Sorj Chalandon «Mein fremder Vater», dtv

Émile ist mit der dunkelhäutigen Fadita verheiratet. Zusammen mit ihrem gemeinsamen Sohn Clément scheinen sie das perfekte Bild einer Familienidylle abzugeben; ein Paar, das sich wirklich liebt und ein Sohn, der in Liebe aufgehoben und geborgen ist. Wenn da nur die Geschichte nicht wäre. Kann man den Schrecken einer Kindheit besiegen? Kann man sich aus den Fesseln von Schuldgefühlen befreien? Kann man wahrhaft vergeben? Kann man all die Schläge und Erniedrigungen verzeihen?

Dass Sorj Chalandon preisgekrönter Journalist ist und mit vielen seiner Romane in der französischen Presse und Preisgerichten für Furore sorgte, wundert mich nach der Lektüre von «Ein fremder Vater» nicht. Lange nicht mehr las ich einen Roman mit derart zunehmender Beklemmung wie diesen übermässig berührenden Roman einer Kindheit. Ich wartete über lange Strecken förmlich  auf die drohenden Katastrophen, die Implosion einer eingeschnürten Kleinfamilie. Sorj Chalandon geht mit seinem Schreiben derart nahe an seine Kindheit, eine üble Kindheitsgeschichte des in den 70er Jahren gross werdenden Émile, dass die Lektüre zuweilen selbst zum Martyrium wird, beinahe unerträglich.

Im Frühling 2011 sitzen der mittlerweile selbst zum Vater  gewordene Émile und seine greise Mutter allein im Krematorium und wohnen der Einäscherung des Vaters und Ehemanns bei. So allein, wie der Verstorbene und sie fast ein Leben lang waren. Unversöhnt, noch immer mit der Angst und dem Schrecken von Jahrzehnten in den Knochen.

«Sie sah nichts, meine Mutter. Nie hatte sie etwas gesehen.»

André Cholans lebt Anfang der Sechzigerjahre mit seiner Familie in Lyon. Er ist arbeitslos, im Höchstmass cholerisch, gewalttätig seiner Familie gegenüber, jähzornig und gefangen in einem wirren Geflecht aus Lügen und Phantastereien, die er dem kleinen Sohn als die Wahrheit verkauft. Er habe Verbindungen zum algerischen Widerstand genauso wie zur CIA, sei einst Fallschirmjäger gewesen, Fussballprofi, Prediger, Sänger, Judolehrer und fallen gelassener Berater von Charles De Gaulle, dem amtierenden französischen Staatspräsidenten, einem Mann, der nicht nur ihn, sondern das algerische Volk verraten habe. Ein Mann, der den Tod verdient habe, das Attentat unterstützt von ihm dem Geheimagenten, dem es unmöglich ist, dass sein Zuhause durch Schnüffler und Gegner ausspioniert werde. Darum bleibt die Wohnung, das Zuhause von Émile für jeden Besuch verschlossen. Nicht einmal Nachbarn grüsst man. Im dunklen Treppenhaus lauscht man und schliesst tagsüber die Fensterläden.

Ein paranoider Vater macht seinen einzigen Sohn zu seinem Verbündeten, täuscht diesem eine Welt vor, die es nicht gibt, gegen die man sich aufzulehnen hat, rebellieren muss. Vater André erfindet eine ganze Reihe von Figuren, Geschichten, Tatsachen und Zusammenhänge, die den kleinen, schmächtigen, asthmatischen Émile gleichermassen beeindrucken, beängstigen und in eine Welt einbetten. Obwohl der Vater ihn misshandelt, schlägt, für Stunden in einen Schrank sperrt und ihn mitten in der Nacht weckt, um ihn kampftauglich zu drillen. Einen Vater will man lieben. Einem Vater will man glauben.

«Jedes meiner Bücher entspricht einer Wunde (…). Mein Vater war meine letzte Wunde. Ich braucht dreiundsechzig Jahre, um dieses Buch zu schreiben. Ich weiss nicht, ob ich weitere schreiben werde» Sorj Chalandon

Ein wahrhaft ver-rückter Vater, der seinen eingeschüchterten Sohn zu seinem wichtigsten Verbündeten macht – mit verheerenden Folgen. Die verquere Welt des Vaters mischt sich mit der seines Sohnes, wird zu einer trüben, undurchsichtigen, giftigen Suppe.
Und die Mutter? Sie hat längst resigniert, sich in ihrem Elend eingerichtet, alles entschuldigend mit dem Satz «Du kennst deinen Vater.» Es reiht sich eine Katastrophe an die andere, Verwundung an Verwundung.

«Meine Mutter ohne Gebrauchsanweisung. Ein Gesicht wie ein weisser Lappen. Augen, Mund, Stirn wie eingefroren.»

«Mein fremder Vater» ist keine Abrechnung. Der Roman macht allen Vätern und Müttern bewusst, was sie mit ihrem Tun und Lassen anrichten können, dass Fehler unweigerlich passieren. Das Schlimmste aber bleibt, wenn Kinder mit den von Müttern und Vätern begangenen Fehlern alleine gelassen werden.
Ein Buch von schmerzlicher Tragik über einen am  des Romans erwachsenen Mann, der seinen eigenen Sohn in die Arme nehmen kann und um die Verantwortung weiss, die in den Liebesbezeugungen seines kleinen Sohnes liegt.

Unbedingt lesen, auch wenn es einem fast das Herz zerreisst.

Sorj Chalandon war Journalist bei der Zeitung «Libération». Seine Reportagen über Nordirland und den Prozess gegen Klaus Barbie wurden mit dem Albert-Londres-Preis ausgezeichnet. Er veröffentlichte die Romane «Le petit Bonzi» (2005), «Une promesse» (2006, ausgezeichnet mit dem Prix Médicis) und «Mon traître» (2008). Sein vierter Roman «La légende de nos pères» (2009) erschien 2012 als erstes Buch in deutscher Übersetzung u.d.T. «Die Legende unserer Väter». Der folgende Roman «Retour à Killybegs» (2011; dt. «Rückkehr nach Killybegs», 2013) wurde mit dem Grand Prix du roman de l’Académie francaise 2011 ausgezeichnet und war für den Prix Goncourt 2011 nominiert. Auch der Roman «Le quatrième mur» (2013; dt. «Die vierte Wand», 2015) war für den Prix Goncourt nominiert.