Werner Rohner «Was bleibt»

Licht im August: William Faulkner

Ich hab das nie verstanden: Sommerbücher. Leicht und luftig. Da hat man endlich mal Zeit am Stück um zu lesen, sich den Büchern ganz auszusetzen, dass sie über einen hereinbrechen, alles umkrempeln; und dann wählt man eines, bei dem man nach jedem halben Satz auf-, und aufs Meer schauen kann und trotzdem den Faden nicht verliert. Oder noch schlimmer, bei dem es gar keine Rolle spielt, ob man mal kurz ein paar Sätze abschweift. Dafür brauche ich doch kein Buch. Dafür reicht das Meer (und wie weit es reicht).
Wenn da aber kein Meer ist. Und trotzdem Zeit. Dann und drum: Licht im August. Faulkner! Das rückt einem den Kopf mal wieder zurecht. Weil es alles an sich bindet, das Licht eben, die Landschaft, das Leben und nicht selten den Tod. Und das mit einer Sprache, die mir beim Lesen permanent ein wenig Hühnerhaut verursacht, so fein und gleichzeitig mit einer Wucht, dass kein Gedanke mehr daneben Platz hat. Weil diese Sprache auch mich mit Gewalt an sich bindet. Und Gewalt ist auch im Buch selbst genug. Und kein Trost, kein bisschen; aber da ist mehr Leben drin als – da ist das Leben drin.
(übersetzt von Susanne Höbel und Helmut Frielinghaus)

Maggie Nelson: The Argonauts

Da ist zuerst mal die Form. Im Amerikanischen läuft das unter Non-Fiction, bloß weil da jemand (nach-)denkt, ohne sich gleich mit der Figurenrede aus der Verantwortung zu stehlen. Und wie Maggie Nelson denkt! Kreuz und queer. Und gleichzeitig an ihrem Leben entlang erzählt, ihrer Beziehung mit Harry, seinem Sohn, wie dann noch ein neues Kind dazu kommt – und was das bedeutet, für die Liebe, für den Sex und eben fürs Denken. Wie sich das alles durch einander und durcheinander verändert. Viel auch über Kunst und Kunstbetrachtung. Über Alltag und Politik und Perversionen. Wie viele Nerven im Anus sich befinden und welche Beziehung wir zum Wort Radikalität finden könnten.
Es ist diese Mischung, welche die Theorie nicht vom Fiktiven trennt, ohne das eine immer gleich allzu offensichtlich das andere erklären zu lassen, die ich so toll fand. Die Spannung, die zwischen den Teilen entsteht. Man kann zuschauen, wie das Nachdenken über etwas gleichzeitig zur Erzählung über den Gegenstand wird. Und wie es Maggie Nelson gelingt, auf endgültige Schlüsse und Zuordnungen zu verzichten und gerade dadurch genau zu bleiben. Und wie emotional all das Denken ist und wie intelligent die Erzählungen vom Alltag. Und nicht selten habe ich mir bei der Lektüre gewünscht, dass mir dieses Buch jemand in der Schule zum Lesen gegeben hätte – ich glaube, es hätte mein Leben und Denken ein klein wenig freier gemacht.
(im Original)

Ben Lerner: 10:04

Immer mal wieder, wenn ich in einem Buch lese und irgendwas nicht stimmt – mit dem Buch oder mir – nehme ich 10:04 von Ben Lerner hervor, schlage irgendwo auf und es passt immer. So ein Buch ist das. Mit einer Geschichte, mit einer Dramaturgie, das auch, aber ich könnte es auch rückwärts lesen und jedes zweite Wort überspringen, irgendwas würde es immer noch in mir auslösen.
Es ist ein Buch, bei dem ich mich ständig frag, wie entscheidet der Autor, was alles dazugehört? Weil irgendwie alles dazu gehört, weil der Erzähler die meiste Zeit irgendwohin abschweift, in Gedanken und Geschichten (auch ein paar Bilder und bereits veröffentlichte Essays gehören dazu), um dann wieder irgendwo aufzutauchen und den Faden der Hauptgeschichte (der Freundschaft zu Alex, die ein Kind von ihm will, ohne unbedingt mit ihm zu schlafen) wiederaufzunehmen.
Und wie das dann auch noch immer etwas über unsere Zeit erzählt und dabei auch noch wirklich witzig ist. Ja, witzig und gleichzeitig ziemlich intelligent, eine Kombination, die ja nicht allzu oft vorkommt. Und ich frage mich, wie oft ich es noch wieder lesen kann, bevor es seine Wirkung auf mich verliert, oder inwieweit sie sich verändern wird. Und wann endlich sein nächstes Buch rauskommt.
(einmal im Original, oft übersetzt von Nikolaus Stingl)

