Verena Uetz «Persönliche Betreuung zugesichert»

Alle Jahre wieder im späteren Frühling, ja nicht zu früh, denn das hätte ihm geschadet, trug Gerlinde sorgfältig, beinahe zärtlich, ihren Gartenzwerg ins Freie. Das „Freie“ war ein Stücklein Steingarten vor dem Haus, angrenzend an den Fussweg zum Bahnhof. Nebst Pflanzen die dereinst üppig duften, blühen und sich sanft im Winde wiegen würden, bevölkerte Gerlinde ihr Gärtchen mit Antiquitäten. Ein kleines Steinpferd und der Torso einer Keramikskulptur standen zwischen den Steinen.

„Ach Gerlinde, du hast mir doch schon so manchen Stein in den Garten geworfen, dass ich dir endlich auch einmal etwas schenken möchte“, hatte eine ihrer Freundinnen letzten Sommer gesagt und ihr, sorgfältig in Seidenpapier eingewickelt, einen wunderschönen Gartenzwerg gebracht.
„Er heisst Salomon“, hatte sie schmunzelnd hinzugefügt. „Ich habe ihn in Griechenland gekauft. Mir war sofort klar, dass er in deinen Steingarten gehört.“

Gerlinde kannte viele Leute. Ihr früherer Beruf als Postbotin hatte das mit sich gebracht. Aber auch ihr Wesen. Leutselig, extravertiert, unkompliziert wären passende Bezeichnungen für die umtriebige Mittsechzigerin gewesen. Aber leider auch manchmal etwas zu vertrauensselig und gutgläubig.
Oft war sie unterwegs, um Hilfe jeder Art zu leisten. Sie kochte, kaufte ein für ältere Menschen, schnitt sogar Fingernägel oder verfasste Briefe. Oder sie liess sich begeistern für eine Nistkastenreinigung mit dem ornithologischen Verein.

Von Zeit zu Zeit schloss Gerlinde ihr kleines Haus für ein paar Tage, um auf Wanderungen oder Bergtouren aufzubrechen.
„Das bringt mich oft an meine Grenzen. Aber gerade das ist es, was ich daran so liebe“, pflegte sie zu sagen. Und auch:
„Ich bin halt ein Naturkind.“

Inzwischen hockte Zwerg Salomon einsam zwischen den Steinen, bis Gerlindes Tochter Nadine auf die Idee kam, ihm eine Partnerin zuzugesellen.
„So ist das doch viel besser und schöner. Die Beiden können sich unterhalten und Beobachtungen über die Menschen anstellen, die zum Bahnhof eilen.“

Die traute Zwergenidille dauerte genau zwei Tage, danach waren die Beiden unauffindbar. Gerlinde verstand die Welt nicht mehr. So etwas Unbegreifliches hatte gar keinen Platz in ihrem Welt-und Menschenbild. Sofort wollte sie mit der Suche beginnen. Aber wie und wo? Sie hängte handgeschriebene Zettel auf an manchen Orten im Dorf und war höchst erstaunt und erfreut über deren wundersame Wirkung. Salomon und seine Freundin kamen über Nacht zurück.

Kurz darauf ging es nach dem Schneeballprinzip: nach und nach bevölkerte sich ihr Gärtlein mit ganzen Zwerg-Sippschaften, über deren Herkunft niemand Genaueres wusste. Sie schienen sich wohl zu fühlen und vermehrten sich. Gerlinde war nicht die einzige, die sich darüber freute. Aus ihrem Küchenfenster beobachtete sie gerührt manche Fussgänger, die beglückt oder auch kopfschüttelnd für einen Augenblick stehen blieben.

Dann kam der Tag, an dem die Sache plötzlich eine Eigendynamik annahm und richtig kommerziell wurde.

An diesem nebligen Morgen, es war schon Frühherbst und Gerlinde wollte etwas länger liegen bleiben, schellte das Telefon zu ungewohnt früher Stunde.
„Guten Tag, Gerlinde. Ich bins, Franziska. Wir kennen uns von der Bergwanderung vom vorletzten Sommer. Weißt du noch? Bitte verzeih, dass ich so früh anrufe, aber ich bin in Verlegenheit und vielleicht kannst du mir aus der Patsche helfen.“
„Natürlich gerne, wenn dein Anliegen nicht allzu ausgefallen ist.“
„Doch, leider ist es das und ich traue mich kaum, darüber zu sprechen.“
Nach längerem Drumherum rückte Franziska endlich mit ihrem Anliegen heraus.
„Dürfte ich dir nicht meinen Gartenzwerg in die Ferien geben? Ich verreise für drei Monate. Da stünde er dann so einsam vor dem Haus, dass ich fürchte, er könnte gestohlen werden. Auch wäre er bei dir nicht so allein. Weißt du, seit mein Hund vor zwei Jahren gestorben ist, hängt mein Herz halt an ihm und wenn ich zurück bin hole ich ihn sofort wieder ab. Was sind deine Preise? Ich bezahle gerne auch etwas mehr.“
Gerlinde, schlagfertig und humorvoll erwiderte:
„Natürlich, gerne. Wie heisst er denn und was kriegt er zu essen? Etwa gar eine spezielle Diät?“
„Er heisst Adalbert, das musst du natürlich wissen.“

Das also war die Geburtsstunde von Gerlindes kleinem Nebenerwerb. Am Rand des Steingärtleins, gut sichtbar für die Fussgänger auf dem Weg zum Bahnhof, war seit kurzem eine kleine Holztafel angebracht, deren Inhalt viel heimliches Schmunzeln auslöste und immer weitere neue Kunden brachte. Darauf stand zu lesen:

Ferienheim für Gartenzwerge
Persönliche Betreuung zugesichert
Moderate Preise

Gerlinde hatte nun einen kleinen Kummer. Ob sie wohl die neuen Einnahmen von der Steuer absetzen durfte?

 

Die Beichte     

Müde und mit schmerzenden Füssen von den Strapazen eines langen Stadttages setzte ich mich in die dritte Bankreihe der kleinen Quartierkirche. Es dämmerte früh an diesem Novembertag und schon von weitem waren mir die flackernden Kerzen links und rechts der weit geöffneten Tür aufgefallen, hatten mich angelockt. Ich hatte keine Pause geplant, doch es war Orgelmusik nach daussen gedrungen und hatte mich unwiderstehlich ins Innere gezogen. Da war noch etwas anderes, Mächtigeres gewesen: Weihrauch, Duft aus ferner Kinderzeit. Warm, vertraut, geheimnisvoll.

Dieser Duft hatte mit Leichtigkeit Jahrzehnte übersprungen und klar und deutlich hörte ich  wieder Mutters Stimme, die mir am freien Mittwochnachmittag schon von weitem zugerufen hatte:

„Gut, dass du schon daheim bist. Dein Obermini hat angerufen. Du sollst um halb zwei Uhr in der Kirche sein. Es sei wichtig.“

„Dass ich jetzt nicht mit meinen Freundinnen aufs Eis kann, stört mich nicht, meine alten Schlittschuhe sind mir eh zu klein und drücken mir die Zehen ab.“

Ein Jahr zuvor war ich den Ministranten beigetreten. An der Weihnachtsfeier in unserer Kirchgemeinde war der Wunsch dabei zu sein, erwacht.

Eingekleidet in ein langes weisses Gewand, vorne am Altar stehen oder knien, dem Priester im richtigen Moment bringen, was er gerade benötigt, in die geheimnisvolle Sakristei eintreten und, vor allem, das Weihrauchgefäss schwenken dürfen. Das alles war überaus verlockend gewesen. Doch den Ausschlag gegeben hatte der Weihrauch, dieser unbeschreibliche Duft mit seiner wohligen Wärme und Geborgenheit. Deshalb gehörte ich seit dem Frühling zu den Minis, einer Gruppe von Kindern, die sich auch ausserhalb der Gottesdienste zu allerlei Freizeitaktivitäten trafen, Unterricht erhielten und lernten, was während des Gottesdienstes  zu tun war. Wann stehen, wann knieen, wann kommen und wann gehen. Dabei vom Kirchenvolk geschätzt und geliebt zu werden.

Mutter war stolz auf mich.

Seither betrachte ich mit besonderem Interesse die Weihrauchgefässe, diese kunstvoll gearbeiteten Schmuckstücke, wann und wo immer ich sie erblicke.

Seither?

