Nina Jäckle «Setzkastentexte», Plattform Gegenzauber

1
Man geht das Zimmer ab, man geht es mit
den Augen ab, im Bett liegend, und es ist
sehr früh am Morgen, und man sucht nach
ersten Schatten, nach ersten Umrissen,
nach ersten Farben. Man wartet auf
Geräusche, auf die Rufe der Kinder
vielleicht oder auf den Schlag der
Glocken. Man wartet auf Stimmen im
Treppenhaus, es ist noch früh, denkt man,
einer ist zu hören, der sich räuspert, um
die ersten Worte zu sprechen an diesem
Tag. Man verlässt das Bett und man kennt
die Ecken des Zimmers, die Kanten der
Möbel, man findet sich zurecht in dem
Halbdunkel, man findet in das Bad, man
findet sich zurecht, auch ohne Licht, auch
ohne Blick in den Spiegel.

2
Oft sind die Alten auf dem Platz. Sie
sitzen auf den Bänken und beobachten sich
gegenseitig. Manchmal flucht eine,
manchmal erzählt einer, manchmal lacht
eine, und obwohl dies miteinander
geschieht, gibt es keinen Zusammenhang
zwischen ihnen. Man kann sich nicht
vorstellen, dass sie es gut miteinander
meinen, man weiß nicht, weshalb man es
sich nicht vorstellen kann. Vielleicht, so
denkt man, weil sich die Menschen ähnlich
werden im Alter, weil sie sich gegenseitig
zu sehr an sich selbst erinnern, ist
Wohlwollen nicht möglich. Sie bewohnen
dasselbe Haus, sie gehen durch dieselben
Gänge, sie essen gleichzeitig, sie leben
in gleichen Zimmern, mit jeweils einem
Fenster. Manchmal sitzt ein alter Mann auf
der Bank und sieht zu, wie ein anderer
alter Mann über den Platz geht. Man kann
beobachten, wie sich der eine über den
anderen wundert, sich ärgert oder
ängstigt. Sie haben eine gemeinsame
Geschwindigkeit, in der sie gehen, in der
sie sprechen. Sie verstehen die Welt
außerhalb des Hauses auf eine gemeinsame
Weise. Man kann sich jedoch nicht
vorstellen, dass sie darüber sprechen, wie
sie nun und im Vergleich zu früher in
einer anderen Geschwindigkeit leben, die
sich nicht mehr an die Geschwindigkeit
außerhalb des Hauses anpassen lässt. Kaum
eine der alten Damen verlässt ohne
Handtasche das Haus. Die Handtaschen, so
denkt man es sich, sind fast leer. Ein
zusammengelegtes Stofftaschentuch, eine
Geldbörse, ein Kamm. Abends sehen die
alten Damen aus den Fenstern ihrer Zimmer.
Das tun sie nicht, um nach draußen zu
sehen, das tun sie, um sich zu
vergewissern, im Haus zu sein.

3
In einem Wagen sieht man ein Kind liegen.
Das Kind sieht seine Hand, es sieht seinen
Fuß, es sieht seine Mutter an. Es lacht,
sein Blick erstarrt, es sieht in die
Ferne. Man zählt einige der Dinge auf, die
das Kind lernen wird. Das gezielte
Einsetzen der Hände, das Sehen von Farben,
das Halten des Kopfes, das Erinnern.

4
In der Wohnung ist es still, nichts als
die Fliege ist zu hören. Es ist still,
weil sich niemand bewegt, weil niemand
sonst in den Räumen ist und etwas sagt.
Man kann sich nicht vorstellen, die Fliege
zu erschlagen, sie ist zu groß, als dass
man sie einfach erschlagen könnte. Man
lässt die Fliege also gegen die
Fensterscheibe fliegen. Immer wieder hört
man den Aufprall, man öffnet das Fenster
nicht. Diese Geräusche, der Flügelschlag,
der Aufprall, das Summen in der Ecke des
Fensters, all diese von der Fliege
ausgehenden Geräusche sind in dieser
Stille der einzige Beweis dafür, dass
wirklich Zeit vergeht.

5
Nachmittags spielen die Kinder im Hof. Sie
rufen sich Namen zu, sie jubeln und
kreischen, der Hof vervielfacht ihre Rufe,
ihren Streit, ihr Lachen. Auf dem Boden
des Hofes sind Kreidezeichnungen zu sehen.
Autos, Monster, Bäume oder aber Helden,
die man nicht kennt. Nachts ist der Hof
nichts weiter als der Abstand zwischen den
sich gegenüberstehenden Häusern.

6
Man geht das Zimmer ab, man geht es mit
den Augen ab, im Bett liegend und es ist
spät am Abend und man hört Schritte im
Treppenhaus, eine Begrüßung hört man, kurz
bevor die Tür zu einer anderen Wohnung ins
Schloss fällt. Man geht das Zimmer ab, man
geht es mit den Augen ab und man sucht
nach letzten Schatten, nach letzten
Umrissen, nach letzten Farben des Tages.