Werner Rohner, geboren 1975 in Cala D’or. 2014 erschien sein Debüt «Das Ende der Schonzeit» bei Lenos. Der Roman wurde mit einem Werkjahr der Stadt Zürich ausgezeichnet, war für das beste deutschsprachige Debüt beim Rauriser Literaturpreis nominiert und erschien 2017 auf Französisch unter dem Titel «Fin de Trêve» bei Les Editions de l´Aires.

 

Albert Ostermaier «Über die Lippen», Suhrkamp

Sie stehen an einem Morgen auf, schauen zum Himmel und haben das Gefühl, dass das Blau über ihnen blauer als sonst ist? Kennen sie das? Sie sitzen in einer romanischen Kirche und die Stille umfängt sie wie sonst nirgends mehr? Schon erlebt? Lesen sie die neuen Gedichte von Albert Ostermaier aus dem Band «Über die Lippen» und aus Sprache wird eine grosse Gebärde der Liebe.

Selten passiert, was bei der Lektüre dieses Buches passierte. Ich zog den Band aus dem Regal mit jenen Büchern, die auf mich warten, an einem Morgen, ganz früh. Ich dachte mir, es müsse ein Morgen sein, meine Wahrnehmung ganz unverbraucht, mein Geist wach, alles in mir auf Empfang.

Ich setzte mich in den Sessel vor dem grossen Fenster mit Blick in den Garten. Und während es draussen langsam dämmerte, dämmerte mir, was für ein aussergewöhnliches Buch ich in Händen hielt.

schreiben
es ist da wo du nicht bist du
bist ein gedicht ich schriebe
dich fort du bist nicht
das papier wert auf dem es
gedruckt steht sondern mehr
das überschriebene du liebst
aber ich schreibe du liebst
und unterschreibe mein urteil
ich bin hier in meiner sprache
und du aus ihr und nicht mehr
hier aus fleisch und blut und
machst einen satz den ich nicht
einholen kann auf den zeilen
selbst wenn ich springe

«Über die Lippen» sind fast hundert Gedichte, im Buch nach dem ersten Buchstaben der Titel geordnet. Ein Alphabet der Liebe. Ein Rundumschwenk durch alle Facetten dieser einen, grossen, vielleicht grössten Kraft. Allein die 80 Titel lesen sich wie eine Gedicht: … verbergen, vereinigung, verhalten, vermisst, verrückt, verstehen, wahrheit, warum, weinen…

Albert Ostermeier spricht zu mir, ganz unmittelbar, zieht mich hinein, lässt mich nicht los.
An diesem Morgen wuchs mir ein Buch regelrecht ans Herz, wurde zur Reliquie einer Begegnung der besonderen Art. Ich werde das Buch lange nicht weglegen können. Und selbst, wenn es einmal liegen gelassen wird, werde ich den Klang, all jene Gefühle, die es an diesem Morgen extrahierte, weitertragen.

entwertung
ich liebe nur die liebe du
bist nichts wert ausser ihr
ich werfe mich in deine
arme my love aber werfen dich
weg ich habe dich über
alles in der Welt und keine
mit dir als meine du ziehst
mich aus ich zieh dich an
du bist reizlos das reizt mich
alles von dir zu verlangen
bis nichts mehr bleibt als
mein verlangen und du
übrig bleibt dir nur mir den
letzten stich zu versetzen
mich mit mir selbst zu
verletzen mir die lippen
mit deinen zu netzen mir
den punkt den stein im herz
zu wetzen bis er wieder funkt

Liebesgedichte, die nichts verklären, die alles sagen, selbst im grössten Schmerz, unsäglicher Erkenntnis, grösstmöglicher Nähe und klaffender Entfernung. Albert Ostermaiers Gedichte sind Beschwörungen, Texttänze um ein Gegenüber, einmal nah und einmal schmerzend fern. Seine Gedichte tragen Hysterie und Trance, Verzauberung und Entzauberung, Wut und Enttäuschung, nicht zuletzt über sich selbst. Gedichte, weit weg von jeder Sentimentalität. Geschrieben in einer Sprache, die unmittelbar anschlägt, mitten hineingreift, genau den Punkt trifft.

