Michael Krüger «Vorübergehende», Haymon

Ein von Resignation und Abgeklärtheit durchsetzter Mann fortgeschrittenen Alters lässt die Welt im Zug an sich vorbeiziehen. Alles, was er sieht, hört und fühlt, bestärkt ihn im Gefühl, mit den Irrungen und Wirkungen der Welt abgeschlossen zu haben. Er sitzt im Abteil, einer, der alles hinter sich hat. Bis ihm der Zufall in eben diesem Abteil ein schlafendes Mädchen in den Schoss legt, ein Mädchen ohne Geld, ohne Papiere, ohne Geschichte. Jara.

Er wacht langsam auf, merkt, dass jemand neben ihm seinen Kopf an seine Schulter lehnt und schläft. Ausgerechnet im Zug, jenem Ort, an dem man gezwungen ist, Nähe zuzulassen. Ausgerechnet bei ihm, der die Welt wenn möglich auf Distanz hält. Und während er selbst in seinen Träumen der Permapenetration entgegenzuhalten versucht, rutscht der Kopf einer jungen, unbekannten Frau langsam immer tiefer in sein Leben. Das Mädchen wacht auf, als der Schaffner nach den Fahrscheinen fragt und bleibt, als der Mann für das Mädchen zahlt, bleibt, als er aussteigt, bleibt, als er dem Mädchen die Tür zu seiner Wohnung öffnet.

Ein Mädchen, von dem nicht einmal der Name stimmt, das ihm keine Fragen beantwortet, sich gleichermassen distanziert wie in vollkommener Selbstverständlichkeit den Platz einer Tochter einnimmt. Ein Mädchen ohne Geschichte, scheinbar ohne Familie, mit einer Sprache, die, wenn das Mobilphone klingelt und eine unbekannte Welt sie in einer fremden Sprache sprechen lässt, das Mädchen nicht einordnen lässt. 
Jara bleibt, auch als sich die Maschinerie des Sozialstaates einschaltet und er sich erklären muss, warum ein alter Mann mit einer fremden, jungen Frau unter einem Dach in der selben Wohnung lebt. Jara zeichnet, hockt am Boden in ihrem Zimmer, füllt unzählige Blätter mit Bleistiftzeichnungen, ordnet, trennt und fügt zusammen, ein ‹Atlas der verborgenen Welten›, in sich versunken, ekstatisch.

Jara ist der Gegenpol zum fertigen Leben des Erzählers. Ein Mann, der nur noch Unwesentliches hinzufügt, der mit knochentrockenem Kommentar die Welt erklärt, ernüchtert und entgeistert. Ein Mann, der von Vortrag zu Vortrag, von Veranstaltung zu Veranstaltung tingelt und Lebensrezepte verkauft, Losungen für eine zu optimierende Gesellschaft. Einer, der alles hat; Erfolg, Recht und Selbstbestätigung. Ein Leben fest in seinen Fugen verkrallt. Jara ist voller Geheimnisse, uneinnehmbar, rätselhaft. Sie ist da und nicht da, lässt sich nicht führen und schon gar nicht in eine Rolle zwängen. Aus dem Gefühl des Mannes, das an Verliebtsein erinnert, wird ebenso viel Verunsicherung. Jara bringt den alten Mann zum Grübeln. Die Wand aus Vergrämung bröckelt.

„Vorübergehende“ ist die Geschichte eines kalt gewordenen Mondes, der von der Kraft eines heissen Meteoriten erschüttert wird. Kein Märchen einer Läuterung, keine Liebesgeschichte eines in die Jahre Gekommenen. Michael Krüger spielt mit einer Rolle, mit einem Typ Mensch, dem er wahrscheinlich des öfteren im Zug gegenübersitzt. Jener Sorte Mensch, der der Erfolg ein Leben lang recht gegeben hat, die schlussendlich aber doch spurlos von der Bühne abtritt. Er verurteilt nicht, entblösst nicht, lässt den Leser rätseln, wie viel Selbst in jenem Mann steckt, von dem er erzählt.

Michael Krüger auf ein paar Fragen an ihn: «Eigentlich ging es mir darum, einen Menschen/ Mann zu zeigen, der bis an sein Ende seiner erlernten Beschäftigung nachgeht und stirbt. Diese Beschäftigung besteht darin, andere zu motivieren – das hat er gelernt, dafür wird er bezahlt. Aber Optimismus kann man nicht lernen, und also sieht er, dass er irgendwie auf die schiefe Bahn gerät, die direkt in die Melancholie führt: kein Coaching kann ihn davon abhalten. Also ergreift er die erste beste Gelegenheit und nimmt sich eines Mädchens an, das er nicht kennt, dessen Sprache er nicht spricht, er nimmt sie illegalerweise bei sich auf und macht sich de jure sogar damit strafbar. Aber das ist ihm egal, weil er natürlich merkt, dass dieses Wesen von einem anderen Stern durchaus von dieser Welt ist und sein Leben ohne grosse Mühe von Grund auf verändert.»