(Zeichnung Renata Jäckle)

Nina Jäckle 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris, wollte eigentlich Übersetzerin werden, beschloss aber mit 25 Jahren lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: «Es gibt solche», «Noll», «Gleich nebenan» und «Sevilla». Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung «Nai oder was wie so ist», 2011 ihr Roman «Zielinski» und 2014 der Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen, beispielsweise den Karlsruher Hörspielpreis, das große Stipendium des Landes Baden-Württemberg, das Heinrich-Heine-Stipendium, das Arbeitsstipendium des Deutschen Literaturfonds. Sie erhielt im Dezember 2014 den Tukan-Preis der Stadt München, 2015 den Italo-Svevo-Preis für ihr Gesamtwerk und den Evangelischen Buchpreis für ihren Roman «Der lange Atem». Nina Jäckle war Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

Rezension von «Stillhalten» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Warten» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Der lange Atem» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Michael Schroeder

Simone Regina Adams «Flugfedern», Klöpfer & Meyer

Der zwanzigjährige Thibaut wird auf dem Nachhauseweg von einem Sommerfest Zeuge einer Vergewaltigung. Es gelingt ihm zwar, den Peiniger in die Flucht zu schlagen, nicht aber die Frau rechtzeitig vor der Katastrophe zu schützen. Er nimmt sie mit nach Hause zu Mème, seiner aus Frankreich stammenden Grossmutter, die ihm die ganze Familie ist. Thibaut tut alles, um der mehrfach verwundeten Sophie ein Nest zu geben, verliebt sich in die junge Frau und droht an dieser Liebe zu zerbrechen.

Das Nashornvogelweibchen reisst sich in seiner Bruthöhle die Flugfedern aus, um ihr Nest auszupolstern. Flugfedern, die sie in der Brutzeit nicht braucht, weil das Männchen unermüdlich Futter und Wasser bringt, bis die Jungen flügge sind.

Während die junge Frau in seinem Bett schläft und er auf der Couch, seine Grossmutter ihr und ihnen alle Zeit lässt, in der Hoffnung, dass ihrem Enkel das gegeben wird, was ihr einst genommen wurde, wächst Nähe. Thibaut erfährt Bruchstückhaftes aus Sophies Leben. Er glaubt, dass aus den kleinen Zeichen der Zuneigung Liebe wird, dass sich Wunden schliessen können, dass Sophie im Nest bleibt, das Thibaut mit seinen Flugfedern ausstaffiert.

Aber Sophie lässt sich nicht halten, ist wie eine Katze, die sich nicht streicheln und nicht einschliessen lässt. Thibaut erfährt und erlebt, dass Sophie alles verloren hat; ein Zuhause, das Vertrauen, Liebe und die Gewissheit, dass es Alternativen gibt. Nicht erst mit dem schweren Mann auf ihr am Waldrand.

Aber auch Thibaut selbst ist einer, der Haken schlägt, nicht zuhause bei seiner Grossmutter, die ihm alles bedeutet, aber in Schule und Ausbildung. Er beginnt mit Sophie zu hoffen und ich als Leser mit ihm, dass ihm gelingt, was sich unabwendbar der Hoffnung entgegenstellt. Sophie klettert immer wieder an die Ränder ihres Nests – und fällt, von ihren Flugfedern beraubt. 

Sophie verschwindet, Thibaut hofft. In jenem Moment, in dem Sophie erstmals in das feste Gefüge zwischen Grossmutter und Enkel, zwischen Mème und Thibaut, diese Schicksalsgemeinschaft eingreifen will, scheitert sie, wird zurechtgewiesen, was sie nicht erträgt und fliehen lässt.

Bis Jahre später, Thibaut ist inzwischen verheiratet, Vater einer kleinen Tochter und Psychologe in einer Klinik, ein Brief eintrifft und Sophie ihn um ein Wiedersehen bittet. Er, der sich nach dem Verschwinden Sophies mit Mühe ein neues Nest schuf, ein Nest, in dem sich alles ineinander zu fügen schien, wird durch ein paar Zeilen und eine Bitte aus dem Gleichgewicht geworfen, an den Rand seines Nests gedrängt. Er macht sich auf den Weg im Wissen darum, dass er Gefahr läuft, auch sich selbst zu verlieren.

„Flugfedern“ ist ein ungeheuer zärtliches Buch, das standhaft auf dem schmalen Grat zwischen Kitsch, Trivialität und einem Übermass an Abgründen bleibt. Es erzählt von den kleinen Gesten, die mit Grösse geschildert werden. Von dürstendem Leben und nagenden Zweifeln. Ein Buch, das ich schon für die Tiefe einzelner Sätze liebe, dass Fragen stellt, die letztlich nie zu beantworten sind. Kindliche Fragen nach dem Warum und Woher. „Flugfedern“ überzeugt, weil das Gefüge zwischen Thibaut, seiner Grossmutter Mème, seiner Frau Helene und der grossen, abgetauchten Liebe Sophie nie plakativ, nie grell, nie durchsichtig, aber immer durchscheinend, geheimnisvoll und behutsam erzählt bleibt. Kann man sich ein Bild eines Lebens, seines Lebens machen? Wo beginnt Unglück, wo das Glück? Ist das Leben ein unsichtbarer Faden, dem man folgt, ohne es zu wissen?

„Liebe ist kein Gefühl. Liebe ist eine Entscheidung.“

Mein Interview mit Simone Regina Adams:

Selbst wenn man jemanden liebt, selbst dann, wenn man lange Zeit mit dieser Person verbringt, deckt sich das, was passiert nur selten mit dem, was man will. Nichts ist so unvorhersehbar wie Beziehung, erst recht Liebe. Wir fühlen uns nahe, bleiben aber trotzdem ein Leben lang, eine Liebe lang aussen vor. Das gilt für Mème, die Grossmutter ihres Protagonisten ebenso wie für ihren Enkel Thibaut, seine Frau Helene und Thibauts erste grosse Liebe Sophie. Ist „Flugfedern“ ein Buch über ungestillte Sehnsucht?
Ja, es ist auch die Geschichte ungestillter Sehnsucht, die natürlich vor allem Thibaut ein Leben lang antreibt, wie Sie ganz richtig bemerken. Es geht aber auch um das Bild, das wir uns vom anderen machen – und darum, was Max Frisch in seinen Tagebüchern so wunderbar formuliert hat, nämlich dass wir «gerade von dem Menschen, den wir lieben, am mindesten aussagen können, wie er sei.“ An anderer Stelle schreibt er: «Das ist das Erregende, das Abenteuerliche, das eigentlich Spannende, dass wir mit den Menschen, die wir lieben, nicht fertigwerden: weil wir sie lieben; solang wir sie lieben.“ So ergeht es auch Thibaut, er wird mit Sophie nicht fertig, weil er sie gerne begreifen würde und es nicht kann. Das Bild, das er sich von ihr macht, ist nie hinreichend. 

So gross die Gefühle, so gross die Liebe, so gross die Angst eine solche wieder zu verlieren. Thibaut leidet schon als Kind unter „verlorener Liebe“, daran, dass ihn die Mutter doppelt zurückliess, dass er mit seiner Grossmutter aufwuchs und zusammenlebte, die mehr als ein halbes Leben unter einer verlorenen Liebe litt. Er leidet mit der verwundeten Sophie und später an sich selbst, weil er ahnt, dass sogar seine Familie auf dem Spiel steht. Ist Liebe nur dann Liebe, solange man leidet oder zumindest das Leiden fürchtet – Leidenschaft?
Ein Leitthema der Novelle ist auch die Frage „Was ist Liebe?“. Thibauts Freund und Kollege Walther beantwortet diese Frage ja einmal sehr schlicht: „Liebe ist kein Gefühl, sondern eine Entscheidung.“ Das klingt nun wenig romantisch oder leidenschaftlich, ich denke aber, er meint, dass zur Liebe die bewusste Hinwendung zum anderen gehört, die Bereitschaft, wie Frisch sagt, auf die immer neuen Verwandlungen des anderen einzugehen, sich auf «das Geheimnis, das erregende Rätsel, das der Mensch ja immerhin ist“, einzulassen. Während es in der Leidenschaft wohl oft darum geht, die eigene Leere, den eigenen Mangel zu füllen. Vielleicht ist das auch bei Thibaut so, der schon als Kind einen großen Mangel und große Sehnsucht erlebt hat – aber das mag ich gar nicht deuten, ich bin ja nicht seine Therapeutin, sondern hier nur Autorin. Jedenfalls führt die Liebe bei ihm zu einer geradezu fatalen Opferbereitschaft, mit der er Sophie in ihrem gemeinsamen Nest zu halten versucht, das ihr jedoch bald zu eng wird.

Sie schildern die Geschehnisse aus der Sicht eines Mannes und doch nicht in der Ich-Perspektive. Die Position des Mannes, der nicht wirklich an das Wesen seiner grossen Liebe herankommt, der an ihr zu scheitern droht, die ein Mysterium bleibt. Diese Erzählposition scheint viel wichtiger, als das, was mit Sophie, dem „Gegenüber“ geschah und geschieht. Sie arbeiteten viele Jahre als Psychotherapeutin. Wie weit kann man erklären? Wie weit soll man erklären?
Es stimmt, es geht tatsächlich nur vordergründig um Sophies dramatische Geschichte und um ihre Vergewaltigung. Dieses Geschehen rückt im Verlauf der Geschichte in den Hintergrund, die Tat wird nie aufgeklärt. Es war mir wichtig, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass sich nicht alles im Leben auflöst und klärt. Als Therapeutin habe ich natürlich einen anderen Ansatz, Therapie soll Hilfe bieten, Heilung ermöglichen, doch als Autorin interessieren mich vor allem Fragen, nicht die Antworten. Da denke ich an Milan Kundera, der gesagt hat: „Grundlage eines Romans ist eine Fragestellung, nicht eine Feststellung.“ Diese Geschichte stellt viele Fragen: Kann ein Mensch den anderen retten? Und wenn Thibaut es versucht, tut er es für Sophie? Aus Liebe? Oder um seinem eigenen Leben ein Ziel, einen Sinn zu geben? Und wie lebt ein Paar, das auf die harmlose Partyfrage „Wie habt ihr euch eigentlich kennengelernt?“ nicht ebenso harmlos antworten kann? 

Der weibliche Nashornvogel rupft sich selbst die Flugfedern zur Nestpolsterung aus. Er braucht diese während der Brut nicht, weil das Männchen unermüdlich Nahrung bringt. Erziehung im Elternhaus oder in der Schule bedeutet oft, dass Flugfedern ausgerissen werden. Der Mensch scheint nicht geschaffen, um sich zurückzunehmen. Wo sind die Grenzen zwischen Verstümmelung und Selbstbegrenzung?
Dieses Bild des Nashornvogel-Weibchens ist ja eines, das Thibaut gewählt hat, es ist eine Metapher, die für ihn bedeutsam ist, die für Sophie aber schon bald nicht mehr stimmt. Sophie hat Gewalt erlitten, sie ist aber auch eine Frau, die Thibaut durch ihr Verhalten und ihre Affären immer wieder verletzt. Eigentlich begrenzen sich beide gegenseitig. Wie sehr das klassische Familienmodell, das diese Metapher ja auch beschreibt – der Mann ist für das Einkommen und die Frau für die Brutpflege zuständig – wie sehr das heute noch gelebt wird, mögen andere beurteilen. Ich kenne tatsächlich einige Frauen, die sich selbst innerhalb einer Beziehung sehr begrenzen, und wenn sie dann alleine leben, werden die gleichen Frauen unerwartet selbständig und bekommen, wie Sophie, „Flugfedern“. Sie kann ihr Leben erst in die Hand nehmen, als Thibaut aufhört, für sie zu sorgen, als er sich endgültig von ihr trennt. Da endet auch ihre Selbstbegrenzung. 

Thibaut ist nicht unbedingt ein männlicher Archetyp, weder in der Literatur noch in der „Realität“. Wie weit zeichnen Sie hier ein Idealbild an Geduld, Rücksicht, Zartheit und Verantwortungsgefühl? Das männliche Gehabe in Politik und Gesellschaft scheint sich kaum an diesen Tugenden zu messen. Liegt da Sehnsucht?
Natürlich sind das Werte, nach denen wir uns gerade in der heutigen Zeit zu Recht sehnen. Aber es ist eben auch ein Ideal, Thibaut hat nicht nur von Sophie, sondern auch von sich selbst ein Bild erschaffen, das Bild des engagierten Therapeuten, des Helfers, und er spürt, dass er sich selbst mit der Zeit darin verloren hat. Deshalb ist Walther in seiner herzlichen Ruppigkeit so wichtig für ihn, und deshalb geht es ihm bei der erneuten Begegnung mit Sophie auch um eine Begegnung mit sich selbst. Er ist, als er Sophie zum ersten Mal begegnet, ja noch furchtbar jung. Deshalb heißt es gegen Ende der Novelle:
«Er sah ihn so deutlich vor sich, diesen jungen Mann, der er damals gewesen war, und für den Sophie die Welt bedeutet hatte. Im Halbschlaf sah er ihn durchs Zimmer gehen, war versucht, ihn an der Schulter zu fassen, um ihm noch einmal ins Gesicht zu sehen, bevor er verschwand.»

© Margrit Müller

Simone Regina Adams, 1967 im Saarland geboren, lebt in Freiburg im Breisgau. Studium der Literaturwissenschaft und Psychologie, seit 1995 Psychotherapeutin mit eigener Praxis. Sie war mehrfach Stipendiatin des Förderkreises deutscher Schriftsteller in Baden-Württemberg (2006-2013), Stipendiatin des Stuttgarter Schriftstellerhauses (2014) sowie Stipendiatin in Friedrichskoog an der Nordsee (2016). Ihr Roman «Die Halbruhigen» wurde 2011 mit dem Werner-Bräunig-Preis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Joachim Zelter „Im Feld“, Klöpfer & Meyer

Joachim Zeiters neuer Roman «Im Feld» trägt den Untertitel «Roman einer Obsession». Obsession ist mehr als Leidenschaft. Frank Staiger fährt in seiner Freizeit Rad. Durchaus mit Leidenschaft. Zusammen mit anderen, im Peloton aber über sich hinauswachsend, mit dem Tunnelblick nach vorn. Ein Roman wie ein Tauchgang in die Untiefen der menschlichen Seele. Dorthin, wo die Sicht begrenzt ist, das Gegenüber zum Umriss wird. Ein Buch, das vielleicht nur versteht, wer einen Teil dieser Obsession mit sich trägt.

Franz Staiger ist mit seiner Frau nach Freiburg im Breisgau gezogen, näher an die Berge. Um die Gegend mit dem Rad zu erobern, schliesst er sich am Radsporttreff unter dem Heideggerdenkmal einer Radsportgruppe an, hält sich anfangs noch diskret im Hintergrund, fährt im hinteren Teil mit, lauscht in Bummelphasen den Gesprächen seiner Mitfahrenden. Bis Landauer dazustösst, die Legende. Er, dem alles zuzutrauen ist, er, der alles in sich birgt. Aus der Tour wird Tortour. Schweiss fliesst in Strömen. Und nichts, fast nichts, nicht einmal die totale Erschöpfung bremst jene in Landauers Gruppe, diesem Peloton, der über alle Grenzen des Möglichen hinausfährt.

Wer jenen Zug an sich selbst nicht kennt, jene Ergebenheit in der Gruppe, jene totale Verausgabung, die ohne Gruppe unmöglich wäre, jene absolute Leistungsbereitschaft, bei der es nur darum geht, gegen sich selbst zu siegen, wird dieses Buch nur schwer verstehen. Joachim Zelter will aber mehr als nur eine Radfahrt in die Tiefen der menschlichen Seele beschreiben. „Im Feld“ ist Metapher für ein Gesellschaft im Overdrive, über der anaeroben Schwelle. Keine Verteufelung, keine Anklage, denn der Autor kennt aus eigener Erfahrung den Lockruf jenes Zustandes, wenn der Körper weit über sich hinauswächst. Ein Zustand, der in kaum einem andern Moment besser zu er-fahren ist, als in einem Peloton (von franz.: pelote = Knäuel, im Radsport das geschlossene Hauptfeld der Radrennfahrer).

Frank Staiger «leidet» unter «Cyclomanie», Radsportbesessenheit. So wie andere der Spielsucht, irgendeiner Sucht verfallen sind, ist es beim ihm die Lust, auf dem Fahrrad die Grenzen seiner selbst auszuloten. Erst recht in einem Rudel, einer Radsportgruppe. Ihr Roman ist Sinnbild für vieles, manch einer Dynamik, die nur im Rudel funktioniert. Wie «weit» dachten Sie beim Schreiben Ihres Romans daran oder war es schlicht die Lust, eigene Erfahrungen, diese besondere Form des Eintauchens zu beschreiben? Welche Motivation stand ganz am Anfang Ihres Schreibens?

In vielen Rad(sport)romanen steht das Rennen im Mittelpunkt. Beispielhaft hierfür steht Tim Krabbés sehr lesenswerter Roman «Das Rennen». Dem wollte ich nicht nacheifern. Mich interessierte von Anfang an die Idee des Pelotons als Inbegriff einer Gruppe: Welche Dynamik, welche Zwänge und welche Sogwirkungen sich dabei auftun können. Auch: Wie man ohne Stacheldraht und Schießbefehl einen Einzelnen (oder viele Einzelne) in einer Gruppe halten kann. Dem wollte ich in meinem Roman nachgehen, das Radfahren als Parabel und gesellschaftliche Metapher sowie als eine eigenständige Wirklichkeitsordnung. Eigene Er-fahrungen spielen hier durchaus eine Rolle. Seit Jahren fahre ich in einem Radverein und kenne die vielschichtigen Prozesse von Gruppenfahrten aus eigenem Erleben (oder genauer: Er-fahren). Als ich die ersten Male mit dem Verein mitfuhr, bekam ich plötzlich ein Gefühl dafür, wie allein man im sonstigen Leben eigentlich steht, zumal im Leben eines Schriftstellers, aber nicht nur dort. Das Peloton war eine schlagartige Gegenwelt zu der üblichen Einsamkeit. In modernen Gesellschaften leben Individuen ziemlich alleine. Sie sind auf sich selbst zurückgeworfen, sich und anderen fremd in einer Welt der Vereinzelung. „From Tribal Brotherhood to Universal Otherhood“ ist der Titel eines Essays, der diesen Vorgang der Moderne ziemlich gut auf den Punkt bringt. Mein Roman erzählt nun die atavistische Gegenbewegung eines solchen Vorgangs: „From Universal Otherhood to Tribal Brotherhood.“ Ich räume ein, dass ein solcher Vorgang durchaus auch problematisch und zwiespältig ist.

Frank Staiger ist umgezogen. Vom gänzlich flachen Norden in den gebirgigen Süden Deutschlands, von Göttingen nach Freiburg im Breisgau. Früher war Staigers Frau Susan noch mitgefahren. Früher. Aber für diese eine Tour an Christi Himmelfahrt, dieses Himmelfahrskommando, bleibt Susan zuhause. In Ihrem Roman, dessen Fokus fast ganz auf den Strampelmarathon auf dem Fahrrad liegt, spielt Susan kaum eine Rolle. Ist Besessenheit in dieser Form ein ausschliesslich männliches Phänomen, diese Lust, sich zu beweisen, alles aus sich herauszupressen, den absoluten Herrn über den inneren Schweinehund zu demonstrieren?

Ich glaube nicht, dass diese Besessenheit eine männliche Domäne ist. Ein gutes Drittel der Mitfahrenden in Radvereinen sind (zumindest nach meiner Erfahrung) Frauen. Sie fahren mit derselben Ergebenheit wie Männer, vor allem aber: Sie sind die besseren Radfahrenden, sind technisch besser, haben einen runderen Tritt, teilen sich ihre Kräfte klüger ein. Bei schwierigen und langen Ausfahrten halte ich mich mit Vorliebe in der Nähe von Frauen auf. Sie kommen die richtig harten Alpenpässe besser hinauf als viele Männer, die überdrehen, zu impulsiv sind und ihr Pulver zu früh verschießen. In meinem Roman fahren bis ganz zum Schluss einige Frauen mit. Der Punkt ist nicht eine Geschlechterdifferenz. Vielmehr ist der Radsport in meinem Roman (und nicht nur dort) eine Art der Kompensation für das Scheitern: Sei es nun das Scheitern im Beruf oder das Scheitern einer Beziehung.

Fahrradfahren als Form des Fliegens, des Abhebens. In der Begeisterung des Protagonisten fliege ich als Leser mit bis tief ins Leiden, kann mich sehr gut hineinversetzen, weil ich diesen Moment kenne. Ist das ein Gegensatz zum Schreiben? Oder gibt es beim Schreiben genauso diesen Rausch, bei dem man über sich hinauswächst, sich selbst vergisst? Wenn auch kaum je im Rudel? Oder ist es genau dieses Rudel, die Formation, der Peloton, der den Rauschzustand noch multipliziert?

Dies ist der entscheidende Punkt: Das Abheben hinein in das Leiden, und in

die 3. Auflage!

welchem Verhältnis dieser Vorgang zum Schreiben steht. Beides entspricht sich, steht in Beziehung zueinander. Das Schreiben ist (jedenfalls für mich) ein Abheben, eine wunderbare Schwerelosigkeit, aber auch ein Taumeln, eine gefährliche Fallhöhe. In meinem Roman versuchte ich verschiedene Bedeutungsebenen zu entfalten. Die wichtigste für mich ist: Es ist auch ein Künstlerroman. Der eigentliche Held ist der unverstandene (Rad)Künstler Landauer, der eine Ausfahrt wie ein Kunstwerk, wie eine Sinfonie inszeniert, in aller Konsequenz und Radikalität, der darin aber eigentlich von niemandem verstanden wird. „Herr Beethoven, bitte in die Nachschulung“, heißt es ganz zum Schluss. Welcher Autor oder Künstler kennt dieses Unverstanensein nicht.

Obwohl sich Staiger an diesem Donnerstag unter dem Denkmal Heideggers für die mittlere der drei Leistungsgruppen entschliesst, gerät er an Landauer, eine Legende. Einen, dem es ganz offensichtlich gelingt, mehr als das Letzte aus seinem Gefolge herauszupressen. Diese Landauer gibt es überall, wo sich Begeisterung mit Fanatismus paart, Gruppendynamik mit über“staiger“tem Ehrgeiz. „Im Feld“ beschreibt jene Lebenssituation, in der man völlig kanalisiert und fokussiert selbst Körpersignale überhört und Vernunft ausschalten kann. Das Bild einer Gesellschaft, die die Selbstkontrolle verliert?

Ich bin schon zusammen mit Ärzten in einer Gruppe gefahren, die selbst am kleinsten Berg über ihre Grenzen gegangen sind, gegen jede medizinische Vernunft, nur um nicht abreißen zu lassen. Vielleicht ist dies ein Kontrollverlust, ein individueller und gesellschaftlicher. Nietzsche würde sagen: Man darf den Menschen nicht beschämen, und er will sich auch nicht beschämen lassen. Deshalb gehen die meisten Fahrer in einem Peloton ans Limit, und darüber hinaus.

Vor vielen Jahren lief ich etliche Marathons. Einmal stand nach der Ankunft im Ziel in einem Duschraum mit vielen anderen verschwitzten Männern, die kurz vor oder nach mir über die Ziellinie gelaufen waren. Dort unter den Duschen waren es nicht Stolz und Zufriedenheit, Glück und Befriedigung, die lautes Argumentieren und Lamentieren im Dampf der Duschen provozierten. Es war lautes Schimpfen; übers Wetter, die Streckenführung, die Minuten und Sekunden, die man liegen gelassen hatte, den Veranstalter, den Trottel vor und hinter einem. Freizeit als Quadratur der sonst schon bis an die Grenzen ausgereizten Leistungsgesellschaft? Wird Müssiggang irgendwann wieder avantgardistisch?

Müßiggang ist eine Kunst. «Lob des Müssiggangs» ist das Motto und ein Buchtitel des englischen Philosophen Bertrand Russel. Oder in Oscar Wildes Worten: „It is awfully hard work doing nothing.” Das ist keine Koketterie, sondern eine Wahrheit. Wer kann das schon: einfach Nichts zu tun. Wobei gerade der Radsport durchaus eine Form von kontemplativen Nichts sein kann. Eine ständige Bewegung, die Kreisform (Cyclomanie), die ewige Wiederkehr des Gleichen als hochenergetisches Nichts. Oder als eine Variante des Sisyphos im Sinne von Albert Camus. Wir müssen uns Sisyphos als glücklichen Radfahrer vorstellen. Soweit so gut. Doch alles steht und fällt mit der Leistungsfähigkeit jedes einzelnen Radfahrers. Für einen starken Fahrer mag eine Ausfahrt ein Vergnügen sein, eine Kontemplation, ein meditatives Loslassen; für einen Schwächeren ist es sehr schnell die Hölle. Genau wie in unserer Leistungsgesellschaft. Für manche ist es wunderbar, für andere ein Grauen. Eigentlich noch schlimmer als in einem Peloton. Der Roman versteht sich deshalb auch als einen Beistand für die Schwächeren. Ich bin einer von ihnen – trotz allen Radfahrens.

Joachim Zelter wurde in Freiburg im Breisgau geboren. Von 1990 bis 1997 arbeitete er als Dozent für englische und deutsche Literatur an den Universitäten Tübingen und Yale. Seit 1997 ist er freier Schriftsteller, Autor von Romanen, Theaterstücken und Hörspielen. Seine Romane wurden in mehrere Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Mit dem Roman „Der Ministerpräsident“ war er 2010 für den Deutschen Buchpreis nominiert. 2017 war er Hausacher Stadtschreiber (Gisela-Scherer-Stipendium).

Webauftritt des Autors

Titelfoto: Sandra Kottonau

Literatur grenzenlos!

Das alljährlich stattfindende Literaturfestival „Erzählzeit ohne Grenzen“ ist einmalig. Zusammengerechnet ist die Besucherzahl imposant, die Liste der Autorinnen und Autoren mehr als beachtlich, die Veranstaltungsorte von abenteuerlich bis beeindruckend und meine Not als Besucher jedes Jahr die gleiche.

Man müsste in den Tagen vom 7. – 15. April mehrere Leben zur Verfügung haben, um all jenen Schreibenden zu lauschen, auf die man doch eigentlich schon lange wartet. Diesmal waren es drei Schriftstellerinnen und ein Schriftsteller, deren Bücher ich ihnen ans Herz legen möchte.

„Keyserlings Geheimnis“ von Klaus Modick, Kiepenheuer und Witsch, 235 Seiten
Klaus Modick, Autor von mehr als 20 Romanen, interessierte sich mit der Lektüre der Werke Eduard von Keyserlings (1855 – 1918, Schriftsteller und Dramatiker des Impressionismus) immer mehr für dessen Biografie. Ein Leben allerdings, dass viele weisse Flecken oder schwarze Löcher aufweist, weil der Nachlass auf Keyserlings Wunsch vernichtet wurde. Eine Tatsache allerdings, die die Neugier und Fantasie Klaus Modicks nur noch mehr anstachelte. Was waren die Gründe, warum ein Nachlass, fast alle Spuren, Briefe und Manuskripte eines Schriftstellers vernichtet werden mussten? Warum musste Eduard von Keyserling fluchtartig seine Universität und die Stadt Dorbat (heute Tartu) verlassen und nach Wien fliehen? Klaus Modick spinnt mit viel Einfühlung einen mitreissenden Roman, der in der Künsterboheme um 1900 spielt, Keyserlings Schwabinger Freunde; den Dramatiker Halbe, den Maler Lovis Corinth oder den Schriftsteller und Schauspieler Frank Wedekind. Absolut überzeugend aber ist Klaus Modicks feinsinnige Sprache, der Ton, den er beim Erzählen anstimmt und der perfekt zum Lebensgefühl und zur Zeit damals passt. Für all jene die perfekte Lektüre, die es mögen, wenn mit dem Lesen Zeitverständnis geweckt wird.

“Jahre danach“ von Angelika Klüssendorf, Kiepenheuer und Witsch, 156 Seiten
Nach „Mädchen“ und „April“ ist „Jahre danach“ der Schluss einer Trilogie. Die Geschichte von April, von der Kindheit bis hinein in ein Schriftstellerleben. „Jahre danach“ erzählt in sich abgeschlossen von Aprils Ehe zu Ludwig, den die zuerst als aufgeblasenen Chirurgen an einer Lesung kennenlernt, der ihr aber genau das zu geben scheint, wonach ihre Seele dürstet. April und Ludwig heiraten, bekommen ein Kind und Probleme zuhauf. Angelika Klüssendorf schrieb aber keinen Rosenkriegroman, sondern die Geschichte zweier Menschen, die sich wohl irgendwann irgendwie liebten, aber mehr ineinander verstrickten. „Jahre danach“ spriesst voller Witz und Poesie dort, wo man als Leser weinen könnte. Ein Buch voller starker Sätze, die man mitnehmen, nicht mehr vergessen möchte. Ein unglaublich starkes Buch, von dem die Autorin meinte, sie wäre froh, nun endlich einen Abschluss gefunden zu haben, um Neues beginnen zu können. Wie ich mich darauf freue!

“Die Königin schweigt“ von Laura Freudenthaler, Droschl, 206 Seiten
Nicht von den Märchen aus der Vergangenheit möchte Fannys Enkelin hören, viel lieber von der wirklichen Vergangenheit. Fanny erinnert sich. Vom Vater mit der harten Brust, von der Wärme ihrer Mutter, die nicht von ihrer abzugrenzen war, dem elterlichen Hof und von Toni, ihrem Bruder, dem Hoffnungsträger, der tot im grossen Krieg zurückgeblieben war. Fanny braucht ein Leben lang, um sich von den Gewichten ihrer Vergangenheit loszumachen, den Eltern, dem Dorflehrer, mit dem sie verheiratet war und einen Sohn hat. Selbst von jenen, die noch leben, ihrem Sohn, der auch Toni heisst und ihrer Enkelin, die sich nicht mehr nur mit Märchen aus der Vergangenheit begnügt. Die Geschichte einer Frau durch fast ein ganzes Jahrhundert. Laura Freudenthaler, noch jung, erzählt klug, wohl wissend, wo Nähe oder Distanz dem Erzählen gut tun. Ein Roman voller Ehrlichkeit und Reife, sprachlicher Kraft und Leidenschaft für ein Leben! Unbedingt lesen!

eine ausführlichere Rezension auf literaturblatt.ch

“Stillhalten“ von Nina Jäckle, Klöpfer & Meyer, 189 Seiten
Tamara sitzt in ihrem Zimmer. Ihr Leben ist abgeschlossen wie das Haus am künstlichen See, in dem sie wohnt. Sie schreibt in ihrem Zimmer in ihr Abrechnungsbuch. Tamara ist alt, war einst Tänzerin, vor langer, langer Zeit, damals 1933 in diesem schicksalsreichen Jahr deutscher Geschichte. Und sie sass Modell für ein Porträt, vor dem Maler Otto Dix. Damals war Tamara zwanzig, als sie Otto Dix zum ersten Mal begegnete, ebenso beeindruckt wie eingeschüchtert von einem Mann, der kein Blatt vor den Mund nahm. Otto Dix malte sie, weil sie mit ihrem Lächeln trösten sollte. Aus dem „Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris“ wird eine nicht genutzte Möglichkeit, ein Leben am Scheidepunkt, damals noch von einem Leben in allen Facetten. Bis sie heiratete. Sie heiratete einen Mann, der ihr das Tanzen und Fragen verbot, liess sich einschliessen, für immer verwundet.

Nina Jäckles Mann trägt vor der Lesung im Kunsthaus Singen eine grosse Tasche mit ins Obergeschoss, wo fast 100 Gäste auf die weitgereiste Autorin warten. Er packt ein Bild aus, das Bild, das „Original einer Fälschung“, lächelt dieser. Die Replik des Bildes, das meist in Stuttgart hängt, wenn es nicht irgendwoin den Zentren der Welt auf Reisen ist.

Erfrischend war, wie Nina Jäckle den Bilddeutungen des Kunsthistorikers widersprach und deutlich machte, dass die Wissenschaft mit ihrer Deutung auch „unrecht“ haben kann.

eine ausführlichere Rezension auf literaturblatt.ch

Ich liess mich von „Erzählzeit ohne Grenzen“ faszinieren. Ein literarisches Freudenfest, ein Grossanlass, der einmalig ist. Ein grosses Dankeschön an das Organisationsteam, allen voran Monika Bieg und Barbara Tribelhorn.

Nina Jäckle «Stillhalten», Klöpfer & Meyer

Otto Dix malte 1933 das «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wenig später vertrieb man ihn von Dresden nach Hemmenhofen an den Bodensee, nicht nur weit weg in ein Dorf, sondern in die innere Emigration. Tamara Danischewski, einst eine vielversprechende Tänzerin, ist Nina Jäckles Grossmutter.

Was die Schriftstellerin Nina Jäckle mit ihrer Geschichte, ihrem Stoff macht, ist keine Nacherzählung. «Stillhalten» ist die Abrechnung einer Gefangenen, die Geschichte eines erstarrten Lebens, eine Feldstudie der Täuschung und Lüge.

Tamara schreibt mehr als nur Zahlen in ihr Abrechnungsbuch. Sie lebt einsam und alt geworden im Obergeschoss ihres Hauses am See. Ein ehemaliger Steinbruch ihres Mannes. Mit Wasser gefüllt zum perfekten See gemacht, wie sie einst zur Ehefrau. Ein Dublikat des «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» hängt über ihrem Schreibtisch, in den Räumen, die ihr Mann niemals betritt. Ein Bild, das sie mit einundzwanzig Jahren zeigt, als umschwärmte, junge Tänzerin, voll mit dem Brennen auf ein abenteuerliches Leben. Gemalt vom damals über sechzigjährigen Maler Otto Dix, der sie nicht nur malte, sondern in ihr ein Gefäss fand, um all die Wut und den Zorn über die Unvernunft des Menschen angesichts des beginnenden Tausendjährigen Reichs für Augenblicke loszuwerden. Damals sass Tamara Danischewski in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, das ihre Mutter genäht hatte, dem streitbaren Maler Modell, mit einer weissen Lilie in der Hand. Ein Bild, das heute in Museen der ganzen Welt hängt und im hellen Lächeln der jungen Tänzerin all die Hoffnung zeigt, die die junge Frau damals mit sich trug. Aber gedrängt von ihrer Mutter und den Wirren der Zeit heiratet Tamara einen Mann, der ihr für die Ehe das Versprechen abringt, nie mehr für fremde Augen zu tanzen und kein Wort mehr über den Schmierer und dieses Künstlerpack zu verlieren. Nach einer Totgeburt und Jahrzehnten der Anpassung, Unterordnung und versprochenen Zurückhaltung, in jenem Moment, in dem sie untrüglich spürt, dass die Existenz ihres Mannes zu wackeln beginnt, zieht die alt und einsam gewordene Tamara Bilanz. Auch wenn sie weiss, dass es letztlich kaum Einträge in der Sparte «Gewinn» geben wird.

Nina Jäckles Roman fasziniert! Was für ein Buch! Ganz nebenbei erfahre ich so viel über das Leben des Künstlers Otto Dix in Zeiten des Faschismus mit der Erinnerung an einen verlorenen ersten Weltkrieg, dass ich mich wundere, nicht längst einmal in Hemmenhofen am Bodensee oder in den Museen Stuttgarts dem Maler nachgegangen zu sein. So wie die junge Frau fasziniert war vom durchdringenden Blick und Verstand des Malers, so faszinieren mich im Anschluss an die Lektüre des Romans die Bilder und Zeichnungen des Malers Otto Dix, der sich kaum um künstlerische Strömungen und Modeerscheinungen seiner Zeit kümmerte.

Ausgerechnet eine Tänzerin erstarrt in den Blicken eines Malers zum Modell, sitzend zu einer Blumenhalterin. «Stillhalten» ist das Protokoll all jener Sitzungen in Bewegungslosigkeit beim Maler. Eine Ermahnung der allgegenwärtigen Mutter an ihre Tochter, die sich mit der Heirat Tamaras Sicherheit, Wohlstand und endlich Respekt verspricht. Diese unerträgliche Ergebenheit einer Mutter. Dieses permanente Daherbeten «Alles wird gut». Das «Sich Fügen in ein ausgemaltes Schicksal». «Stillhalten» ist auch der Zustand einer zu Stein gewordenen Ehe, des kranken Hundes im Zwinger vor dem Haus und der Situation, in der sich die alt und einsam gewordene Tamara befindet. Der kranke Jagdhund im Zwinger, seiner Bestimmung beraubt und nur seiner Krankheit wegen geduldet, wartet in seinem Geviert auf eine Ende ohne Schrecken.

Nina Jäckle überzeugt derart in Sprache, Feinheit, Konstruktion und Perspektiven, dass ich jedem das Buch mit Nachdruck empfehlen und in die Hände legen möchte. Allein die Verwandlung einer aufblühenden, jungen Tänzerin, die von ihrer Lehrerin ermuntert wird, im Tanz jene absolute Hemmungslosigkeit zu suchen, zur tief verletzten Ehefrau in einem Gefängnis der Lügen und Täuschungen, lohnt das Buch zu lesen. Eine Frau im Gnadenverliess, so wie der kranke Hund im Zwinger. Ein Buch voller Bilder mit Tiefenschärfe, voller Metaphern, Doppelbödigkeiten und sprachlicher Raffinesse. Super!

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris und wollte eigentlich Übersetzerin werden. Mit 25 Jahren beschloss sie aber lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: »Es gibt solche«, »Noll«, »Gleich nebenan« und »Sevilla«. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 ihr Roman »Zielinski« und 2014 der Roman »Der lange Atem«. Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

«Der lange Atem» auf literaturblatt.ch