Albert Ostermaier umarmt mich mit Sprache, setzt mich in seinen lyrischen Szenen direkt ins Leben, ins Lieben hinein. Er schweift nicht aus, mäandert nicht. Er flüstert, fragt, schreit und hadert. 

Lesen Sie und lassen sie sich mitnehmen!

© Susanne Schleyer

Albert Ostermaier ist 1967 in München geboren, wo er heute als freier Schriftsteller lebt. 1995 erschien sein erster Gedichtband «Herz Vers Sagen», der mit dem Lyrikpreis des PEN Liechtenstein ausgezeichnet wurde. Im selben Jahr fand die Uraufführung seines ersten Stückes Zwischen zwei Feuern – Tollertopographie im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels statt. Seither gilt Ostermaier als einer der wichtigsten Gegenwartsdramatiker.
Neben seinen zahlreichen Lyrik-Bänden und Theaterstücken schrieb er 2008 seinen ersten Roman «Zephyr», 2011 «Schwarze Sonne scheine», der auch als Hörbuch erschien und mit dem Preis der Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, 2013 den Roman «Seine Zeit zu sterben» und 2015 ist der neueste Roman «Lenz im Libanon» erschienen, der auch auf Arabisch publiziert wurde. Die Lyrikbände «Flügelwechsel Fußball-Oden und Gedichte» sowie der Gedichtband «Ausser mir» sind ebenfalls bei Suhrkamp erschienen.
Albert Ostermaier wurde mit namhaften Preisen und Auszeichnungen geehrt, u.a. dem Kleist-Preis, dem Bertolt-Brecht-Preis und in 2011 mit dem »Welt«-Literaturpreis für sein literarisches Gesamtwerk.

Ich danke dem Autor für die ausdrückliche Erlaubnisse, Gedichte aus dem Band «Über die Lippen» in den obigen Text einfügen zu dürfen.

Albert Ostermaier: Autorenporträt und Gespräch auf der Suhrkampseite

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Michael Köhlmeier «Umblättern und andere Obsessionen», Edition 5plus

Kennen sie das? Sie begegnen jemandem und fühlen sich verwandt? Sie begegnen einem unbekannten Ort, als wären dort ein Teil ihrer Wurzeln verborgen? Viel mehr als ein Déjà-vu! Als ich für wenige Tage in der Bäderstadt Baden an der Limmat ausspannen wollte, spazierte ich durch die Gassen der Altstadt. Etwas abseits der Ströme, nahe an der Kante hinunter zum Fluss, liegt die Buchhandlung Librium. Ein Hort des guten Buches, des guten Geschmacks, ein Tempel der Literatur.

Die Buchhandlung Librium ist kein Gemischtwarenhandel, nicht einmal in der Auswahl seiner Bücher. Es gibt Buchhandlungen oder solche, die sich so nennen, in denen mein Auge kaum einen Ankerpunkt findet, kaum etwas lockt, nichts meine Neugier weckt. Im Gegenteil; an solchen Orten fühle ich mich fremd, beinahe ausgeschlossen, denn Bücher sind nicht gleich Bücher, so wie nicht jede Tomate das verspricht, was das Rot behauptet.

Librium schloss sich 2013 der Kooperation «5plus» an, einer Ideengemeinschaft, die sich 2009 unter fünf namhaften Buchhandlungen im deutschsprachigen Raum formierte: der Buchhandlungen Felix Jud (Hamburg), Lehmkuhl (München), zum Wetzstein (Freiburg), Leporello (Wien) und Klaus Bittner (Köln), die im Sommer 2009 entstanden ist. 2012 kam Schleichers (Berlin) dazu und 2013 die Buchhandlungen Librium in Baden und Dombrowsky in Regensburg. «5plus» gibt zweimal jährlich ein Buchmagazin heraus. Darüber hinaus engagiert sich «5plus» aber auch verlegerisch.

Uns wie! Im Oktober 2010 erschien eine Erzählung von Louis Begley: «Cowboys und Indianer» in einer einmaligen Auflage von 2.200 nummerierten und signierten Exemplaren, gestaltet von der Agentur Groothius, Lohfert & Consorten. Das Buch ist inzwischen vergriffen. Inzwischen sind acht weitere Bücher erschienen, ebenfalls zum ersten Mal auf Deutsch publizierte Erzählungen von Irène Némirovsky, William Boyd, Henry James, Gaito Gasdanow, Michael Köhlmeier, Jane Gardam, Cees Nooteboom und Julian Barnes.