Foto © Peter Hassiepen

Michael Krüger, geboren 1943 in Wittgendorf/Sachsen-Anhalt, lebt in München und ist zurzeit Präsident der Bayerischen Akademie der Schönen Künste. Er war viele Jahre Verlagsleiter der Carl Hanser Literaturverlage und Herausgeber der «Akzente» sowie der «Edition Akzente». Er ist Mitglied verschiedener Akademien und Autor mehrerer Gedichtbände, Geschichten, Novellen, Romane und Übersetzungen. Für sein schriftstellerisches Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Peter-Huchel-Preis (1986), den Mörike-Preis (2006) und den Joseph-Breitbach-Preis (2010).

Rezension von Michael Krügers Gedichtband «Einmal einfach» (Suhrkamp) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Michael Krüger «Einmal einfach», Suhrkamp

Lesen Sie Gedichte? Romane wollen gelesen, manche «gefressen» werden. Gedichtbände dürfen liegen bleiben, lange liegen bleiben, begleiten einem auf kleinen Wegstrecken, mischen sich ein, mischen mich manchmal auf. Michael Krügers Gedichte tun genau das Gegenteil von dem, was eine Gratiszeitung morgens im übervollen Zug macht. Sie trösten mich, sie umarmen mich, sie wärmen mich – sie tun mir gut!

«Gedichte sind misstrauisch,
sie behalten für sich, was gesagt werden muss.

Sie gehen durch geschlossene Türen
ins Freie und reden mit den Steinen.
Sie führen uns fort…»

Eine Reise einfach. So wie das Leben selbst. Nie ein Zurück, bloss Richtungsänderungen. Reisen in Deutschland oder weit weg, ans Meer, nach Italien, nach Mazedonien, Griechenland. Reisen in die Nähe, in Parks in München, die Landstriche um die Stadt. Spaziergänge in den Garten, unter den Baum, eine sonnenwarme Wand. Reisen ins Unmittelbare, ganz nah zu allem, was lebt und sich zeigt. Auch eine Reise in sich, den alt gewordenen Mann, der zurückschaut, manchmal mahnt, hofft, oft sinniert und noch so kleine, unscheinbare Begegnungen zu Offenbarungen werden lässt.

Keine Antworten, keine einfachen Einsichten. Vielleicht ist es das, was ich an Gedichten mag. Die klaren Sätze, die eingängigen Bilder, die Düfte und den weiten Himmel – und überall das Wissen, dass hinter jedem und allem noch viel mehr ist. Gedichte sind ein ewiges Versuchen. Und Michael Krüger will mit seiner Lyrik gar nicht mehr.

Einmal einfach

Es ist schön, mit dem Zug
durch Deutschland zu fahren,
immer zu spät.
Du hast es nicht eilig.
Schrebergärten kriechen
um die Städte herum
wie Schnecken.
Am Ende des Lebens
wird dir ein Tag geschenkt,
den darfst du verpassen
am Bahnhofsbuffet
zusammen mit Tauben und Spatzen.

Michael Krüger geht zurück ans Nahe, dort hin, woher er kommt, zum Haus seiner Kindheit, in den Garten seiner Grossmutter. Aber auch weit weg, um herauszufinden, dass sich alles reduziert und doch nicht einfach wird. Er betrachtet im Kleinen das Grosse; den Kohlweissling in Skopje.

Jedes Gedicht ein Geschenk. Jedes für sich ein Geheimnis. Als gäbe jeder Augenblick des Lebens neues Licht auf das, was hängen bleibt.

Michael Krüger wurde am 9. Dezember 1943 in Wittgendorf/Kreis Zeitz geboren. Nach dem Abitur an einem Berliner Gymnasium absolvierte er eine Verlagsbuchhändler- und Buchdruckerlehre. Daneben besuchte er Veranstaltungen der Philosophischen Fakultät als Gasthörer an der Freien Universität Berlin. In den Jahren von 1962-1965 lebte Michael Krüger als Buchhändler in London. 1966 begann seine Tätigkeit als Literaturkritiker. Zwei Jahre später, 1968, übernahm er die Aufgabe des Verlagslektors im Carl Hanser Verlag, dessen Leitung er im Jahre 1986 übernommen hat. Seit 1981 ist er Herausgeber der Literaturzeitschrift Akzente.
Im Jahr 1972 veröffentlichte Michael Krüger erstmals seine Gedichte, und 1984 debütierte er als Erzähler mit dem Band «Was tun? Eine altmodische Geschichte». Es folgten weitere zahlreiche Erzählbände, Romane, Editionen und Übersetzungen.
Michael Krüger lebt in München.