vier Leben aus wie jene Künstler, die in riesigen Hallen auf dem Boden eine Ordnung in das zu bringen versuchen, was das Leben anschwemmt. Selbst die vier Protagonisten versuchen Ordnung in ihr Leben zu bekommen, sei es durch einen Neuanfang mit anderem Namen, einer anderen Identität, sei es durch eine lange Suche nach sich selbst, einer Aufgabe, einem Sinn oder dem Wunsch, sich möglichst unsichtbar zu machen, sich zurückzuversetzen an den Ort, an dem man nur sich selbst zu sein brauchte, kein Imago.
Ich als Leser taumle durch diesen Kosmos, berührt, verwundert, überrascht, verunsichert. Selbst ich als Leser versuche zu ordnen, während Rolf Lappert ausbreitet und auslegt, Perspektiven ändert, Textsorten collagiert, in Zustände abtaucht und in langen Sätzen genussvoll mäandert.

„Sie wäre jetzt glücklich, sagte sie sich, wenn nur ihre Welt unentdeckt geblieben wäre, wenn niemand sie weggebracht und ins Leere geworfen hätte wie einen Sack mit neugeborenen Katzen in den Fluss.“

Obwohl sich die vier nach ihrer Umplatzierung nie mehr treffen, bleiben sie einander verbunden, weil jene Jahre im Kampstedter Bruch, jenem Hof in Abgeschiedenheit, so etwas wie ein Nest war, Familie, auch wenn nicht nach amtlichem Muster. Sie taumeln durch eine Welt, die ihnen fremd bleibt, die nie das zu erzeugen schafft, was die vier gemeinsam in ihrer begrenzten Freiheit erlebten.

„Wir sind niemand, wenn wir nicht zusammen sind.“

„Leben ist ein unregelmäßiges Verb“ ist ein grosses Vergnügen für all jene, die wie ich gerne in einem Stoff baden, denen ein Buch, das gefällt und zu einem innigen Begleiter wird, nach der Lektüre nicht einfach so weglegen, in ein Regal hineinschieben oder gleich dem Nachbarn ausleihen. Rolf Lappert gelingt es, ein Meer an Geschichten, Bildern, Dialogen, Ideen, Strängen und Personen auszubreiten. Er breitet eine Welt aus, stösst mich hinein. Zugegeben, die Wellen schwappen hoch, fast immer hoch, aber Literatur ist Konzentrat. 

„Die Welt ist schlecht, sagen sie, und wir haben keine andere Wahl, als ihnen zu glauben.“

In den Roman eingeflochten sind Erinnerungen, das „Winnipeg Logbuch“, Erinnerungen aus der Sicht der Kinder, als sie noch zusammen in der Kommune lebten: Manchmal haben wir ein leeres Marmeladeglas dabei, damit tragen wir Ameisen von einem Haufen zu einem anderen. Dann beobachten wir, wie die Eindringlinge getötet werden. Zum einen eine Erinnerung, zum anderen eine Metapher für all die Geschehnisse, die man ihnen als Kinder androht und die ihnen in gewisser Weise auch geschehen. Der Roman ist ein Roman über das Fremdsein, über die Einsamkeit, der Einsamkeit, in die man die vier Kinder verbannt, die Einsamkeit, mit der jeder in seinem Leben als Individuum zu kämpfen hat.

Ein grosser Genuss bei der Lektüre seines Romans ist die Genauigkeit seines Schreibens, seine Lust des Beschreibens. Als wäre er ein Maler, der mit Pedanterie jeden einzelnen Farbpunkt setzt, immer mit dem Blick auf das Grosse, Ganze. Und doch ist dieses Beschreiben nicht Mittel zum Zweck, nicht bloss Kulisse. Ich bade im Filigranen Lapperts Sprache, Lappert Farben, dem verspielten Mikrokosmos, der seinen Roman nicht einfach dick, sondern mächtig macht.

Rolf Lappert wurde 1958 in Zürich geboren und lebt in der Schweiz. Er absolvierte eine Ausbildung zum Grafiker, war später Mitbegründer eines Jazz-Clubs und arbeitete zwischen 1996 und 2004 als Drehbuchautor (Mannezimmer). Bei Hanser erschienen 2008 der mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnete Roman «Nach Hause schwimmen», 2010 der Roman «Auf den Inseln des letzten Lichts», 2012 der Jugendroman «Pampa Blues» und 2015 der Roman «Über den Winter».

