Christoph Simon «Dorfplatz Leukerbad – ein Gespräch während dem Literaturfestival»

Hey!
Hey! Alles klar?
Alles klar.
Wo warst du?
Auf der Alpina Terrasse.
Wer war da?
Der Maisel. Lukas Maisel. Erstlingswerk.
Wie war’s?
Sackstark. Mega sackstarkes Buch. Über einen Entdecker und über deutsche Flachspültoiletten und ferngesteuerte Kakerlaken. Ein Hit. Wo warst du?
Dala-Wanderung.
Wie war’s?
Super. Die Römer und so. Es gibt Leute im Wallis, die wollen dieses Tal fluten und eine Staumauer und wie die Grande Dixence.
Echt?
Vielleicht hab ich den Guide nicht richtig verstanden.
Wer hat gelesen?
Auf der Wanderung? Die Dana.
Ah, der Frankenstein-Roman.
Der Dracula-Roman.
Gut gewesen?
Fantastisch. «Echte Liebe braucht Überzeugung.» Sie hat von Bergunfällen erzählt und alle haben sich an der Hängebrücke festgehalten, als gäb’s kein Morgen.
Wohin gehst du jetzt?
Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Oh, da war ich gestern!
Wie war’s?
Bombastic. Sie ist impressive! Pures Gold!
Worum geht’s?
Ein Kind, ein Kätzchen, das Kind hat Asthma. Die Mutter hilft mit
Nelkenöl, Schwarzkümmelsamen, Dorschlebertran.
Das hilft?
Klar. Und das Kind wählt sich aus den Männern vom Schiff einen Vater, der will aber nicht sein Vater sein, aber «the more he runs the closer he gets». Wohin gehst du als nächstes?
Eben. Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Ah, ja.
Esther ist auch da.
Welche Esther?
Und der Gallus auch.
Die Esther vom Literaturhaus?
Der Gallus ist Literaturhaus. Die Esther weiss ich nicht.
Ich bin mit einer Esther im Shuttlebus gefahren. Sonst kenn ich keine Esther.
Weshalb warst du nicht auf der Gemmi gestern?
Ich war auf der Gemmi.
Ich hab dich nicht gesehen.
Wir haben in der Gondel gesprochen miteinander.

Echt? In welchem Hotel bist du?
Air B’n’B. Am Hang drüben.
Ah, Morgensonne.
Abendsonne.
Im Chalet Frieden?
Nein, Chalet Frohsinn.
Beim Schorsch?
Nein, beim Julius.
Der Julius von der Karin?
Nein, der Julius von der Monika.
Die Monika, die vom Karren gefallen ist?
Nein, die Monika, die auf den Karren gefallen ist. Beim Gleitschirmfliegen.
Schlimme Geschichte. Die Monika vom Schorsch.
Vom Julius.
Dort wohnst du.
Und du?
Hotel.
Nein, ich meine, wohin gehst du als nächstes?
Weiss nicht. Im Baldwin-Zelt ist Rolf Hermann, aber den versteh ich nicht.
Und im Bristol ist Peter Weber.
Der Regenmacherpeterweber? Cool. «Bei Gemütsverdunkelung: Lustbaden, lichtbaden, lachbaden.» Wer ist das dort drüben?
Die im Blauen?
Die im Weissen.
Die ist Pro Helvetia, glaub. der daneben ist Solothurn und die hinten dran könnte die Autorin aus Österreich sein.
Ist das nicht die von der Übersetzerwerkstatt?
Die ist dieses Jahr nicht da, die Übersetzerwerkstatt.
Dann ist es wahrscheinlich die Autorin aus Österreich.
oder ist es Monika?
Morgen dann noch Franziska Schutzbach.
Die kenn ich von Facebook.
Und Lukas.
Maisel? Die deutschen Flachspültoiletten?
Bärfuss. Der globale Nationalismus.
Ah ja, mit dem Lüscher.
Dem Lüscher seine Partnerin ist die deutsche Vorlesestimme von Yvonne Owuor.
Was du nicht sagst.
Da wolltest du doch hin.
Stimmt. Oder wollen wir uns setzen und was trinken?
Wir sitzen und trinken doch schon.

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Patrícia Melo «Gestapelte Frauen», Unionsverlag, eine Gartenlesung in Leukerbad

Als ich das Buch zu Ende gelesen hatte, war die Einsicht: Es herrscht Krieg. Überall. Sei es gegen die Natur und den Planeten, auf dem wir leben, zwischen Arm und Reich, zwischen von Ideologien aufgepumpten Nationen – und zwischen Mann und Frau. Patrícia Melo erzählt zwar von Brasilien, aber was dort geschieht, geschieht überall. Und es muss nicht immer Blut fliessen.