Es gab auch Aufgaben für uns Minis, die in aller Stille getan werden mussten. Zum Beispiel abwechslungsweise am freien Nachmittag in der spärlich besuchten Kirche die unzähligen Kerzenständer auf dem Altar und zu Füssen der Heiligen vom Wachs befreien und neue Kerzen einsetzen. Diese Aufgabe gefiel mir besonders gut, denn der Weihrauch, der noch seit der Elf-Uhr-Messe über unseren Köpfen waberte, beglückte mich auf unerklärliche Weise. Ich holte die schweren schön dekorierten und leise duftenden Kerzen aus dem Schrank in der Sakristei und begann sie zu verteilen. Manchmal musste ich eine kleine Leiter zu Hilfe nehmen, wenn die Heiligen auf ihren Gipspodesten für die kleine Person, die ich damals war, zu hoch oben standen. Ich staunte, wie viele dieser Statuen an den unterschiedlichtsten Orten im grossen Kirchenraum verteilt waren, und bald wurde ich mit ihnen vertraut wie mit Freunden, mit denen ich mich unterhalten konnte. Anfangs nur zögerlich, doch bald bildete ich mir ein, Antworten zu erhalten, und ich begann  Fragen zu stellen und mein Herz zu öffnen. Die Stunden in der meist leeren Kirche wurden mir unentbehrlich.

Nicht immer war ich allein. Der Priester war nach kurzem freundlichem Gruß in meine Richtung in seinem Beichtstuhl verschwunden und bereit, den wartenden Gläubigen die Beichte abzunehmen. Aus dem Unterricht wusste ich darüber Bescheid und fühlte mich nicht gestört. Ich beobachtete  Menschen, die erregt flüsterten, sich Tränen abwischten und leise, wie sie gekommen waren, wieder verschwanden. Ich verstand ihre Worte nicht, sollte ich auch nicht, spürte aber meist eine gewisse beklommene Atmosphäre und war froh, wieder allein zu sein wenn die Letzten gegangen waren.

Ein Mann mittleren Alters kam öfter. Er dämpfte seine Stimme nicht, schrie sogar manchmal und fluchte, so dass ich mich ängstlich hinter einen der Heiligen flüchtete, mir die Ohren zuhielt und mich bemühte, seine Worte nicht zu verstehen. Denn das wäre Sünde gewesen. Was konnte ich aber dafür, dass ich Dienst hatte, er immer lauter redete, so dass ich schliesslich einzelne Wortfetzen verstand und damit seine düstere Geschichte zu ahnen begann. Worte wie: „nicht zurückhalten“ „immer wieder“ schälten sich heraus. Der Mann faszinierte und verängstige mich zugleich, doch mit der Zeit begann ich absichtlich zu lauschen und konnte nicht mehr aufhören damit. Was ich da hörte, senkte sich als eine Last auf mich, die schwerer und drückender wurde, je öfter ich seiner Beichte zuhörte. Ich war seiner Geschichte verfallen, steckte in der Falle, durfte ich doch mit niemandem über mein Geheimnis sprechen. Auch nicht mit meinen vertrauten Gipsheiligen, die sicher verschwiegen gewesen wären.

Dieses Erlebnis ging nicht spurlos an mir vorbei. Ich wurde immer stiller, bleicher und bald richtig krank. Die Haare fielen mir büschelweise aus und ich wurde schwach, konnte kaum noch stehen und gehen. Keines der mütterlich-kummervoll zubereiteten Süppchen schmeckte mir und ich fror erbärmlich. Mutter holte Ärzte, einen nach dem andern, die mir alle nicht helfen konnten. Ich verlor Gewicht. Natürlich wusste ich selber genau was mir fehlte, musste aber die schreckliche Geschichte für mich behalten. Ein Teufelskreis hatte begonnen und sich über zwei lange Jahre hingezogen.

All das war mir an jenem Novemberabend, durch den Duft des Weihrauchs, so klar wieder vor Augen gekommen, als ob es gestern gewesen wäre.

In meiner Oase der Besinnlichkeit und des Innehaltens, war es plötzlich laut geworden. Es hatten  Vorbereitungen einer Gruppe von Musikanten begonnen, die ein Musical einübten für den Weihnachtsabend. Noch etwas chaotisch, doch es blieb ihnen ja noch viel Zeit bis zur Aufführung. Die vertrauten Melodien hatten meine  Blockflöte von damals hervor gezaubert, und ich merkte belustigt, wie meine Finger begannen, die imaginären Löcher abzudecken und die Melodien mitzuspielen.

Mit der Stille war es endgültig vorbei, aber Irgendwann, erinnerte ich mich, hielt das kranke Kind dem Druck nicht länger Stand, und ich weihte meine Mutter ein. Entsetzen stand ihr ins Gesicht geschrieben, doch schliesslich gab sie mir den erlösenden Rat:

„Du musst zur Beichte gehen, so rasch als möglich.“

Ein väterlicher Seelsorger nahm mir die Beichte ab. Lange hatte er zugehört, ohne mich zu unterbrechen.

Verena Uetz-Manser ist Musikpädagogin, Familienfrau und Grossmutter. Als Tochter von Gretel Manser-Kupp, Kinderbuchautorin, begann sie schon früh gerne zu schrieben, erst spät auch Gedichte. Verena Uetz-Manser ist Mitglied von femscript.ch und als solche nimmt sie teil am Schreibtisch Winterthur. Veröffentlicht wurde in einer Publikation aus dem Kameru-Verlag: ‹dreiundsechzig›, sporadisch auch in Zeitschriften.

Joachim Zelter „Im Feld“, Klöpfer & Meyer

Joachim Zeiters neuer Roman «Im Feld» trägt den Untertitel «Roman einer Obsession». Obsession ist mehr als Leidenschaft. Frank Staiger fährt in seiner Freizeit Rad. Durchaus mit Leidenschaft. Zusammen mit anderen, im Peloton aber über sich hinauswachsend, mit dem Tunnelblick nach vorn. Ein Roman wie ein Tauchgang in die Untiefen der menschlichen Seele. Dorthin, wo die Sicht begrenzt ist, das Gegenüber zum Umriss wird. Ein Buch, das vielleicht nur versteht, wer einen Teil dieser Obsession mit sich trägt.

Franz Staiger ist mit seiner Frau nach Freiburg im Breisgau gezogen, näher an die Berge. Um die Gegend mit dem Rad zu erobern, schliesst er sich am Radsporttreff unter dem Heideggerdenkmal einer Radsportgruppe an, hält sich anfangs noch diskret im Hintergrund, fährt im hinteren Teil mit, lauscht in Bummelphasen den Gesprächen seiner Mitfahrenden. Bis Landauer dazustösst, die Legende. Er, dem alles zuzutrauen ist, er, der alles in sich birgt. Aus der Tour wird Tortour. Schweiss fliesst in Strömen. Und nichts, fast nichts, nicht einmal die totale Erschöpfung bremst jene in Landauers Gruppe, diesem Peloton, der über alle Grenzen des Möglichen hinausfährt.

Wer jenen Zug an sich selbst nicht kennt, jene Ergebenheit in der Gruppe, jene totale Verausgabung, die ohne Gruppe unmöglich wäre, jene absolute Leistungsbereitschaft, bei der es nur darum geht, gegen sich selbst zu siegen, wird dieses Buch nur schwer verstehen. Joachim Zelter will aber mehr als nur eine Radfahrt in die Tiefen der menschlichen Seele beschreiben. „Im Feld“ ist Metapher für ein Gesellschaft im Overdrive, über der anaeroben Schwelle. Keine Verteufelung, keine Anklage, denn der Autor kennt aus eigener Erfahrung den Lockruf jenes Zustandes, wenn der Körper weit über sich hinauswächst. Ein Zustand, der in kaum einem andern Moment besser zu er-fahren ist, als in einem Peloton (von franz.: pelote = Knäuel, im Radsport das geschlossene Hauptfeld der Radrennfahrer).

Frank Staiger «leidet» unter «Cyclomanie», Radsportbesessenheit. So wie andere der Spielsucht, irgendeiner Sucht verfallen sind, ist es beim ihm die Lust, auf dem Fahrrad die Grenzen seiner selbst auszuloten. Erst recht in einem Rudel, einer Radsportgruppe. Ihr Roman ist Sinnbild für vieles, manch einer Dynamik, die nur im Rudel funktioniert. Wie «weit» dachten Sie beim Schreiben Ihres Romans daran oder war es schlicht die Lust, eigene Erfahrungen, diese besondere Form des Eintauchens zu beschreiben? Welche Motivation stand ganz am Anfang Ihres Schreibens?