Verlagsinformationen zum Buch

«Das Wunder von Kalifornien» von Rolf Lappert auf Gegenzauber

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

 

Helga Schubert «Vom Aufstehen», dtv

Helga Schubert gewann 2020 mit Auszügen aus ihrem Buch „Vom Aufstehen“ den Ingeborg-Bachmann-Preis. Für ein Buch, das mit seinem Erzählen selbst eine Hommage ist an die Schriftstellerin Ingeborg Bachmann, an ihr Buch „Das dreißigste Jahr“, das ebenfalls mit einer Betrachtung über das Aufstehen beginnt.

Schreiben ist immer Aufstehen. Und Helga Schubert ist in ganz besonderer Weise „aufgestanden“. „Vom Aufstehen“ ist weder Erzählband, auch wenn er erzählt, noch Roman. Ihr Buch ist ein Erinnerungsbuch, ein Gedankenbuch, manchmal erzählend, manchmal essayistisch. Helga Schubert richtet sich auf und schaut zurück. Zurück in die Vergangenheit, in ein aufgelöstes Land, in eine Familie, ihre Familie, bis in den ausgehenden 2. Weltkrieg, das Leben in der DDR, den Mauerbau, das Leben hinter oder vor der Mauer, auf die kleinen und grossen Dinge des Lebens.

Helga Schubert «Vom Aufstehen. Ein Leben in Geschichten», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-423-28278-9

Und nebenher ist die Geschichte Helga Schuberts selbst Geschichte, auch die Geschichte bis zur Preisverleihung, an der sie wegen Corona in Klagenfurt beim Ingeborg-Bachmann-Wettlesen nicht teilnehmen konnte. Man hatte sie 40 Jahre zuvor 1980 schon einmal nach Klagenfurt eingeladen. Damals verweigerte ihr ihr Land die Teilnahme am Wettlesen. Es gäbe keine „deutsche Literatur“, das „Unternehmen Bachmannpreis“ sei nur dazu da, um dieses Phänomen der deutschen Literatur voranzutreiben. Nichts desto trotz, noch vor der Wende sass Helga Schubert von 1987 bis 1990 dann in der Jury des Wettbewerbs. Und 2020, im Alter von 80 Jahren, 40 Jahre nach ihrer ersten Einladung wurde die Schriftstellerin von der Literaturkritikerin und Jurorin Insa Wilke nach Klagenfurt gebeten, wo sie als älteste Teilnehmerin des Wettbewerbs zur Siegerin erklärt wurde. Eine schöne Geschichte!

„Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben.“

Helga Schubert erzählt aus ihrem Leben, von der Hängematte in den Obstbäumen im Garten ihrer Grossmutter mit Streuselkuchen und Muckefuck, jenem Lebensgefühl, dass ihr nur ihre Grossmutter schenken konnte, niemals ihre Mutter, jenem Lebensgefühl, das sich nur in den langen Sommerferien bei ihrer Grossmutter freisetzen konnte. Über ihren Vater, der im Winter 1941 auf einem vereisten Arm der Wolga von einer Handgranate zerrissen wurde, jenen unbekannten Mann, von dem sich die Tochter ein Leben lang gerne in den Arm genommen gewünscht hat. Über das Ein- und Ausgesperrtsein hinter oder vor Mauern, den Mauern der DDR. Vom Mut, den Märchen Kindern und dem Kind im Erwachsenen schenken können. Von den Schubladisierungen einer DDR – und einer Schriftstellerin, die klar zu machen versucht, dass man sich sein Herkunftsland nicht wie einen Mantel aussucht.

„Nicht dorthin sehen, wo Sie nicht hin wollen, sondern dorthin, wo Sie hin wollen, in die Kurve sehen, nicht an den Rand.“

In ihrem Schreiben, dem Buch „Vom Aufstehen“, das sie in Anlehnung an Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ ursprünglich mit „Das achtzigste Jahre“ betiteln wollte, in dem sie immer wieder zu ihrer Grossmutter zurückkehrt, als wäre sie einer der wenigen Leuchttürme in ihrem Leben, erinnert in vielem an das grosse literarische Vorbild und bleibt doch eigenständig. So wie Herta Schubert erzählt, kann nur eine in die Jahre gekommene Schriftstellerin schreiben, jemand der weiss, dass viel mehr hinter ihr liegt als vor ihr. „Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Aus jedem Satz, jeder Geschichte leuchtet Demut und Dankbarkeit. Und immer wieder die Frage, wo das eigene Zuhause ist, nicht nur geographisch, sondern letztlich auch in ihrem Schreiben.

„Vom Aufstehen“ rührt!

Interview

„Ein Leben in Geschichten“ steht auf dem Buchumschlag. War das von Beginn weg der Plan zu diesem Buch? Oder entstand die Verwandtschaft zu Ingeborg Bachmanns „Das dreißigste Jahr“ erst nach und nach?

Am Anfang und am meisten durchgearbeitet stand der Wettbewerbstext zum Bachmann-Wettbewerb. Ihn hätte ich gern „Das achtzigste Jahr“ genannt, als Huldigung an Ingeborg Bachmann. Denn die Idee zu dieser Lebensbilanzgeschichte kam ja erst nach der Einladung zum Wettbewerb. Normalerweise bewirbt man sich ja bei diesem Wettbewerb und wird nicht, wie ich von einem Jurymitglied, aufgefordert, sich zu bewerben. Von mir aus wäre ich doch gar nicht auf die Idee gekommen, als Achtzigjährige da mitzumachen.

Noch am Tag der Preisverleihung meldete sich bei mir die erfolgreichste Literaturagentin Deutschlands, Karin Graf, die ausschließlich Literaturpreisträger vertritt, und bot mir einen Vertrag an. Ich sollte ihr umgehend ein Buchmanuskript schicken, das ich aber gar nicht hatte. Sie bezog sich auf eine Interviewäusserung, dass ich sehr viele Erzählungen in der Schublade hätte, die ich regelmässig in unserer Gemäldegalerie bei den monatlichen Bilderwechseln vorgetragen hatte und die bei unserem kunstverständigen Publikum (oft bis zu 70 Personen) ein sehr wohlwollendes Echo fanden. Als ich diese Erzählungen von der Festplatte ausdruckte und alte Kopien zusammensuchte, stellte ich fest, dass sie in einem sinnhaften Zusammenhang standen, dass sich nichts wiederholte, dass sie alle in der Ichform geschrieben waren, dass sie in einen lebensgeschichtlichen Ablauf gebracht werden konnten. Ich schrieb einige Texte um, einige neu. Und ich konnte schon 8 Wochen nach dem Bachmannpreis das Manuskript an die Literaturagentur geben. Mehrere Verlage hatten sich schon deshalb bei ihr gemeldet, aber der dtv hatte die weitreichendsten Konditionen, denn sie wollten nach und nach alle früheren, vergriffenen Bücher auch wieder drucken.

Dann kam für ein paar Tage eine sehr intelligente junge Verlags-Lektorin extra aus München hier nach Nordwestmecklenburg, und ich fand noch passende Texte auf meiner Festplatte, die ich noch gar nicht ausgedruckt hatte. So war das Buch ein Puzzle, das aufging.  

Immer wieder tauchen ihre Grossmutter, ihre Mutter und ihr Vater auf. Ihr Vater, obwohl er der grosse Abwesende war, ihre Mutter, mit der sie noch immer hadern und ihre Grossmutter, die alles versinnbildlicht, was Mütterlichkeit und Geborgenheit bedeuten kann. Irgendwann schreiben Sie, das Schreiben sei ein Versuch der Ordnung. Künstlerische Auseinandersetzung als Versuch des Ordnens?

Ja, als Versuch der Einordnung. Mir ist klar, dass zur menschlichen Reife auch ein Einverständnis mit der eigenen Lebenssituation, mit dem vergangenen Leben und mit allen nichtgelebten Möglichkeiten gehört. Ein Ja sagen zu sich. Das Schreiben hilft mir beim genauen Betrachten, beim Weglassen, beim Verabschieden. Das ist eine Hilfe vor dem Überschwemmtwerden und vor der Traurigkeit. Es ist eine Ehrfurcht und eine Bewunderung der Ordnung Gottes.

„Der Grossteil meines Lebens ist vorbei. Und es geht immer schneller. Wie in den Trichter eines Ameisenbären rutsche ich, der Sand gibt nach.“ Klingt da Schmerz mit?

Manchmal Schmerz, aber nicht die Angst vor dem eigenen Lebensende, sondern die Angst vor dem Tod geliebter Menschen. „Noch leben alle, die wir leben“, endet eines der wunderbaren Gedichte von Friederike Mayröcker.

Aus dem ganzen Buch strahlt und spricht ein grosser Hunger. Nicht so sehr der Hunger nach Antworten, als jener nach Klarheit, nach Kontur, nach Bildern. Sie sind im vergangenen Jahr 80 geworden. Satt scheinen Sie noch lange nicht zu sein?

Ich bin überwach und sehr intensiv. Meine Fantasie ermöglicht mir alles. Das muss in Wirklichkeit gar nicht geschehen. Es ist alles Farbe und Wärme um mich.  

Das Bild auf dem Cover zu Ihrem Buch ist von einem ganz jungen polnischen Künstler. Igor Moritz. Das Bild passt perfekt zum Inhalt, zeigt jenen Moment vor dem Aufstehen, wo sich Gedanken- und Traumbilder mit dem Augenblick mischen. Gibt es diesen magischen Moment? Und lässt er sich im Alter besser auskosten?

Ich lebe meist in diesem Zustand. Menschen, die uns besuchen, wollen immer wieder kommen. Es hat mit dem Alter, glaube ich, nichts zu tun. Es hat bei mir damit zu tun, dass ich wohl kaum Filter habe, mich nur durch Totalrückzug schützen kann. Denn sobald ein Mensch in unserem Haus auftaucht, interessiere ich mich für sein Leben, sei es die Notärztin von nebenan, die mir von den glücklich Verstorbenen erzählt, die eine Operation ablehnten, oder der Bauer von gegenüber, bei dessen trächtiger Stute gerade ein Hirntumor festgestellt wurde und der vom Tierarzt gerade erfuhr, dass dieses Tier bei der Geburt seines Fohlens ganz sicher sterben wird. 

Helga Schubert, geboren 1940 in Berlin, studierte an der Humboldt-Universität Psychologie. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und freie Schriftstellerin in der DDR und bereitete als Pressesprecherin des Zentralen Runden Tisches die ersten freien Wahlen mit vor. Nach zahlreichen Buchveröffentlichungen zog sie sich aus der literarischen Öffentlichkeit zurück, bis sie 2020 mit der Geschichte ›Vom Aufstehen‹ den Ingeborg-Bachmann-Preis gewann.

Beitragsbild © Renate von Mangoldt

Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag

Livs Leben gerät vollkommen aus dem Tritt. Das alte Leben versucht sie abzustossen, die Gegenwart zerbröselt und in der Zukunft droht das Chaos. Lea Caterina verblüfft in ihrem Debüt durch die Brutalität des Lebens und die feine Spur gekonnten Erzählens. Ein Roman, der bei der Lektüre zuweilen schmerzt, aber ebenso bezaubern kann.

Mit ihrer Vergangenheit verbindet sie nur noch wenig. Jene Olivia, die sie einmal war, ist nicht einmal mehr ein Bild, das sie zulassen möchte. Einzig die Mutter, die sie mehr oder weniger regelmässig in einer Klinik besucht, ist der letzte Rest Vergangenheit, den sie zulässt. Die Versprechen, die sie sich einst gaben: „Niemand wird dich je mehr lieben als ich. Versprich mir, dass du immer daran denken wirst.“ „Ich verspreche es.“ 

