Ayelet Gundar-Goshen «Wo der Wolf lauert», Kein & Aber

Kennen wir jene, die uns am nächsten sind? Unsere Kinder? Was wird aus ihnen, wenn sie Türen schlagen und in ihrem Zimmer verschwinden, wenn das grosse Schweigen ausbricht, wenn man als Eltern spürt, dass man zu Statisten wird? Ayelet Gunnar-Goshen spürt einer Entfremdung nach, der Eltern zu gerne mit Verbissenheit begegnen, kleine und grosse Katastrophen dabei nur noch unausweichlicher machen.

Man herzt sie, wenn sie klein sind. Sie sind einem das Nächste, das Wichtigste, eigen Fleisch und Blut. Man nimmt sie an der Hand, bekommt Küsschen, feiert die Liebe und die Familie. Um dann mit einem Mal festzustellen, dass in der vermeintlichen Symbiose Risse entstehen, dass sich in die Nähe Schranken hineinschieben, dass anderes und andere mit einem Mal wichtiger werden. Und wenn dann mit der Pubertät Emotion und Psyche nicht nur beim Kind in Wallung geraten, zeigt es sich, dass die Entfernung, die Entfremdung, die mit der Geburt begonnen hat, mit einmal Mal schmerzlich bewusst wird.

Ayelet Gundar-Goshen «Wo der Wolf lauert», Kein & Aber, 2021, 352 Seiten, CHF 33.00, ISBN 978-3-0369-5849-1

Lilach und Michael leben mit ihrem Sohn Adam in Kalifornien, im Silicon Valley. Sie haben es geschafft. Nicht nur durch vielversprechende Jobs, auch als Familie, auch als Loslösung von den Traumas in ihren Familien, die in Israel zurückgeblieben sind. Angekommen aber sind sie nicht. Sie fühlen sich fremd, nicht zuletzt, weil Ihnen die Sprache der Heimat noch immer näher ist und sie genau spüren, dass Adam, ihr einziger Sohn, sich immer mehr aktiv von seiner Herkunft, seiner Sprache entfernt. Dass sich Adam nach und nach in sein Zimmer zurückzieht und nur noch einsilbig auf die Kommunikationsversuche seiner Eltern reagiert, scheint jener Phase geschuldet, durch die es alle Familien schaffen müssen. Aber als bei einer Party unter Jugendlichen ein Junge aus Adams Klasse tot zusammensackt, als sich die eilige Diagnose Herzstillstand nicht bewahrheitet und Drogen im Spiel zu sein scheinen, als die Polizei zu ermitteln beginnt und sich Adam einem Selbstverteidigungskurs unter der Leitung eines ehemaligen Soldaten der israelischen Armee anschliesst, als rassistische Parolen an die Wände der Schule geschmiert werden und klar wird, dass der liebe Junge, der seinen Hund vor einem qualvollen Tod bewahrte und seinen Liebreiz von unzähligen Fotos ausströmen lässt, langst nicht mehr der ist, den Lilach in ihrem Herzen trägt.

Ist dieses Gesicht, dass sie doch so gut kennt, vielleicht besser als sich selbst, in das sie alle Hoffnungen setzt, das sie bedingungslos und aufopfern zu lieben weiss, jenes, das sie liebt? Adam liebt Keller, seinen gezeichneten Hund. Und Adam liebt Uri, seinen Trainer, der ihm all das beibringt, was Mutter und Vater sich nie trauen würden. Die Gruppe robbt durch den Schlamm, übt die Gegenwehr mit roher Gewalt, gebärdet sich wie eine Kampftruppe. Lilach versteht nicht mehr. Sie versteht ihren Sohn nicht mehr, ihren Mann, dem die Arbeit wichtiger erscheint als das Leiden ihres Sohnes. Alles droht ihr wegzurutschen, auch ihre Arbeit, in die sie sich zuvor so leidenschaftlich hineingab. Während die Zeichen des Sturms um sie herum immer unmissverständlicher werden, Steine fliegen und Blut fliesst, wird aus der liebenden Mutter eine entschlossene Kämpferin. Doch der Kampf wird wie ein Feuer, das man mit heftigem und entschlossenen Blasen zu löschen versucht. Die Flammen schlagen ihr ins Gesicht. Warum ist ihr Mann immer dann weg, wenn er gebraucht wird? Warum ist Adams Trainer Uri immer dann da, wenn Not am Mann ist? Warum gelingt es ihr als Mutter nicht, ihrem Sohn das Herz zu öffnen? Was passiert?