In vielen Rad(sport)romanen steht das Rennen im Mittelpunkt. Beispielhaft hierfür steht Tim Krabbés sehr lesenswerter Roman «Das Rennen». Dem wollte ich nicht nacheifern. Mich interessierte von Anfang an die Idee des Pelotons als Inbegriff einer Gruppe: Welche Dynamik, welche Zwänge und welche Sogwirkungen sich dabei auftun können. Auch: Wie man ohne Stacheldraht und Schießbefehl einen Einzelnen (oder viele Einzelne) in einer Gruppe halten kann. Dem wollte ich in meinem Roman nachgehen, das Radfahren als Parabel und gesellschaftliche Metapher sowie als eine eigenständige Wirklichkeitsordnung. Eigene Er-fahrungen spielen hier durchaus eine Rolle. Seit Jahren fahre ich in einem Radverein und kenne die vielschichtigen Prozesse von Gruppenfahrten aus eigenem Erleben (oder genauer: Er-fahren). Als ich die ersten Male mit dem Verein mitfuhr, bekam ich plötzlich ein Gefühl dafür, wie allein man im sonstigen Leben eigentlich steht, zumal im Leben eines Schriftstellers, aber nicht nur dort. Das Peloton war eine schlagartige Gegenwelt zu der üblichen Einsamkeit. In modernen Gesellschaften leben Individuen ziemlich alleine. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen, sich und anderen fremd in einer Welt der Vereinzelung. „From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood“ ist der Titel eines Essays, der diesen Vorgang der Moderne ziemlich gut auf den Punkt bringt. Mein Roman erzählt nun die atavistische Gegenbewegung eines solchen Vorgangs: „From Universal Otherhood to Tribal Brotherhood.“ Ich räume ein, dass ein solcher Vorgang durchaus auch problematisch und zwiespältig ist.

Frank Staiger ist umgezogen. Vom gänzlich flachen Norden in den gebirgigen Süden Deutschlands, von Göttingen nach Freiburg im Breisgau. Früher war Staigers Frau Susan noch mitgefahren. Früher. Aber für diese eine Tour an Christi Himmelfahrt, dieses Himmelfahrskommando, bleibt Susan zuhause. In Ihrem Roman, dessen Fokus fast ganz auf den Strampelmarathon auf dem Fahrrad liegt, spielt Susan kaum eine Rolle. Ist Besessenheit in dieser Form ein ausschliesslich männliches Phänomen, diese Lust, sich zu beweisen, alles aus sich herauszupressen, den absoluten Herrn über den inneren Schweinehund zu demonstrieren?

Ich glaube nicht, dass diese Besessenheit eine männliche Domäne ist. Ein gutes Drittel der Mitfahrenden in Radvereinen sind (zumindest nach meiner Erfahrung) Frauen. Sie fahren mit derselben Ergebenheit wie Männer, vor allem aber: Sie sind die besseren Radfahrenden, sind technisch besser, haben einen runderen Tritt, teilen sich ihre Kräfte klüger ein. Bei schwierigen und langen Ausfahrten halte ich mich mit Vorliebe in der Nähe von Frauen auf. Sie kommen die richtig harten Alpenpässe besser hinauf als viele Männer, die überdrehen, zu impulsiv sind und ihr Pulver zu früh verschießen. In meinem Roman fahren bis ganz zum Schluss einige Frauen mit. Der Punkt ist nicht eine Geschlechterdifferenz. Vielmehr ist der Radsport in meinem Roman (und nicht nur dort) eine Art der Kompensation für das Scheitern: Sei es nun das Scheitern im Beruf oder das Scheitern einer Beziehung.

Fahrradfahren als Form des Fliegens, des Abhebens. In der Begeisterung des Protagonisten fliege ich als Leser mit bis tief ins Leiden, kann mich sehr gut hineinversetzen, weil ich diesen Moment kenne. Ist das ein Gegensatz zum Schreiben? Oder gibt es beim Schreiben genauso diesen Rausch, bei dem man über sich hinauswächst, sich selbst vergisst? Wenn auch kaum je im Rudel? Oder ist es genau dieses Rudel, die Formation, der Peloton, der den Rauschzustand noch multipliziert?

Dies ist der entscheidende Punkt: Das Abheben hinein in das Leiden, und in

die 3. Auflage!

welchem Verhältnis dieser Vorgang zum Schreiben steht. Beides entspricht sich, steht in Beziehung zueinander. Das Schreiben ist (jedenfalls für mich) ein Abheben, eine wunderbare Schwerelosigkeit, aber auch ein Taumeln, eine gefährliche Fallhöhe. In meinem Roman versuchte ich verschiedene Bedeutungsebenen zu entfalten. Die wichtigste für mich ist: Es ist auch ein Künstlerroman. Der eigentliche Held ist der unverstandene (Rad)Künstler Landauer, der eine Ausfahrt wie ein Kunstwerk, wie eine Sinfonie inszeniert, in aller Konsequenz und Radikalität, der darin aber eigentlich von niemandem verstanden wird. „Herr Beethoven, bitte in die Nachschulung“, heißt es ganz zum Schluss. Welcher Autor oder Künstler kennt dieses Unverstanensein nicht.

Obwohl sich Staiger an diesem Donnerstag unter dem Denkmal Heideggers für die mittlere der drei Leistungsgruppen entschliesst, gerät er an Landauer, eine Legende. Einen, dem es ganz offensichtlich gelingt, mehr als das Letzte aus seinem Gefolge herauszupressen. Diese Landauer gibt es überall, wo sich Begeisterung mit Fanatismus paart, Gruppendynamik mit über“staiger“tem Ehrgeiz. „Im Feld“ beschreibt jene Lebenssituation, in der man völlig kanalisiert und fokussiert selbst Körpersignale überhört und Vernunft ausschalten kann. Das Bild einer Gesellschaft, die die Selbstkontrolle verliert?

Ich bin schon zusammen mit Ärzten in einer Gruppe gefahren, die selbst am kleinsten Berg über ihre Grenzen gegangen sind, gegen jede medizinische Vernunft, nur um nicht abreißen zu lassen. Vielleicht ist dies ein Kontrollverlust, ein individueller und gesellschaftlicher. Nietzsche würde sagen: Man darf den Menschen nicht beschämen, und er will sich auch nicht beschämen lassen. Deshalb gehen die meisten Fahrer in einem Peloton ans Limit, und darüber hinaus.

Vor vielen Jahren lief ich etliche Marathons. Einmal stand nach der Ankunft im Ziel in einem Duschraum mit vielen anderen verschwitzten Männern, die kurz vor oder nach mir über die Ziellinie gelaufen waren. Dort unter den Duschen waren es nicht Stolz und Zufriedenheit, Glück und Befriedigung, die lautes Argumentieren und Lamentieren im Dampf der Duschen provozierten. Es war lautes Schimpfen; übers Wetter, die Streckenführung, die Minuten und Sekunden, die man liegen gelassen hatte, den Veranstalter, den Trottel vor und hinter einem. Freizeit als Quadratur der sonst schon bis an die Grenzen ausgereizten Leistungsgesellschaft? Wird Müssiggang irgendwann wieder avantgardistisch?

Müßiggang ist eine Kunst. «Lob des Müssiggangs» ist das Motto und ein Buchtitel des englischen Philosophen Bertrand Russel. Oder in Oscar Wildes Worten: „It is awfully hard work doing nothing.” Das ist keine Koketterie, sondern eine Wahrheit. Wer kann das schon: einfach Nichts zu tun. Wobei gerade der Radsport durchaus eine Form von kontemplativen Nichts sein kann. Eine ständige Bewegung, die Kreisform (Cyclomanie), die ewige Wiederkehr des Gleichen als hochenergetisches Nichts. Oder als eine Variante des Sisyphos im Sinne von Albert Camus. Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Radfahrer vorstellen. Soweit so gut. Doch alles steht und fällt mit der Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Radfahrers. Für einen starken Fahrer mag eine Ausfahrt ein Vergnügen sein, eine Kontemplation, ein meditatives Loslassen; für einen Schwächeren ist es sehr schnell die Hölle. Genau wie in unserer Leistungsgesellschaft. Für manche ist es wunderbar, für andere ein Grauen. Eigentlich noch schlimmer als in einem Peloton. Der Roman versteht sich deshalb auch als einen Beistand für die Schwächeren. Ich bin einer von ihnen – trotz allen Radfahrens.

Joachim Zelter wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Von 1990 bis 1997 arbeitete er als Dozent für englische und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Autor von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Mit dem Roman „Der Ministerpräsident“ war er 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 war er Hausacher Stadtschreiber (Gisela-Scherer-Stipendium).

Webauftritt des Autors

Titelfoto: Sandra Kottonau

Ayelet Gundar-Goshen «Lügnerin», Kein & Aber

Ayelet Gundar-Goshen ist eine herausragende Autorin. Nicht erst mit ihrem dritten auf Deutsch erschienen Roman „Lügnerin“, sondern auch mit ihren beiden ersten Romanen. Unvergessen bleibt „Löwen wecken“. In ihrem neuen Roman nimmt sich die israelische Autorin der Lüge an, jenem Tun, das von Stirnrunzeln bis Entsetzen alles auslösen kann, vor der sich niemand entsagen kann, die in der aktuellen Politik hüben und drüben zur Strategie geworden ist. Ausgerechnet in einer Zeit, die sich nach der Digitalen Revolution der allseits verfügbaren Wahrheit verpflichtete.

Als ich ein kleiner Junge war, erklärte man mir zwei Sorten von „Unwahrheiten“. Zum einen die Lüge, die andern schadet, zum andern das „Flunkern“ (schweizerdeutsch „Schwindeln“), mit der man anderen aber keinen Schaden zufügt. „Du sollst nicht lügen“, steht da als indiskutables, ehernes Gesetz. Und doch wissen alle, dass wir in einem fort lügen. Das ist selbst wissenschaftlich belegt. Wir fügen ganze Lebensgeschichten aus Versatzstücken zusammen, die sehr wohl in der Nähe der Wahrheit liegen. Aber es gibt keine Biographie, sei sie bedeutend oder unbedeutend, die ohne Lüge auskommt. Und darin eingeschlossen sind durchaus auch Lügen, die anderen Schaden zufügen.

Nuphar Schalev, eine junge Erwachsene, verkauft einen Sommer lang Eis. Nuphar Schalev ist nicht hässlich, aber gerade so unauffällig, dass wohl auch dieser Sommer zu Ende gehen wird, ohne dass das wirkliche Leben begonnen hätte.

„Sie wuchs zu einem zaghaften, in sich gekehrten Mädchen heran und bewegte sich in der Welt wie ein ungebetener Gast auf einem Fest.“

Ganz anders als ihre jüngere Schwester, der die Sympathien wie ein Schwarm Fruchtfliegen zuschwärmt. Nuphar hofft auf Verwandlung, dass sie irgendwann aus der starren Hülle ausschlüpfen könne, um der Welt ihre bunten Flügel zu zeigen. Dieser Tag kommt. Aber Nuphar schafft es nicht aus eigener Kraft, sich aus ihrem Nebengleis in den Vordergrund zu schieben.

Eines Tages taucht an ihrer Eisdiele Avischai Milner auf, ein fallengelassenes Showsternchen, das für einige Zeit im Rampenlicht der Nation stand, um ebenso schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Und ausgerechnet ihn lässt eine unscheinbare, sommersprossige Eisverkäuferin eine gefühlte
Ewigkeit vor der Eisdiele warten. Genügend Zeit, um beim Missachteten alle Dämme brechen zu lassen, erst recht als das Ding hinter der Eisdiele auch noch korrigiert. Es bricht aus Avischai Milner heraus, eine Kasskade verbaler Hässlichkeiten, deren Wirkungen unabsehbar werden. Ein Schrei Nuphars und alles läuft zusammen. Eine einzige Frage an das Mädchen mit den verquollenen Augen und Avischai Milner steht unter Verdacht, sich an dem Mädchen vergangen zu haben. In einem einzigen Moment richtet sich die Aufmerksamkeit einer ganzen Nation, des Kollektivs auf den Schrecken eines Mädchens, um den im gleichen Moment Verurteilten ohne ein rechtskräftiges Urteil mit Schimpf und Schande zu bestrafen.

Avischai Milners Leben gerät fast ohne sein weiteres Dazutun immer heftiger in Schieflage. Dieser eine Ausraster an der Eisdiele in der Stadt und alles, was daraus folgte, wischen das Wenige weg, was dem jungen Mann von dem bisschen Hoffnungen, das er noch mit sich herumtrug, übrig blieb. Von einem aufgeblasenen Ego bleibt ein leerer Sack.

Nuphar ist aber nicht allein mit ihrer Lüge. Da ist auch Lavie, der sie im Hinterhof bei dem angeblichen Übergriff beobachtete, der sie zuerst erpresst, der seine Eltern belügt, seine Mutter, die seinen Vater belügt. Oder die alte Raymonde, die aus einer Mischung aus Lust und Not die Identität ihrer verstorbenen Freundin aus dem Altenheim annimmt, die Ausflüge mit Schüler/innen mit dem Namen der Verstorbenen mitmacht zur Erinnerung an die Shoa, Schrecken von denen sie eigentlich verschont blieb, ihr aber mit einem Mal eine Bedeutung verleihen, auf die sie nicht mehr verzichten kann. „Dinge erfinden, um weniger allein zu sein.“

Nebst einer unerhört raffinierten Konstruktion ist es die Sprache, Sätze wie „Am Ende eines jeden Satzes lauerte das Schweigen wie ein Furcht einflössender Hund hinter der nächsten Strassenecke“ oder „Liebe sei vielleicht der einzige Muskel, der im Alter nicht schrumpfe, sondern wachse“ oder „…aber sie waren wieder in ihr eigenes Leben verschwunden und rannten sinnlos hin und her wie mit Gift besprühte Küchenschaben“ – Sätze, die man sich wie Pralinen langsam auf der Zunge zergehen lassen will.

Während Nuphar immer mehr an ihrer Lüge leidet, Avischai Milner einen Selbstmordversuch unternimmt und die Polizei dem Konstrukt immer näher kommt, zieht einem die Autorin unweigerlich ins Resümieren über die eigene Geschichte hinein. Man denkt, das Ausgesprochene wirke im Tun und Lenken des Menschen. Man ahnt, dass das Unausgesprochene, Verschwiegene, Gelöschte sehr oft viel mehr wirkt, tief in das Ausgesprochene hinein und letztlich wenig bleibt von dem, was Wahrheit und Wahrhaftigkeit sein könnte.

Ayelet Gundar-Goshen ist ein Seismograph menschlichen Gefühlslebens- und bebens, sei das Erzittern noch so unscheinbar und verborgen in den Falten innerer Abgründe.

„Hoffnungslose Sehnsucht schmeckt wie der Inhalt schimmeliger Konserven.“

Literatur, die packt und mitreisst, von einer Autorin, die einem zum Zuhören zwingt – unbedingt lesen!

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, »Eine Nacht, Markowitz« (2013), dem der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen wurde, wird derzeit von der BBC verfilmt.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Daniel Goetsch „Fünfers Schatten“, Klett-Cotta

Daniel Goetsch schrieb mit „Fünfers Schatten“ einen kunstvoll konstruierten und sprachlich meisterhaften Roman über einen Mann, der mit seiner Geschichte ins Uferlose abdriftet, seiner eigenen Geschichte abhanden kommt. Ein beeindruckendes Buch mit ungewohnten Horizonten. Literatur, die einem etwas abverlangt und zutraut.

Maxim Diehl, ein erfolgreicher Theaterautor, setzt sich auf eine Insel vor der französischen Mittelmeerküste ab. In eine kleine Pension, nicht weit von dem Haus, in dem der Vielschreiber Georges Simenon Romane am Fliessband in seine Remington tippte. Aber Maxim Diehl ist aus dem Tritt geraten, möchte schrieben, findet aber seine Stimme nicht. Die Urangst jedes Autors. Erst recht in Hörweite eines Hauses, aus dem das Tippen noch immer, für Maxim Diehl als Drohung, den Takt angibt.

In der Pension ist er der einzige Gast, bedrängt von der Besitzerin, die bei jedem auftauchenden Schreiberling hofft, ihre Geschichte und die ihres Mannes unterzubringen. Diehl flieht vor der Pensionsbesitzerin und den leeren Seiten seiner Notizbücher. Auf diesen Spaziergängen begegnet er einem alten Amerikaner, der vor seinem Hotel alleine Cognac trinkt. Jack Quintin beginnt zögerlich seine Geschichte zu erzählen, als er auf Seiten der Alliierten gegen Ende des Krieges nach Deutschland kam. In einer Spezialeinheit hatten sie die Aufgabe, für die führungslose Verwaltung im besiegten Deutschland fähiges Personal zu rekrutieren, das während der Nazizeit nicht brauner Gesinnung unterlag. Während er sich in Interviews einen Reim auf die verdunkelten Lebenslinien der Überlebenden zu machen versucht, verliebt er sich gegen die Weisung der Besetzer in die junge, hübsche Tochter eines Kandidaten.