Liv hatte Familie. Eine Mutter, einen Vater, einen Bruder. Geblieben ist nur die Mutter. Als ihr Bruder starb, war Olivia vier. Monate später schlägt der Vater den Kofferraum zu und verschwindet aus den Leben seiner Frau und seiner Tochter. Was danach kommt, ist ein verschwörerischer Rest, der sich mit keiner Zelle an das Damals erinnern will. Und trotzdem schaffen es weder die Mutter noch die Tochter, dem Trauma der Vergangenheit zu entfliehen. Selbst Livs Beziehung zu Alex, die alles hätte, um zu dauern, selbst der Blumenladen ihrer Mutter, selbst Livs Wohnung, ihre Arbeit in einer Bar. Alles wackelt, nichts ist auf Fels gebaut. Und als sich Liv an einem Abend zu einem schnellen Abenteuer hinreissen lässt und Alex am Tag darauf den Laufpass gibt, weil sie spürt, dass in ihrem Leben nichts so ist, wie es sein sollte, bricht Liv auf. So wie ihr Leben aufbricht.

„Ich habe Angst, mich zu verlieren.“

Lea Catrina «Die Schnelligkeit der Dämmerung», Arisverlag, 2021, 224 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-907238-08-0

Sie verlässt Alex, sie verlässt ihre Arbeit, sie verlässt die Stadt, in der sie zu leben versuchte, sie verlässt ihre Wohnung, die bloss ein Versuch war. Sie findet Asyl bei ihrer Tante Edie. Ein Zimmer in einem Haus, das einmal einen Hauch Zuhause bedeutete. Und einen Job in der Restaurantküche ihrer Tante. Aber die Gegenwart ihrer Tante ist nicht mehr jene, in der Liv einst ein Stück Daheim spürte. Im Haus wohnt auch Milo, Edies viel jüngerer Freund und Mitarbeiter in der Küche. Liv tut, was man ihr sagt, auch wenn alles am neuen Leben provisorisch ist. Liv weiss es, spürt es. Sie wird von allen Seiten damit konfrontiert, endlich diesen einen, ersten Schritt zu tun. Den Schritt, verstehen zu wollen, was sie wie einen übergrossen, eisernen Haken mit sich herumschleppt. Sich der Angst zu stellen, die Büchse der Pandora zu öffnen, zuzulassen, was an Zorn und Verzweiflung aus der verschlossenen Vergangenheit wirkt und sie nicht freilässt.

Es ist Steph, ein Barman aus ihrer Stadt, in der sie damals wohnte, der die Fragen stellt, die es braucht. Es ist George, ein alter Mann aus Edies Nachbarschaft, den sie schon kannte, als sie als Mädchen bei Edie wohnte, der ihr sein Auto verspricht, wenn sie mit ihm das eine und andere noch erledigt. Und eine ihr unbekannte Frau auf der Geburtstagsparty ihrer Tante, die ihr Sätze an den Kopf wirft, die wie ein Gegengift ihren Körper in Wallung bringen.

„Die blauen Scherben lagen auf dem Boden, als hätte jemand den Himmel zerschmettert.“

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ein starkes Debüt einer vielversprechenden Autorin. Ein Roman, der Zorn und Wut bis zur Selbstzerstörung offenbart. Ein Roman über die Macht dessen, was sich in tiefen Schichten verbirgt, was sich nicht zudecken, nicht löschen lässt. Ein Roman mit bestechenden Sätzen, Sätzen, die bleiben, die sich eingraben.

Interview

Vieles in der Geschichte dieser Familie bleibt skizzenhaft. Eben deshalb, weil vieles verschüttet, zugedeckt, verdrängt wurde. Sie legen den Fokus ihres Erzählens ganz auf Liv, die ihr Leben nur schwer in den Griff bekommt. Ist Verdrängung nicht notwendige Überlebensstrategie?
Bestimmt. Gerade wenn Themen eng verbunden sind mit uns nahestehenden Menschen ist das Verdrängen vielleicht ein notwendiges Übel, um einem Konflikt zu entgehen. Aber etwas zu verdrängen bedeutet ja auch immer, einen Teil von sich selbst zu leugnen. Auch Liv tut sich damit schwer. Im Roman spitzt sich die Lage entsprechend schnell zu.

Der Moment der Dämmerung kann ganz kurz sein. Man kann ihn verpassen. Liv verpasst in ihrem Leben so einiges. Und mit Sicherheit immer wieder den Moment, wo die Selbstzerfleischung, die Selbstzerstörung jene Gesten wegwischen, die ihr eigentlich helfen wollen. Selbstzerstörung ist nicht nur individueller Akt, sondern ein menschliches, ein gesellschaftliches, sogar ein politisches Phänomen. Sie lassen offen, ob sich Liv zu retten weiss. Sind wir zu retten?
Ja, Olivia verpasst vieles, denn ihr Leben ist wahnsinnig voll. Sie hat kaum Ruhe oder Zeit nachzudenken. Sie fürchtet die Stille und sucht den Lärm. Vielleicht lässt sich das tatsächlich ein wenig auf die Gesellschaft übertragen. Ich selbst ertappe mich jedenfalls oft dabei, wie ich dem Lärm verfalle, um die grösseren Fragen zu übertönen.
Selbstzerstörung genau wie Selbstverwirklichung sind definitiv Themen dieses Romans. Für mich geht es in dem Buch daher auch um das Übernehmen von Verantwortung für das eigene Leben, um das Heraustreten aus dieser destruktiven Opferhaltung, in der auch Olivia zu Beginn festzustecken scheint.

Liv stürzt sich in einem Moment ins Chaos, der auch ihre Rettung hätte sein können. Sie ist mit Alex zusammen, der alles tut, um Ordnung in ihr Leben zu bringen. Sie hat Wohnung und Arbeit. Und sie hat Freunde. Und doch zieht sie die kalkulierte Katastrophe in ihren Bann. Warum ist Leben, das eigene Leben so schwer zu kontrollieren?
Ich weiss es nicht. Geht das überhaupt? Das Leben kontrollieren? Wenn ich so darüber nachdenke, dann ist dieses vermeintlich «kontrollierte» Leben vielleicht sogar das, was einen auf Dauer den Verstand raubt. Zumindest ist das bei Olivia der Fall. Sie macht alles richtig mit Freund, Job, bemüht sich um das Verhältnis zu ihrer Mutter. Nur fühlt es sich nicht richtig an. Da wären wir wieder bei der Selbstzerstörung, die ihr zunächst unbewusst als einziger Ausweg erscheint. Kontrolle suggeriert ja auch, dass eine starke Kraft im Spiel ist, die eingedämmt werden muss. Oder eingesperrt. Die Frage müsste vielleicht eher lauten: Wieso fällt es uns so schwer, die Kontrolle aufzugeben?

„Die Schnelligkeit der Dämmerung“ ist ihr erster Roman. Sind sie eine Schriftstellerin, die alleine an ihrem Manuskript brütet oder ist ihr Roman das Endergebnis ganz vieler Konfrontationen mit Menschen und Meinungen?
Ich brauche beides. Anfangs arbeite ich allein und zeige meine Projekte niemandem, bis sie genügend Substanz haben, um nicht bei der kleinsten Kritik auseinanderzufallen. Bei «Die Schnelligkeit der Dämmerung» habe ich danach mit einer Schreibgruppe zusammengearbeitet, wo wir uns intensiv über unsere Manuskripte ausgetauscht haben. Das war sehr wertvoll.

Irgend eine Szene, eine Idee muss der Anfang des Romans gewesen sein, der kleine Samen, auf dem der Baum gewachsen ist. Wo lag der Beginn?
Bei Olivia. Ich hatte ein klares Bild von ihr vor Augen und wollte wissen, was sie für ein Leben führt. Wie sie so geworden ist.

Jedem Kapitel geht ein Zitat voraus. Viel mehr als ein Titel oder eine Überschrift, sondern sprachliche Spotlichter. Wie kam es zu der Idee?
Freut mich, dass Ihnen das aufgefallen ist.
Es ist die Stimme der Mutter, die Olivia immer wieder hört. Für mich sind diese Zitate wie akustische Klänge, die einen in den Moment zurückholen. Das ist auch das, was die Mutter mit Olivia immer wieder macht. Sie zurückholen und festhalten.
Aber wie es zu dieser Idee kam, weiss ich nicht mehr.