„Gestapelte Frauen“ einen Kriminalroman zu nennen, damit wird man dem neuen Roman der Brasilianerin nicht gerecht. Es geht der Autorin nicht darum, eine spannende, schockierende, gut erzählte Geschichte zu verkaufen. Patrícia Melo öffnet mit dem Brecheisen verschlossene Türen, stemmt sich gegen Ignoranz und Blindheit und legt offen, dass die Gewalt, die sich zwischen den Geschlechtern abspielt, kein Phänomen der Gegenwart ist. Was sich dort abspielt, wo es passiert, ist Reaktion und Folge einer Entwicklung, die sich mit dem Willen zur Eroberung und Unterwerfung in die Genetik des Menschen einfrass.

„Gestapelte Frauen“ erzählt von einer jungen Anwältin, die sich all jener Frauen annimmt, die Opfer männlicher Gewalt werden, sie nicht einfach in einer Statistik vergessen lassen will oder der Willkür eines korrupten Justizapparats. Getötet nicht in irgendwelchen dunklen Gassen, von Fremden und Unbekannten, sondern von ihren eigenen Männern, von Vätern, angesehenen Mitgliedern der Gesellschaft. Die mit dem Leben bezahlen, weil sie im falschen Moment am falschen Ort zu sein schienen – oder einfach mit ihrem Leben für all den latent vorhandenen Frust des männlichen Geschlechts zu bezahlen hatten, weil sie den Schlüssel ihrem Ex zurückgeben wollten, weil der Mann die Nerven verlor, vor den Augen von Söhnen und Töchtern, weil der Ton des Fernsehers zu laut war, weil die Frauen die Befehle ihrer Männer missachteten.

Patrícia Melo «Gestapelte Frauen», Unionsverlag, 2021, 256 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-293-00568-6

Die Anwältin sammelt nicht aus blosser Pedanterie, sondern weil sie selbst davon betroffen ist und es nicht schafft, aus den langen Schatten dieser Ereignisse herauszutreten. Als Mädchen musste sie erleben, wie ihr Vater die tote Mutter in Tücher wickelte, sie in ein Auto steckte und dem Wagen an einer Klippe einen Stoss versetzte, um den Mord als Unfall aussehen zu lassen. Die Mutter umgebracht, der Vater im Gefängnis. Eine Kindheit bei den Grosseltern, denen das Trauma genauso im Nacken sitzt. Als Frau und Anwältin von Amir begehrt und umschwärmt, um dann wie aus dem Nichts während einer Party als Schlampe beschimpft und ins Gesicht geschlagen zu werden, um dann später festzustellen, dass der einstmals Geliebte Szenen ihres Liebeslebens ins Internet stellte, als wäre der Schlag ins Gesicht nicht genug.

Und weil sie sich als Anwältin mit anderen Frauen den Opfern ihren Platz zu geben versucht, weil sie für Recht und Wahrheit kämpft, manövriert auch sie sich ins Kreuzfeuer konzentrierter Hetze und offener Gewalt. Es sterben Kolleginnen, Freundinnen, Mitstreiterinnen. Eine tödliche Schlinge zieht sich zu.

Warum soll ich dieses Buch lesen? Weil Patrícia Melo von den Opfern und den Tätern erzählt. Von Tätern, die sich in die Rolle der Opfer zu verteidigen versuchen, von Opfern, die zu Kollateralschaden werden. Von Frauen, die übereinandergestapelt turmhoch ein Mahnmal dessen sind, was vor hunderten von Jahren mit der gewaltsamen Eroberung und Kolonialisierung begonnen hat. Von Frauen, die bezahlen, was elitäre Macht, ein korrupter Staatsapparat und die Willkür des Geldes anrichten. 

Patrícia Melo (1962 in São Paulo) zählt zu den wichtigsten Stimmen der brasilianischen Gegenwartsliteratur. Nach ihrem Studium in São Paulo arbeitete sie beim Fernsehen. In ihrem sozialkritischen Werk, bestehend aus Kriminalromanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern, beschäftigt sie sich mit der Gewalt und Kriminalität in Brasiliens Grossstädten. Melo wurde u. a. mit dem Deutschen Krimipreis und dem LiBeraturpreis ausgezeichnet, die Times kürte sie zur »führenden Schriftstellerin des Millenniums« in Lateinamerika. Sie lebt in Lugano.

Barbara Mesquita, geboren in Bremen, arbeitet u. a. als Literaturübersetzerin für Portugiesisch und Spanisch mit Schwerpunkt auf den lusofonen Ländern Afrikas. Sie hat Patrícia Melo, Luís Fernando Veríssimo, Pepetela, Luandino Vieira, Arménio Vieira, Ricardo Adolfo, Pedro Rosa Mendes, João Tordo und Juan Manuel de Prada übersetzt. Barbara Mesquita lebt in Hamburg und zeitweilig in Lissabon.

«Meine Wut passt nicht zwischen zwei Buchdeckel.» Interview mit Partícia Melo

«Literatur ist ein Risiko, ein Tauchgang, ein Abenteuer.» Gespräch mit der Patrícia Melo

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad