Anna Baar «Nil», Wallstein

Lesen Sie wie ich mit einem Bleistift? Ich kann am Grad der Kritzeleien in einem Buch bemessen, wie sehr mich die Sprache beeindruckt. Und manchmal gibt es Bücher, die zwingen mich immer wieder, dauernd zum Stift. Bücher, die mich bescheiden, ehrfürchtig machen. Anna Baar schrieb so eines. „Nil“ ist ein grosser Strom!

Eigentlich müsste ich über dieses Buch keine Inhaltsangabe machen. Auch nichts über die Qualitäten der Sprache formulieren. Eigentlich würde es reichen, alle unterstrichenen Sätze und Passagen abzutippen und auf deren Wirkung vertrauen. Auch wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen, isoliert dastehen. „Wer schreibt solche Sätze?“, würden die Leser:innen dieser Liste staunen. „Nil“ ist ein Roman, den man während des Lesens unbedingt zur Seite legen muss, wenn auch nur kurz, um den Sätzen jene Zeit zu geben, die sie benötigen, um sich einzugraben, wenn sie nicht schon wie Blitze eingeschlagen haben.

„Mögen andere ihre Träume für minderwertig halten gegen das Tagesbewusstsein. Ich aber werde die Wirklichkeit so lange mit meinen Träumen betrügen, bis sie eifersüchtig die Schenkel vor mir spreizt und selbst zum Traum mutiert.“

Nicht jeder Geschichte entkommt man, indem man das Buch zuklappt“, schreibt Anna Baar fast ganz am Ende ihres Romans. Es ist aber viel mehr als eine Geschichte, die sich als Vexierbild entpuppt, die mich hin- und herreisst, den Boden unter den Füssen schwankend macht. Es ist die Sprache, die nachhallt, die mich trunken macht. Wehe den darauf folgenden Büchern, die sich mit „Nil“ messen lassen müssen, nur weil sie als nächste in meine Hände geraten.

„Nur im Schreiben bin ich ganz und gar ich.“

Anna Baar «Nil», Wallstein, 2021, 148 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-8353-3947-7

Eine Autorin wird vom Chefredaktor eines Frauenmagazins gedrängt, ihre Fortsetzungsstory endlich zu einem Ende zu bringen, irgendwie. Man setzt ihr eine Deadline, droht ihr unmissverständlich, nicht zuletzt, weil LeserInnen des Magazins sich in den Wirren ihrer Fortsetzungsgeschichte zu verlieren drohen. Sie schreibt. Sie schreibt sich weg. Sie schreibt sich in einen Rausch, in Angst, bis sie ihr Manuskript in Flammen aufgehen lässt, weil sich ihre Geschichte über sie selbst zu stülpen droht.

„Nichts galt fade Wahrheit gegen die schöne Verdrehung.»

Die Ichstimme im Geschriebenen sitzt in einem Verhörzimmer, Wärter und Kamerafrau gegenüber. Ein Verbrechen? Ein Sturz von einer Wand in einem Steinbruch, das plötzliche Verschwinden in einer Passfotokabine? Die Bilder drehen sich dauernd weg. Vielleicht sind es auch die Eltern der Ichstimme, die Vorgesetzten, dieses dauernde Drängen. Die Ichstimme hat geschrieben, erfindet, zum Beispiel Sobek, den die Stimme in ein Lokal schickt, zu einem leeren Stuhl an einem Tisch einer Frau. Sobek zückt sein Notizbuch und beginnt zu schreiben. „Sind sie Schriftsteller?“, fragt die Frau. Er nennt sich Buchhalter und lässt sich von der Frau eine Geschichte ins Buch notieren, eine Geschichte von ihr. Erfunden oder wahr.

„Verliert man die Unschuld durch Zeugenschaft, durch das Betreten verbotener Räume oder ein Wissen, das man nicht teilt.“

Die Ichstimme erzählt von ihrer Familie. Ihr Vater war einer der Letzten in einem sterbenden Zoo in einer Stadt. Einem Zoo, der verschwunden ist, den der Vater mit auflösen musste, in dem die Tiere am Schluss bloss noch auf ihr Ende zudämmerten. Auch das Krokodil, das das Kind gerne wieder im Nil gesehen hätte. In Freiheit.

Bedeutet Schreiben Freiheit? Anna Baar schreibt über das Schreiben, über die Macht des Schreibens. Was das Schreiben mit den Schreibenden anzurichten vermag. Wo die Grenzen sind, das verborgene Land. Von den Ängsten, kein Zurück mehr zu finden.
Zugegeben, man muss sich auf das Buch einlassen. Es flutscht nicht einfach bei der Lektüre. Anna Baar will mich nicht einlullen. Sie zwingt mich zum genauen Lesen, lässt mich blättern, ganze Abschnitte noch einmal lesen. Das sieht man schlussendlich dem Buch an. Man hat mit ihm gelebt!

„Es ist eine List des Lügners, zu fordern, dass man ihm glaubt.“

© Johannes Puch

Anna Baar, geb. 1973 in Zagreb (ehem. Jugoslawien). Kindheit und Jugend in Wien, Klagenfurt und auf der dalmatinischen Insel Brac. Ihr Debütroman «Die Farbe des Granatapfels» stand drei Monate auf Platz 1 der ORF-Bestenliste. Für die Arbeit an «Als ob sie träumend gingen» erhielt sie den Theodor Körner Preis. 2020 wurde sie mit dem Humbert-Fink-Literaturpreis der Stadt Klagenfurt ausgezeichnet. Anna Baar lebt in Klagenfurt und Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Johannes Puch