Lea Catrina ist Autorin und Texterin. Sie hat Multimedia Production in Chur sowie Literarisches Schreiben in Zürich studiert. Zudem ist sie seit 2019 Mitglied des Literaturkollektivs «Jetzt». Catrina ist in Flims aufgewachsen, lebt heute in Zürich und verbringt einen Teil des Jahres in der San Francisco Bay Area.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Oceana Galmarini

Friedrich Glauser «Die Verschwundene», Illustrationen Sabine Rufener, SJW Verlag

Im SJW Verlag erscheint zum 125. Geburtsjahr des Schweizer Schriftstellers Friedrich Glauser die Novelle «Die Verschwundene». Ihr Bezug zur aktuellen Pandemie ist augenscheinlich: Wieviel darf die Gesellschaft einem Einzelnen zum Wohle der Allgemeinheit aufbürden? Glauser selbst schöpfte Kreativität aus dem Zeitgeist und seinem steten Kampf um persönliche Freiheit.

Eine Novelle über das Zweifeln und Verzweifeln

In Kooperation mit der Stiftung Litar und anlässlich des 125. Jubiläums erscheint im SJW Verlag Friedrich Glausers Novelle «Die Verschwundene». Das Nachwort zur SJW Neuerscheinung hat Christa Baumberger geschrieben, Leiterin der Stiftung Litar und Herausgeberin des Bandes «Friedrich Glauser: Jeder sucht sein Paradies…«, das soeben im Limmat Verlag erschienen ist.

Litar realisiert vom 28. Mai bis 10. Juli 2021 die Ausstellung «Friedrich Glausers Zelle» im Rahmen ihres Programms «Stimmlos – Literatur und (Un)Recht».

«Stimmlos» verleiht Autorinnen eine Stimme, welche in der Welt der Literatur aus den unterschiedlichsten Gründen verkannt blieben. Im Rahmenprogramm «20 Minuten mit…» erleben und Besucher die Illustratorin Sabine Rufener und Lionel Felchlin, den Übersetzer der französischen Sprachversion, in einem Tête-à-tête.

«Die Verschwundene» – spannend und aktuell

Friedrich Glauser «Die Verschwundene» Illustrationen Sabine Rufener, SJW, 32 Seiten, CHF 8.00 (bei SJW direkt CHF 6.00), ISBN 978-3-7269-0237-7

Der Chemiker Johann Furrer gerät nach seiner Rückkehr aus den französischen Kolonien in einen Strudel der Ereignisse. Als er im Hafen von Marseille von Bord geht, folgt er einer jungen Frau, die ihn magisch anzieht. Das Zusammengehörigkeitsgefühl ist gegenseitig. Als Furrer einige Tage geschäftlich verreisen muss, ist die Geliebte bei seiner Rückkehr jedoch spurlos verschwunden. Für den Chemiker beginnt ein beschwerlicher Weg einer aussichtslosen Suche und des Zwiespalts, der in einer hoffnungslosen Verzweiflung sein jähes Ende findet.

Friedrich Glauser kommt 1896 in Wien zur Welt und würde dieses Jahr seinen 125. Geburtstag feiern. Der Schweizer Autor sieht sich zeitlebens mit schicksalhaften Momenten und deren fatalen Folgen konfrontiert. Seine Mutter stirbt, als er vierjährig ist. Der junge Glauser wächst unter der strengen Aufsicht des Vaters auf. Als Dreizehnjähriger entflieht er seinem Elternhaus, wonach ihn sein Vater in das Landerziehungsheim Glarisegg (Thurgau) steckt. Das weitere Leben Glausers ist geprägt von Drogenabhängigkeit, Internierungen in psychiatrische Anstalten, chronischer finanzieller Not und Entmündigung.
Glausers Herz schlägt für die sogenannt «kleinen Leute»: Arbeiter, Aussenseiter, Menschen ohne Macht und wenig Rechten. In seinen Erzählungen und Romanen rückt er sie in den Mittelpunkt. Hochaktuell und brisant ist das Schlüsselthema «der Verschwundenen»: Die rasche und effiziente Bannung der drohenden Pandemie und der damit verbundenen Frage, wie sie Glauser formulierte: «Was ist schliesslich das Schicksal eines einzelnen im Vergleich zu der Panik einer ganzen Stadt?»

Webseite der Illustratorin Sabine Rufener