Lilach ist nirgends mehr zuhause. Auch nicht mehr in ihrer Familie. Nicht einmal mehr bei ihrem Mann. Ayelet Gundar-Goshen ist eine grosse Beobachterin mit einem Sensorium, das sich ganz tief in die Seelenzustände ihrer Protagonist:innen hineinschraubt. „Wo der Wolf lauert“ ist kein Kulissenspektakel, aber ein Seelensturm. Der Roman erzählt subtil und mit kleinen Schritten, überrascht durch seine Kraft und durch die Nähe zum inneren Kampf, den die leidende und mitleidende Mutter aussteht. Ich fühle mich als Leser in eine Geschichte hineingezogen, die mich auch auf der letzten Seite nicht erlöst, die mir zeigt, wie das wirkliche Leben ist; unergründlich.

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, studierte Psychologie in Tel Aviv, später Film und Drehbuch in Jerusalem. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihrem ersten Roman «Eine Nacht, Markowitz» (2013) wurde der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt zugesprochen, 2015 folgte mit «Löwen wecken» ihr zweiter Roman, der für NBC als TV-Serie verfilmt wurde, und 2017 ihr Roman «Lügnerin«. Sie lebt in Tel Aviv.

Beitragsbild © Tal Shahar

Ayelet Gundar-Goshen «Lügnerin», Kein & Aber

Ayelet Gundar-Goshen ist eine herausragende Autorin. Nicht erst mit ihrem dritten auf Deutsch erschienen Roman „Lügnerin“, sondern auch mit ihren beiden ersten Romanen. Unvergessen bleibt „Löwen wecken“. In ihrem neuen Roman nimmt sich die israelische Autorin der Lüge an, jenem Tun, das von Stirnrunzeln bis Entsetzen alles auslösen kann, vor der sich niemand entsagen kann, die in der aktuellen Politik hüben und drüben zur Strategie geworden ist. Ausgerechnet in einer Zeit, die sich nach der Digitalen Revolution der allseits verfügbaren Wahrheit verpflichtete.

Als ich ein kleiner Junge war, erklärte man mir zwei Sorten von „Unwahrheiten“. Zum einen die Lüge, die andern schadet, zum andern das „Flunkern“ (schweizerdeutsch „Schwindeln“), mit der man anderen aber keinen Schaden zufügt. „Du sollst nicht lügen“, steht da als indiskutables, ehernes Gesetz. Und doch wissen alle, dass wir in einem fort lügen. Das ist selbst wissenschaftlich belegt. Wir fügen ganze Lebensgeschichten aus Versatzstücken zusammen, die sehr wohl in der Nähe der Wahrheit liegen. Aber es gibt keine Biographie, sei sie bedeutend oder unbedeutend, die ohne Lüge auskommt. Und darin eingeschlossen sind durchaus auch Lügen, die anderen Schaden zufügen.

Nuphar Schalev, eine junge Erwachsene, verkauft einen Sommer lang Eis. Nuphar Schalev ist nicht hässlich, aber gerade so unauffällig, dass wohl auch dieser Sommer zu Ende gehen wird, ohne dass das wirkliche Leben begonnen hätte.

„Sie wuchs zu einem zaghaften, in sich gekehrten Mädchen heran und bewegte sich in der Welt wie ein ungebetener Gast auf einem Fest.“

Ganz anders als ihre jüngere Schwester, der die Sympathien wie ein Schwarm Fruchtfliegen zuschwärmt. Nuphar hofft auf Verwandlung, dass sie irgendwann aus der starren Hülle ausschlüpfen könne, um der Welt ihre bunten Flügel zu zeigen. Dieser Tag kommt. Aber Nuphar schafft es nicht aus eigener Kraft, sich aus ihrem Nebengleis in den Vordergrund zu schieben.

Eines Tages taucht an ihrer Eisdiele Avischai Milner auf, ein fallengelassenes Showsternchen, das für einige Zeit im Rampenlicht der Nation stand, um ebenso schnell wieder in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Und ausgerechnet ihn lässt eine unscheinbare, sommersprossige Eisverkäuferin eine gefühlte
Ewigkeit vor der Eisdiele warten. Genügend Zeit, um beim Missachteten alle Dämme brechen zu lassen, erst recht als das Ding hinter der Eisdiele auch noch korrigiert. Es bricht aus Avischai Milner heraus, eine Kasskade verbaler Hässlichkeiten, deren Wirkungen unabsehbar werden. Ein Schrei Nuphars und alles läuft zusammen. Eine einzige Frage an das Mädchen mit den verquollenen Augen und Avischai Milner steht unter Verdacht, sich an dem Mädchen vergangen zu haben. In einem einzigen Moment richtet sich die Aufmerksamkeit einer ganzen Nation, des Kollektivs auf den Schrecken eines Mädchens, um den im gleichen Moment Verurteilten ohne ein rechtskräftiges Urteil mit Schimpf und Schande zu bestrafen.

Avischai Milners Leben gerät fast ohne sein weiteres Dazutun immer heftiger in Schieflage. Dieser eine Ausraster an der Eisdiele in der Stadt und alles, was daraus folgte, wischen das Wenige weg, was dem jungen Mann von dem bisschen Hoffnungen, das er noch mit sich herumtrug, übrig blieb. Von einem aufgeblasenen Ego bleibt ein leerer Sack.

Nuphar ist aber nicht allein mit ihrer Lüge. Da ist auch Lavie, der sie im Hinterhof bei dem angeblichen Übergriff beobachtete, der sie zuerst erpresst, der seine Eltern belügt, seine Mutter, die seinen Vater belügt. Oder die alte Raymonde, die aus einer Mischung aus Lust und Not die Identität ihrer verstorbenen Freundin aus dem Altenheim annimmt, die Ausflüge mit Schüler/innen mit dem Namen der Verstorbenen mitmacht zur Erinnerung an die Shoa, Schrecken von denen sie eigentlich verschont blieb, ihr aber mit einem Mal eine Bedeutung verleihen, auf die sie nicht mehr verzichten kann. „Dinge erfinden, um weniger allein zu sein.“

Nebst einer unerhört raffinierten Konstruktion ist es die Sprache, Sätze wie „Am Ende eines jeden Satzes lauerte das Schweigen wie ein Furcht einflössender Hund hinter der nächsten Strassenecke“ oder „Liebe sei vielleicht der einzige Muskel, der im Alter nicht schrumpfe, sondern wachse“ oder „…aber sie waren wieder in ihr eigenes Leben verschwunden und rannten sinnlos hin und her wie mit Gift besprühte Küchenschaben“ – Sätze, die man sich wie Pralinen langsam auf der Zunge zergehen lassen will.

Während Nuphar immer mehr an ihrer Lüge leidet, Avischai Milner einen Selbstmordversuch unternimmt und die Polizei dem Konstrukt immer näher kommt, zieht einem die Autorin unweigerlich ins Resümieren über die eigene Geschichte hinein. Man denkt, das Ausgesprochene wirke im Tun und Lenken des Menschen. Man ahnt, dass das Unausgesprochene, Verschwiegene, Gelöschte sehr oft viel mehr wirkt, tief in das Ausgesprochene hinein und letztlich wenig bleibt von dem, was Wahrheit und Wahrhaftigkeit sein könnte.

Ayelet Gundar-Goshen ist ein Seismograph menschlichen Gefühlslebens- und bebens, sei das Erzittern noch so unscheinbar und verborgen in den Falten innerer Abgründe.

„Hoffnungslose Sehnsucht schmeckt wie der Inhalt schimmeliger Konserven.“

Literatur, die packt und mitreisst, von einer Autorin, die einem zum Zuhören zwingt – unbedingt lesen!

Ayelet Gundar-Goshen, geboren 1982, lebt und arbeitet als Autorin und Psychologin in Tel Aviv. Für ihre Kurzgeschichten, Drehbücher und Kurzfilme wurde sie bereits vielfach ausgezeichnet. Ihr erster Roman, »Eine Nacht, Markowitz« (2013), dem der renommierte Sapir-Preis für das beste Debüt Israels zugesprochen wurde, wird derzeit von der BBC verfilmt.

Titelfoto: Sandra Kottonau