Diehl erliegt der Geschichte des Amerikaners. Er, der eigentlich einen Roman über seine eigene Geschichte schreiben wollte, nicht zuletzt über die wilden 70er Jahre in Zürich rund um die Globuskrawalle oder die von der Öffentlichkeit vergessene Selbstverbrennung der jungen Silvia Zimmermann im Winter 1980, mitten in Zürich. Revolte und Aufbruch. Statt dessen erliegt er der Geschichte des Amerikaners, beginnt wie besessen aufzuschreiben, was ihm der Amerikaner erzählt. Eine Geschichte, die den auf die Insel Entflohenen noch einmal von seinem eigenen Leben wegträgt. Ein Leben, das aus der Distanz, auf seinen Spaziergängen, im Wanken zwischen medikamentös unterstützter Euphorie und tiefen Abstürzen immer mehr in Schieflage gerät.

Und als Diehls schon längst geschiedene Frau zusammen mit dem gemeinsamen Sohn ihren Besuch auf der Insel ankündigt, droht sich zur Flucht eine unabwendbare Konfrontation zu gesellen. Eine mit einem auseinandergebrochenen Leben, einem autistischen Sohn, der nie zu seinem eigenen Sohn geworden war, einer nicht wahrgenommenen Pflicht, einer ungewollten Vaterschaft. Und unter allem, zwischen allem und hinter allem die Erinnerungen an Viv, der einzigen Liebe, die aber nie wurde, was sie hätte sein können, sein sollen.

Die Geschichte Jack Quentins, eine Geschichte in den Ruinen Deutschlands verknüpft sich mit einem unwirklichen Sog mit seiner eigenen, der Geschichte Maxim Diehls. Ein Sog, der sich auf den Leser überträgt. Geheimnisse, deren Erklärung man unbedingt entgegenlesen will.

Daniel Goetsch erzählt zeitlich auf mehreren Ebenen, ebenso wie in seinen Erzählpositionen. So nah einem die verschiedenen Perspektiven erscheinen, so weit weg geraten sie aus jeweils anderer Perspektive. Es entstehen Vexierbilder, Kippbilder.

„Fünfers Schatten“, ein kluger Roman, ein Buch über Biographien, Lebensentwürfe und den Versuch ihrer Realisation. Diehl wird von seiner Geschichte weggespült, in die Unendlichkeit der Bedeutungslosigkeit. Das, was uns dereinst allen blüht, man aber geflissentlich verdrängt und vergisst, solange man sich im Zentrum des Universums glaubt.

Hochgradig gute Schweizer Literatur mit dem Zeug für das grosse Buch! Daniel Götsch liest morgen Freitag, am 20.April, im Kosmos Buchsalon in Zürich.

Daniel Goetsch geboren 1968 in Zürich, lebt als freier Autor in Berlin. Er verfasste mehrere Romane, darunter »Herz aus Sand« und »Ben Kader«, sowie Dramen und Hörspiele. Für »Ein Niemand « erhielt er das HALMA-Stipendium des europäischen Netzwerks literarischer Zentren.

Webseite des Autors

Titelfoto: Sandra Kottonau

Literatur grenzenlos!

Das alljährlich stattfindende Literaturfestival „Erzählzeit ohne Grenzen“ ist einmalig. Zusammengerechnet ist die Besucherzahl imposant, die Liste der Autorinnen und Autoren mehr als beachtlich, die Veranstaltungsorte von abenteuerlich bis beeindruckend und meine Not als Besucher jedes Jahr die gleiche.

Man müsste in den Tagen vom 7. – 15. April mehrere Leben zur Verfügung haben, um all jenen Schreibenden zu lauschen, auf die man doch eigentlich schon lange wartet. Diesmal waren es drei Schriftstellerinnen und ein Schriftsteller, deren Bücher ich ihnen ans Herz legen möchte.

„Keyserlings Geheimnis“ von Klaus Modick, Kiepenheuer und Witsch, 235 Seiten
Klaus Modick, Autor von mehr als 20 Romanen, interessierte sich mit der Lektüre der Werke Eduard von Keyserlings (1855 – 1918, Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus) immer mehr für dessen Biografie. Ein Leben allerdings, dass viele weisse Flecken oder schwarze Löcher aufweist, weil der Nachlass auf Keyserlings Wunsch vernichtet wurde. Eine Tatsache allerdings, die die Neugier und Fantasie Klaus Modicks nur noch mehr anstachelte. Was waren die Gründe, warum ein Nachlass, fast alle Spuren, Briefe und Manuskripte eines Schriftstellers vernichtet werden mussten? Warum musste Eduard von Keyserling fluchtartig seine Universität und die Stadt Dorbat (heute Tartu) verlassen und nach Wien fliehen? Klaus Modick spinnt mit viel Einfühlung einen mitreissenden Roman, der in der Künsterboheme um 1900 spielt, Keyserlings Schwabinger Freunde; den Dramatiker Halbe, den Maler Lovis Corinth oder den Schriftsteller und Schauspieler Frank Wedekind. Absolut überzeugend aber ist Klaus Modicks feinsinnige Sprache, der Ton, den er beim Erzählen anstimmt und der perfekt zum Lebensgefühl und zur Zeit damals passt. Für all jene die perfekte Lektüre, die es mögen, wenn mit dem Lesen Zeitverständnis geweckt wird.

“Jahre danach“ von Angelika Klüssendorf, Kiepenheuer und Witsch, 156 Seiten
Nach „Mädchen“ und „April“ ist „Jahre danach“ der Schluss einer Trilogie. Die Geschichte von April, von der Kindheit bis hinein in ein Schriftstellerleben. „Jahre danach“ erzählt in sich abgeschlossen von Aprils Ehe zu Ludwig, den die zuerst als aufgeblasenen Chirurgen an einer Lesung kennenlernt, der ihr aber genau das zu geben scheint, wonach ihre Seele dürstet. April und Ludwig heiraten, bekommen ein Kind und Probleme zuhauf. Angelika Klüssendorf schrieb aber keinen Rosenkriegroman, sondern die Geschichte zweier Menschen, die sich wohl irgendwann irgendwie liebten, aber mehr ineinander verstrickten. „Jahre danach“ spriesst voller Witz und Poesie dort, wo man als Leser weinen könnte. Ein Buch voller starker Sätze, die man mitnehmen, nicht mehr vergessen möchte. Ein unglaublich starkes Buch, von dem die Autorin meinte, sie wäre froh, nun endlich einen Abschluss gefunden zu haben, um Neues beginnen zu können. Wie ich mich darauf freue!

“Die Königin schweigt“ von Laura Freudenthaler, Droschl, 206 Seiten
Nicht von den Märchen aus der Vergangenheit möchte Fannys Enkelin hören, viel lieber von der wirklichen Vergangenheit. Fanny erinnert sich. Vom Vater mit der harten Brust, von der Wärme ihrer Mutter, die nicht von ihrer abzugrenzen war, dem elterlichen Hof und von Toni, ihrem Bruder, dem Hoffnungsträger, der tot im grossen Krieg zurückgeblieben war. Fanny braucht ein Leben lang, um sich von den Gewichten ihrer Vergangenheit loszumachen, den Eltern, dem Dorflehrer, mit dem sie verheiratet war und einen Sohn hat. Selbst von jenen, die noch leben, ihrem Sohn, der auch Toni heisst und ihrer Enkelin, die sich nicht mehr nur mit Märchen aus der Vergangenheit begnügt. Die Geschichte einer Frau durch fast ein ganzes Jahrhundert. Laura Freudenthaler, noch jung, erzählt klug, wohl wissend, wo Nähe oder Distanz dem Erzählen gut tun. Ein Roman voller Ehrlichkeit und Reife, sprachlicher Kraft und Leidenschaft für ein Leben! Unbedingt lesen!

eine ausführlichere Rezension auf literaturblatt.ch

“Stillhalten“ von Nina Jäckle, Klöpfer & Meyer, 189 Seiten
Tamara sitzt in ihrem Zimmer. Ihr Leben ist abgeschlossen wie das Haus am künstlichen See, in dem sie wohnt. Sie schreibt in ihrem Zimmer in ihr Abrechnungsbuch. Tamara ist alt, war einst Tänzerin, vor langer, langer Zeit, damals 1933 in diesem schicksalsreichen Jahr deutscher Geschichte. Und sie sass Modell für ein Porträt, vor dem Maler Otto Dix. Damals war Tamara zwanzig, als sie Otto Dix zum ersten Mal begegnete, ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert von einem Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm. Otto Dix malte sie, weil sie mit ihrem Lächeln trösten sollte. Aus dem „Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris“ wird eine nicht genutzte Möglichkeit, ein Leben am Scheidepunkt, damals noch von einem Leben in allen Facetten. Bis sie heiratete. Sie heiratete einen Mann, der ihr das Tanzen und Fragen verbot, liess sich einschliessen, für immer verwundet.