Aus dieser Reihe gelesen habe ich «Umblättern und andere Obsessionen», einen schmalen Band mit fünf Texten zu Michael Köhlmeiers Liebe zum Buch. Der in Hohenems lebende und mit der Schriftstellerin Monika Helfer verheiratete Autor ist nicht nur ein Vielschreiber, sondern auch ein Vielleser. Kein Verschlinger, sondern ein Langsam- und Immerwiederleser. Ein Mann, dem Lesen längst zu einer Art des Schauens, des Verstehens, des Lebens geworden ist. Der all jene versteht, die unheilbar infiziert sind vom Virus «Buch», die Bücher nicht einfach nur verschlingen, weglegen und vergessen, so wie ein Mittagessen, das kurzfristig satt macht und das man Minuten später schon wieder vergessen hat.

«Umblättern und andere Obsessionen» ist eine Liebeserklärung an die ans Buch Verlorenen. An jene, die nicht einfach verschlingen wollen, sondern sich für das Buch als Kunstwerk interessieren, die mehr erfahren wollen, als nur das, was als Geschichte eingesperrt ist, die mit geschlossenen Augen über den Einband streichen, nicht ertragen, wenn das farbige Lesebändchen mehrfach gefaltet wird, die ihre Nase ins Buch stecken, um dem Leim oder den Vorbesitzern nachzuschnuppern, die wissen, was ein «Hurenkind» und ein «Schusterjunge» sind.

Michael Köhlmeier nimmt uns mit zu Johann Georg Tinius, der für seine unermesslich grosse Bibliothek selbst als Theologe das Mass aller Dinge verlor und die letzten 20 Jahre seines Lebens im Gefängnis verbrachte, in die Bibliothek seiner Eltern, in die Tiefen seiner Lektüre von Dostojewskys «Schuld und Sühne» und den Vorschlag des zu Unrecht vergessenen Schweizer Schriftstellers Ludwig Hohl, jedes Buch mit einer Zahl von 1 bis 10 zu markieren, als Orientierung für die empfohlenen Lesegeschwindigkeit (10 – schnell – die Romane von Walter Scott, 1 – langsam – «The Waste Land» von T. S. Eliot).

Besuchen sie die Webseiten der Buchhandlungen Felix Jud, Lehmkuhl , zum Wetzstein, Leporello, Klaus Bittner, Schleichers, Librium und Dombrowsky. Dort weht der Duft der Wahrhaftigkeit.

© Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier, geboren 1949 in Voralberg. Er studierte Germanistik, Politologie, Mathematik und Philosophie. Lange Zeit Mitarbeiter beim ORF. Sein vielseitiges und vielfach ausgezeichnetes Werk – zuletzt mit dem Preis der LiteraTour Nord (2015), dem Düsseldorfer Literaturpreis (2015) und dem Walter-Hasenclever-Preis (2014) – umfasst Romane, Erzählungen, Lyrik, Theaterstücke, Drehbücher und Libretti. Ganz aktuell seine Sammlung von Reden «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle» (dtv) mit der Rede auf dem österreichischen Gedenktag gegen Gewalt und Rassismus am 4. Mai 2018, als er die anwesenden FPÖ-Regierungspolitiker ganz direkt ansprach: «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle». (Rezension auf literaturblatt.ch)

Ulrich Woelk «Der Sommer meiner Mutter», C. H. Beck

Im Juli 1969 stecken die Amerikaner ihre Fahne in den staubigen Sand des Mondes. Die ganze Welt schaut zu. In jenem Sommer, «dem Sommer meiner Mutter» wird der Mond für den elfjährigen Tobias zum Sinnbild totaler Veränderung, denn in jener Nacht implodiert sein Weltbild, wird eine grosse Schuld geboren.

Im Sommer 1969 wankt Deutschland in den Nachbeben der Hippiezeit, der sexuellen Befreiung, mehr oder weniger unterschwelliger Rebellion und den Protesten gegen den Vietnamkrieg. In diesem wirren Sommer findet der elfjährige Tobias in seinen neuen Nachbarn und der um ein Jahr älteren Rosa, jene erste Liebe, die sich unweigerlich und unauslöschlich ins Bewusstsein eines jeden brennt.