Nina Jäckles Mann trägt vor der Lesung im Kunsthaus Singen eine grosse Tasche mit ins Obergeschoss, wo fast 100 Gäste auf die weitgereiste Autorin warten. Er packt ein Bild aus, das Bild, das „Original einer Fälschung“, lächelt dieser. Die Replik des Bildes, das meist in Stuttgart hängt, wenn es nicht irgendwoin den Zentren der Welt auf Reisen ist.

Erfrischend war, wie Nina Jäckle den Bilddeutungen des Kunsthistorikers widersprach und deutlich machte, dass die Wissenschaft mit ihrer Deutung auch „unrecht“ haben kann.

eine ausführlichere Rezension auf literaturblatt.ch

Ich liess mich von „Erzählzeit ohne Grenzen“ faszinieren. Ein literarisches Freudenfest, ein Grossanlass, der einmalig ist. Ein grosses Dankeschön an das Organisationsteam, allen voran Monika Bieg und Barbara Tribelhorn.

Ulrike Ulrich «Ist sie nicht»

Sie ist die alte Frau, die gegen den Tisch stösst, die den Tisch neben der Theke anstösst, auf dem schon das Tablett mit zwei Tassen und zwei Croissants steht, das Tablett, das sie eben erst vorsichtig abgestellt hat. Sie ist die alte Frau und der Kaffee, der überschwappt, auf das Tablett, über die Croissants.
Sie ist der Moment, das Überschwappen, das nicht zu verhindern war, und der alte Mann, der zusammen gesunken hinter dem Tisch auf der Bank sitzt und zusieht, wie sich das Croissant mit Kaffee vollsaugt. Sie ist das Croissant, das weich wird, und der wacklige Tisch, das Tablett voller Kaffee. Sie ist der Mann, der nicht weiterweiss. Und die alte Frau, die sich umschaut, die Hilfe sucht.
Sie ist die junge blonde Frau, die Servietten bringt, der alten Dame Servietten reicht, die junge Frau mit den einheitlich hellen Haaren, die jedem und jeder sagen muss, dass es den Kaffee heute gratis gibt, wenn man eine Tasse kauft, eine Tasse für 14 Franken. Und der Mann um die 40 ist sie, der keine Tasse will, keinen zusätzlichen Schuss Kaffee und auch keinen Lebkuchengeschmack, nur ein Glas Wasser.
Sie ist der Mann um die 40, der sich umdreht und dann mit seinem Tablett in der Mitte steht, keinen Platz findet, der Mann, dessen Weste zu eng ist, auch das Hemd. Sie ist das Hemd und die enge Weste und der Knopf, der abspringen will, der so aussieht, als wolle er abspringen.
Und sie ist der rothaarige Mann mit der grünen Brille, der aufsteht, einen Platz freimacht, aber auch die Unordnung, die er auf dem Tisch hinterlässt, der Stapel Zeitungen, den der Mann mit der engen Weste nicht entfernen kann, solange er das Tablett trägt.
Sie ist der Moment, als er das Tablett auf den Zeitungen abstellt, sich setzt und aufatmet, ohne dass der Knopf abspringt. Sie ist das Buch, das er sich holt, ein Reiseführer, seine Sehnsucht nach Sizilien ist sie und auch das Buch, das auf dem Nebentisch liegt. Sie ist das Buch und das Bild von der Frau auf dem Buch und der Titel des Buchs ist sie auch. Sie ist die Studentin, die am Tisch nebenan einen Text übersetzt, in den Computer tippt. Und die Freundin, die ihr dabei hilft, ihr gut zuredet. Aber am meisten ist sie die alte Frau am Tisch neben der Theke, die den Kaffee mit den Servietten weggewischt hat, auf deren Tablett die vollgesogenen Servietten liegen und deren Mann vor sich hinkaut.
Und der ältere Mann im eleganten Mantel ist sie, der erst einen Tisch sucht, bevor er sich den Kaffee holt, der da steht in dem eleganten Mantel mit seinem eleganten Gesicht und dem eine Frau einen Platz an ihrem Zweiertisch anbietet. Sie ist diese Frau mit der beigen Wollmütze und den tiefen Falten, die auf den Stuhl gegenüber zeigt, mit einem verlegenen Blick. Und die sich in sich zurück zieht, als der Mann sich lächelnd bedankt, für die Freundlichkeit, und es dann aber doch vorzieht zu warten, bis die beiden Studentinnen aufgestanden sind, die gerade Computer und Bücher einpacken.
Sie ist diese Frau mit der beigen Wollmütze, die einen Schritt getan hat, und der Mann, der versucht so freundlich wie möglich das Angebot abzulehnen. Sie ist der Mann, der den eleganten Mantel über die Stuhllehne legt und dann zur Theke geht, aber noch mehr ist sie die Frau, die aufsteht, noch immer mit Wollmütze, und sich ein Buch holt, die mit einem Buch zurückkehrt, darin liest, als der Mann mit einem Tablett zurückkehrt, auf dem ein Espresso steht.
Sie ist die blonde Frau, die an allen vorbei auf die Personaltür zugeht, schnell, und mit Tränen in den Augen. Und sie ist die Frau am Tisch mit der Kaffeepfütze, die jetzt ein Buch über die Physik der Wunder liest, während ihr Mann eines über Topfpflanzen durchblättert.
Sie ist die Frau, die ihren Namen mehrmals sagen muss, weil sie ihren Kaffee mitnehmen will und weil die Frau mit der rosa Blüte im Haar, die hinter der Theke Bestellungen aufnimmt, den Namen auf den Pappbecher schreiben will, aber den Namen nicht versteht, sie ist die Frau mit der rosa Blüte oben auf dem Kopf, die den Namen nicht versteht und nicht schreiben kann, und die Frau, die einen schwierigen Namen hat, den man nicht kennt, hier in dieser Stadt und in diesem Café, das zur Buchhandlung gehört, in dem man die Bücher mit an den Tisch nehmen darf, und den Kaffee mit hinaus, wenn man einen Namen hat. Sie ist auch der Name, der unverständliche Name, den man mehrmals sagen muss. Und sie ist die Frau, die sagt, dass doch der Name egal sei, die den Namen nicht nochmals wiederholen will, einfach mit dem Kaffee das Gebäude verlassen, und die zierliche Frau mit der rosa Blume, die sich entschuldigt, und die blonde Frau, die wieder aus dem Personalraum zurückkehrt, mit einem angestrengten Gesicht.
Sie ist die elegante Frau mit bordeauxrotem Hut, die an den Tisch des eleganten Herrn, neben der Frau mit der beigen Wollmütze, tritt, und ungarisch spricht, und die Frau mit der Wollmütze, die aufschaut, als der Mann seinen Mantel nimmt und sich freundlich verabschiedet. Sie ist das Bild auf der Zeitung, die der Mann liegen gelassen hat.
Sie ist die Frau mit der rosa Blume, die dem Paar mit der Kaffeepfütze erzählt, wie anstrengend das ist, an so einem Samstag zu arbeiten, von morgens bis Ladenschluss, und der alte Mann, dessen Kinn so aussieht, als würde er immer kauen, als würde er nichts so trainieren wie diesen Muskel. Sie ist die Musik aus dem Lautsprecher und der Schnee vor dem Fenster, sie ist das Kind, das unter den Tisch eines Mannes mit Computer kriecht, am Kabel zieht, sie ist die leichte Bewegung des Computers und die blonde Frau, die wieder Tassen anpreist.
Und die Frau mit der beigen Wollmütze ist sie, die aufsteht und das Buch zurückbringt, das von Legenden handelt. Sie ist der Kaffeegeruch und der Moment, als die Frau mit der Blume das Kaffeepfützentablett abräumt, sie ist die Hand, die sie der blonden Frau auf die Schulter legt. Und sie ist der vergessene Schal drei Tische weiter.

Ulrike Ulrich, geboren 1968 in Düsseldorf, lebt und arbeitet seit 2004 als Schriftstellerin in Zürich. 2010 erschien im Luftschlacht Verlag ihr Debütroman «fern bleiben», dem im März 2013 der zweite Roman „Hinter den Augen“ folgte. 2015 erschien ebendort ihr erster Erzählband «Draussen um diese Zeit».

Webseite der Autorin

Andrea Scrima «Wie viele Tage», Droschl

Andrea Scrima lebt und arbeitet als bildende Künstlerin in Berlin. Ihr erster Roman erzählt nicht so sehr eine Geschichte, als dass er sich mit Augen-Blicken beschäftigt, mit Wahr-Nehmung, in Pendelbewegungen zwischen Berlin und New York.

Neben Betrachtungen über Geschehnisse um sie herum, in Ateliers, in Wohnungen, in Strassen und Städten, sind es Menschen; Nachbarn, Bekannte und Freunde, ihr Bruder, mit dem sie sich fast symbiotisch verbunden fühlt, ihre Verwandten und ihr Vater, den sie durch Krankheit verliert. «Wie viele Tage» ist eine literarische Auseinandersetzung mit der Erinnerung.

«Mein Bewusstsein läuft diesem Moment hinterher, und dem nächsten, und dem danach; ich nehme mir vor, mir jedes Detail einzuprägen, doch ich kann es nicht, und ich kann nicht in der Gegenwart existieren und im Wissen, dass ich ein Grossteil dessen, was ich um mich herum sehe, vergessen werde.»

Andrea Scrima ist eine Meisterin des Sehens, vermag mit ihrer feinen Wahrnehmung Oberflächen aufzubrechen, dahinter liegende Schichten freizulegen. Genau das Gegenteilige von dem, was in der Malerei sehr oft passiert. Sie kann profansten Momenten Poesie abgewinnen, mit Sprache und Melodie. Und doch scheint Andrea Scrima weit vom Geschehen distanziert zu sein. So nah sie mit ihren Empfindungen dem Geschehen kommt, so weit scheint sie sich vom Wahrgenommenen zu distanzieren, nicht wirklich dazugehörend, nicht mitgenommen werden wollend.

«Wie viele Tage» liest sich nicht leicht, wenn auch nicht verschlüsselt. Wer das als «Roman» verkaufte Buch liest, sucht vergeblich nach einem durchgehenden Handlungsstrang, einer vielleicht verborgenen Geschichte. Ich las das Buch wie lyrische Prosa, eine mäandernde Textspur durch ein Leben, das Empfinden einer Empfindsamen. Keine Nabelschau, aber der Lyrik näher als einer Erzählung.

Andrea Scrima schreibt, wie sie arbeitet, wie sich das Sehen in ihrer Kunst manifestiert. Wie sie ihre Umgebung, ihre Welt zu erfassen versucht, wie sie sich mit ihr vertraut macht. Wie wenig sie dabei von sich selbst gefangen ist! Andrea Scrima muss keine Geschichte loswerden. Sie nimmt mich mit auf eine Reise durch ihre Welten.

Ein Buch über Lebensspuren, Aufbrüche und Einsichten von dem, was bleibt oder sonst ins Vergessen rutscht. Erinnern schafft Ordnung. Andrea Scrima erinnert sich, ordnet, bringt Erinnern in Ordnung, ordnet Erinnerungen neu und fragt sich immer wieder, nach jeder «Neuordnung», ob das, was geworden ist, nun ganz anders ist.

Andrea Scrima, geboren 1960 in New York City, studierte Kunst an der School of Visual Arts in New York und an der Hochschule der Künste in Berlin, wo sie seit 1984 als Autorin und bildende Künstlerin lebt.
Ihre Arbeiten waren in internationalen Museen und Ausstellungen zu sehen.
Sie schreibt Literaturkritiken für «Quarterly Conversation, Music & Literature» und «The Brooklyn Rail».

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau

Michael Krüger «Einmal einfach», Suhrkamp

Lesen Sie Gedichte? Romane wollen gelesen, manche «gefressen» werden. Gedichtbände dürfen liegen bleiben, lange liegen bleiben, begleiten einem auf kleinen Wegstrecken, mischen sich ein, mischen mich manchmal auf. Michael Krügers Gedichte tun genau das Gegenteil von dem, was eine Gratiszeitung morgens im übervollen Zug macht. Sie trösten mich, sie umarmen mich, sie wärmen mich – sie tun mir gut!

«Gedichte sind misstrauisch,
sie behalten für sich, was gesagt werden muss.

Sie gehen durch geschlossene Türen
ins Freie und reden mit den Steinen.
Sie führen uns fort…»

Eine Reise einfach. So wie das Leben selbst. Nie ein Zurück, bloss Richtungsänderungen. Reisen in Deutschland oder weit weg, ans Meer, nach Italien, nach Mazedonien, Griechenland. Reisen in die Nähe, in Parks in München, die Landstriche um die Stadt. Spaziergänge in den Garten, unter den Baum, eine sonnenwarme Wand. Reisen ins Unmittelbare, ganz nah zu allem, was lebt und sich zeigt. Auch eine Reise in sich, den alt gewordenen Mann, der zurückschaut, manchmal mahnt, hofft, oft sinniert und noch so kleine, unscheinbare Begegnungen zu Offenbarungen werden lässt.

Keine Antworten, keine einfachen Einsichten. Vielleicht ist es das, was ich an Gedichten mag. Die klaren Sätze, die eingängigen Bilder, die Düfte und den weiten Himmel – und überall das Wissen, dass hinter jedem und allem noch viel mehr ist. Gedichte sind ein ewiges Versuchen. Und Michael Krüger will mit seiner Lyrik gar nicht mehr.

Einmal einfach

Es ist schön, mit dem Zug
durch Deutschland zu fahren,
immer zu spät.
Du hast es nicht eilig.
Schrebergärten kriechen
um die Städte herum
wie Schnecken.
Am Ende des Lebens
wird dir ein Tag geschenkt,
den darfst du verpassen
am Bahnhofsbuffet
zusammen mit Tauben und Spatzen.

Michael Krüger geht zurück ans Nahe, dort hin, woher er kommt, zum Haus seiner Kindheit, in den Garten seiner Grossmutter. Aber auch weit weg, um herauszufinden, dass sich alles reduziert und doch nicht einfach wird. Er betrachtet im Kleinen das Grosse; den Kohlweissling in Skopje.

Jedes Gedicht ein Geschenk. Jedes für sich ein Geheimnis. Als gäbe jeder Augenblick des Lebens neues Licht auf das, was hängen bleibt.

Michael Krüger wurde am 9. Dezember 1943 in Wittgendorf/Kreis Zeitz geboren. Nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium absolvierte er eine Verlagsbuchhändler- und Buchdruckerlehre. Daneben besuchte er Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät als Gasthörer an der Freien Universität Berlin. In den Jahren von 1962-1965 lebte Michael Krüger als Buchhändler in London. 1966 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker. Zwei Jahre später, 1968, übernahm er die Aufgabe des Verlagslektors im Carl Hanser Verlag, dessen Leitung er im Jahre 1986 übernommen hat. Seit 1981 ist er Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente.
Im Jahr 1972 veröffentlichte Michael Krüger erstmals seine Gedichte, und 1984 debütierte er als Erzähler mit dem Band «Was tun? Eine altmodische Geschichte». Es folgten weitere zahlreiche Erzählbände, Romane, Editionen und Übersetzungen.
Michael Krüger lebt in München.

Sorj Chalandon «Mein fremder Vater», dtv

Émile ist mit der dunkelhäutigen Fadita verheiratet. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn Clément scheinen sie das perfekte Bild einer Familienidylle abzugeben; ein Paar, das sich wirklich liebt und ein Sohn, der in Liebe aufgehoben und geborgen ist. Wenn da nur die Geschichte nicht wäre. Kann man den Schrecken einer Kindheit besiegen? Kann man sich aus den Fesseln von Schuldgefühlen befreien? Kann man wahrhaft vergeben? Kann man all die Schläge und Erniedrigungen verzeihen?