45 Jahre später ist aus Tobias ein Astrophysiker geworden, der an der Rosetta-Mission auf den Kometen 67P/Tschurjumow-Gerassimenko mitarbeitet. Rosa und er hatten sich im Sommer 1969 gefunden und wieder verloren. So wie eine Sonde und ein Komet. Rosa wurde Schriftstellerin. Und der Zufall wollte es, dass Tobias eines Tages bei einer Lesung während der Frankfurter Buchmesse im Publikum der Schriftstellerin sitzt und schlussendlich mit der Bitte um eine Signatur vor ihr steht.

Tobias wäschst in einem beschaulichen Quartier auf, am Stadtrand von Köln. Sein Vater leitender Angestellter, seine Mutter Hausfrau. Zu Beginn des einen Sommers, als die Jeans in Köln landete, ziehen in das leer gewordene Haus gleich in der Nachbarschaft Herr und Frau Leinhard mit ihrer zwölfjährigen Tochter Rosa ein. Er Professor für Philosophie mit langen Haaren, sie Übersetzerin mit Batikhemd und Jeans. Leinhards sind Kommunisten, glauben an die baldige Befreiung des Kapitalismus und aller anderen Fesseln. Rosa trägt ihren Namen nach der Kämpferin Rosa Luxemburg. Tobias Vater glaubt an die Möglichkeiten der Technik und die Wirksamkeit von E605 im Kampf Läuse und anderes Ungeziefer im Garten. Und Tobias Mutter?

Während Apollo 11 sich anschickt den erdnahen Trabanten für die Menschheit zu annektieren, wird aus der Begegnung von Rosa und Tobias eine junge und unsichere Liebe. Rosa, neu in der Stadt und noch nicht sozialisiert, und der eigenbrötlerische Tobias hören zusammen die Schallplatten der Familie Leinhard; Doors, Bob Dylan, Janis Joplin. Eine ganz andere Welt als das, was in der ZDF-Hitparade über die Mattscheibe flimmert. Rosa wird zum Schlüssel in eine andere, fremde Welt. Auch in die Welt der Liebe, der Berührungen, der Entdeckungen eines Sommers, die seine Welt bisher in seinen Grundfesten erschüttert.

Die beiden Familien freunden sich aller Gegensätze zum Trotz an. Man lädt sich gegenseitig ein, besucht die Kirmes, die Mütter mit den Kindern gar eine Demonstration gegen den Vietnamkrieg. Während sich die Eltern annähern, gibt es genügend Raum für Rosa und Tobias, dem nahe zu kommen, was Erwachsensein bedeutet; «Es» zu tun. Tobias, gleichermassen angezogen wie verunsichert, sieht die Welt mit andern Augen. Auch das fragile (Un-) Gleichgewicht seiner Eltern, die Fassaden der Erwachsenen. Er verliert mehrfach die Unschuld – und auch seine Familie.

«Der Sommer meiner Mutter» beginnt mit einem Paukenschlag – und der ganze Roman bebt weiter im Aneinandereiben von tektonischen Platten. Scheinbar leicht erzählt beschriebt der Roman die harte Landung auf dem Planet Erde, die historische Bruchkante zwischen dem biederen Nachkriegsdeutschland und dem Aufbrechen in neue Welten.

Ein Mailinterview mit Ulrich Woelk:

Ich erinnere mich gut, an die gestatteten und illegalen Stunden vor dem Fernseher, als sich Apollo 11 auf seine Mission zur Eroberung des Mondes machte. Damals war ich sieben. So wie zwei Jahre später die Niederlage von Muhammed Ali gegen Joe Frazier. So wie viele Erzählungen beginnen mit „Damals, als“. „The Eagle has landed“, meldete Armstrong am 20. Juli 1969. Aber in Tobias Familie riss ein unsichtbares Riff ein nicht wieder zu verschliessendes Loch im Rumpf seiner Familie. Trotzdem schildern sie nicht die Geschichte des Opfers. Aber die Geschichte von Schuld. Ist Schuld unheilbar?