Dass Sorj Chalandon preisgekrönter Journalist ist und mit vielen seiner Romane in der französischen Presse und Preisgerichten für Furore sorgte, wundert mich nach der Lektüre von «Ein fremder Vater» nicht. Lange nicht mehr las ich einen Roman mit derart zunehmender Beklemmung wie diesen übermässig berührenden Roman einer Kindheit. Ich wartete über lange Strecken förmlich  auf die drohenden Katastrophen, die Implosion einer eingeschnürten Kleinfamilie. Sorj Chalandon geht mit seinem Schreiben derart nahe an seine Kindheit, eine üble Kindheitsgeschichte des in den 70er Jahren gross werdenden Émile, dass die Lektüre zuweilen selbst zum Martyrium wird, beinahe unerträglich.

Im Frühling 2011 sitzen der mittlerweile selbst zum Vater  gewordene Émile und seine greise Mutter allein im Krematorium und wohnen der Einäscherung des Vaters und Ehemanns bei. So allein, wie der Verstorbene und sie fast ein Leben lang waren. Unversöhnt, noch immer mit der Angst und dem Schrecken von Jahrzehnten in den Knochen.

«Sie sah nichts, meine Mutter. Nie hatte sie etwas gesehen.»

André Cholans lebt Anfang der Sechzigerjahre mit seiner Familie in Lyon. Er ist arbeitslos, im Höchstmass cholerisch, gewalttätig seiner Familie gegenüber, jähzornig und gefangen in einem wirren Geflecht aus Lügen und Phantastereien, die er dem kleinen Sohn als die Wahrheit verkauft. Er habe Verbindungen zum algerischen Widerstand genauso wie zur CIA, sei einst Fallschirmjäger gewesen, Fussballprofi, Prediger, Sänger, Judolehrer und fallen gelassener Berater von Charles De Gaulle, dem amtierenden französischen Staatspräsidenten, einem Mann, der nicht nur ihn, sondern das algerische Volk verraten habe. Ein Mann, der den Tod verdient habe, das Attentat unterstützt von ihm dem Geheimagenten, dem es unmöglich ist, dass sein Zuhause durch Schnüffler und Gegner ausspioniert werde. Darum bleibt die Wohnung, das Zuhause von Émile für jeden Besuch verschlossen. Nicht einmal Nachbarn grüsst man. Im dunklen Treppenhaus lauscht man und schliesst tagsüber die Fensterläden.

Ein paranoider Vater macht seinen einzigen Sohn zu seinem Verbündeten, täuscht diesem eine Welt vor, die es nicht gibt, gegen die man sich aufzulehnen hat, rebellieren muss. Vater André erfindet eine ganze Reihe von Figuren, Geschichten, Tatsachen und Zusammenhänge, die den kleinen, schmächtigen, asthmatischen Émile gleichermassen beeindrucken, beängstigen und in eine Welt einbetten. Obwohl der Vater ihn misshandelt, schlägt, für Stunden in einen Schrank sperrt und ihn mitten in der Nacht weckt, um ihn kampftauglich zu drillen. Einen Vater will man lieben. Einem Vater will man glauben.

«Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde (…). Mein Vater war meine letzte Wunde. Ich braucht dreiundsechzig Jahre, um dieses Buch zu schreiben. Ich weiss nicht, ob ich weitere schreiben werde» Sorj Chalandon

Ein wahrhaft ver-rückter Vater, der seinen eingeschüchterten Sohn zu seinem wichtigsten Verbündeten macht – mit verheerenden Folgen. Die verquere Welt des Vaters mischt sich mit der seines Sohnes, wird zu einer trüben, undurchsichtigen, giftigen Suppe.
Und die Mutter? Sie hat längst resigniert, sich in ihrem Elend eingerichtet, alles entschuldigend mit dem Satz «Du kennst deinen Vater.» Es reiht sich eine Katastrophe an die andere, Verwundung an Verwundung.

«Meine Mutter ohne Gebrauchsanweisung. Ein Gesicht wie ein weisser Lappen. Augen, Mund, Stirn wie eingefroren.»

«Mein fremder Vater» ist keine Abrechnung. Der Roman macht allen Vätern und Müttern bewusst, was sie mit ihrem Tun und Lassen anrichten können, dass Fehler unweigerlich passieren. Das Schlimmste aber bleibt, wenn Kinder mit den von Müttern und Vätern begangenen Fehlern alleine gelassen werden.
Ein Buch von schmerzlicher Tragik über einen am  des Romans erwachsenen Mann, der seinen eigenen Sohn in die Arme nehmen kann und um die Verantwortung weiss, die in den Liebesbezeugungen seines kleinen Sohnes liegt.

Unbedingt lesen, auch wenn es einem fast das Herz zerreisst.

Sorj Chalandon war Journalist bei der Zeitung «Libération». Seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane «Le petit Bonzi» (2005), «Une promesse» (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und «Mon traître» (2008). Sein vierter Roman «La légende de nos pères» (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. «Die Legende unserer Väter». Der folgende Roman «Retour à Killybegs» (2011; dt. «Rückkehr nach Killybegs», 2013) wurde mit dem Grand Prix du roman de l’Académie francaise 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. Auch der Roman «Le quatrième mur» (2013; dt. «Die vierte Wand», 2015) war für den Prix Goncourt nominiert.

Peter Stamm «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer

Manche Begegnungen sind schicksalshaft. Selbst wenn daraus kein andauerndes Beieinander wird, wenn gemeinsame Zeit längst zerronnen ist. Aber es bleibt das Bild, der Eindruck, unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben.

Man stelle sich vor: Irgendwann begegnet man irgendwo einem Menschen, der sich in kaum etwas von dem unterscheidet, was man einst selbst war. Man erkennt sich in jemandem, fühlt sich von der Zeit, der Vergangenheit eingeholt. Man stelle sich vor, man komme mit diesem überraschenden Gegenüber ins Gespräch, Leben würden sich kreuzen, Gegenwart mit Vergangenheit, um festzustellen, dass sich die eigene Geschichte zu löschen beginnt, während man sich immer tiefer in die Geschichte des Gegenübers verstrickt.

Peter Stamms neuer Roman, nimmt etwas von dem wieder auf, was sein erster Roman „Agnes“ zu erzählen begonnen hatte. In „Agnes“ fordert eine junge Frau ihren Geliebten, einen Schriftsteller auf, ihre Geschichte, ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben, die Geschichte ihrer Liebe. Mehr noch; Geschichte im Erzählen vorwegzunehmen. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ fügt Peter Stamm jenem Drängen aus seinem ersten Roman noch weitere Schichten hinzu.
Christoph lernt die viel jüngere Magdalena kennen, muss ihr ihre Geschichte erzählen, die vor vielen Jahren damit begann, dass er eine Frau kennenlernte, die ihr in fast allem gleiche, die er aber aus den Augen verloren habe. Magdalena wundert sich über einen älteren Mann, der ihr eine Geschichte erzählen will, die sich immer deutlicher mit der gegenwärtigen Geschichte mit ihrem Freund zu decken scheint. Christoph hatte damals, als er Magdalena verlor und mit ihr eine gemeinsame Zukunft, endlich den Stoff für seinen Roman gefunden. Den einzigen, den er je geschrieben hatte und der mit zunehmender Zeit immer mehr zur Ahnung werden sollte. So wie ihm Magdalena entglitt, tat es auch das Schreiben, selbst als er sich mit allem Elan auf die Suche nach Inspiration machte, für Jahre weg aus seinem gewohnten Umfeld zog, sich unsichtbar machte. Um im anderen Leben festzustellen, dass man nicht vorkommt, nicht einmal mehr seine eigenen Spuren, erst recht nicht das Buch, das man einst geschrieben und verkauft hatte, sichtbar bleiben.

In Peter Stamms neuem Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Peter Stamm verrät, wie sehr er sich Sicherheit für sein Schreiben wünscht. Man fragt sich zwar; Glaube ich, was ich lese? Nie aber; Weiss ich, was ich lese? Ein Roman, der das Zeug zur Verunsicherung hat. Ein Roman, der Fragen stellt, die ich für mich schon lange beantwortet zu haben glaubte. Ein Roman, der konzentriert erzählt, nie abschweift, beinahe sachlich erzählt. Peter Stamm kocht nicht Altes auf. Dafür spritzt er mit heissem Wasser!

Foto: Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Nacht ist der Tag» und «Weit über das Land» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen.

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