Schuld bleibt. Man kann, wenn man schuldig geworden ist, nur auf Vergebung hoffen, denn die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Was meinen Roman angeht, muss man allerdings hinzufügen, dass sich mein Erzähler schuldig fühlt für etwas, wofür er nicht verantwortlich ist. Er ist ja noch viel zu jung, als die Dinge geschehen, die schließlich so traurig enden. Er ist elf, als sich seine Mutter das Leben nimmt, und dass er in diesem Drama eine so entscheidende Rolle spielt, das ist … ja, was ist es eigentlich? Zufall, Schicksal, ein unglückliches Zusammenspiel verschiedener Umstände? Ich will das gar nicht entscheiden. Als Autor ist es mein Ziel, meine Geschichten zu erzählen, aber nicht zu erklären. Das Leben erklärt uns ja auch nicht, warum dieses oder jenes geschieht. Wir müssen selbst dahinterkommen. 

„Die Menschen sagen nicht immer die Wahrheit“, mahnt Tobias Vater seinen Jungen. Ausgerechnet er, der seinen Jungen immer zur Wahrheit mahnt. „Der Sommer der Mutter“ ist der Roman einer Entzauberung. Ist Schreiben der Kampf um die Rückkehr der Verzauberung?

Nein, das denke ich nicht. Für das Schreiben – mein Schreiben – ist gerade die Erfahrung der Entzauberung fundamental. Aber ich fand es schön, für „Der Sommer meiner Mutter“ in die späten Sechzigerjahre und meine Jugend zurückzukehren. Das war beim Schreiben manchmal eigenartig. Man entwickelt bei einer so intensiven Beschäftigung mit einer Zeit automatisch eine Art von Sehnsucht nach der Vergangenheit, nach der einstigen Kindheit und Jugend. Der Unschuld. Dem Leben ohne Verantwortung. Da denkt man dann schon mal schnell, diese Zeit war unbeschwerter als unsere heutige Welt der Globalisierung mit ihren Flüchtlingsdramen, kulturellen Verwerfungen und terroristischen Bedrohungen. Aber das stimmt nicht. Die Sechziger Jahre waren die Zeit des kalten Krieges und der Angst vor einem neuen heissen oder atomaren Krieg. Damals hat man die politische Lage als genauso undurchschaubar und bedrohlich empfunden wie heute. Und dennoch bildet sich um diese Jahre beim Schreiben manchmal so eine gewisse Patina von temporaler Heimat. Aber wie gesagt: Als Autor weiss ich immer, dass die Rückkehr in dieses „Paradies“ unmöglich ist.

Der Roman beginnt mit dem Satz: „Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.“ Tobias schreibt die Geschichte seiner Mutter mehr als 45 Jahre später, nachdem er seine erste grosse Liebe Anna wiedersieht. Der Roman ist keine Wiedergutmachung. Aber nebst vielen anderen Facetten auch die Geschichte einer Frau, die an der „Wahrheit“ zerbricht, nicht zuletzt an der Schonungslosigkeit ihres einzigen Kindes. Ist dieses Buch auch ein „Grabstein“?

Aber nein, für wen denn? Zunächst einmal: Es ist nicht autobiographisch. Eine Verbindung zu meiner eigenen Mutter ist aber, dass diese viel zu früh gestorben ist. Da war ich noch zu jung, mich zu fragen, wer ist meine Mutter eigentlich? Solche Fragen stellt man sich erst später, aber da lebte meine Mutter nicht mehr. Was ich sicher glaube, ist, dass sie Fähigkeiten und Begabungen hatte, die sie nie verwirklicht hat, und das ist es, was sie mit meiner Romanheldin verbindet. Einmal hat sie Noten aufs Klavier gestellt und angefangen Mozart zu spielen. Da war ich völlig verblüfft, das hatte sie noch nie getan. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Wie es aber wirklich in ihr aussah, das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Da kommt dann die Fantasie des Schriftstellers ins Spiel. Als Autor interessieren mich diese Mütter der sechziger Jahre sehr. Sie haben ihre Jugend und Sozialisation in den Fünfzigern erlebt, einer äußerst prüden, konservativen und konfliktscheuen Zeit mit einem ganz engen Rollenverständnis. Für die gesellschaftlichen Veränderungen in den späten sechziger Jahren waren sie im Grunde schon zu alt und zu etabliert. Umso spannender ist es, wie sie damit umgegangen sind. Sie standen ja in einem Konflikt. Es ging bei dem Ruf nach Freiheit ganz zentral auch um die Emanzipation der Frauen, und dem hätten sich diese Mütter und Frauen ja eigentlich sofort anschließen müssen. Das ist aber keineswegs geschehen, weil das ihr bisheriges Leben infrage gestellt hätte. Wie sollten sie sich also verhalten, und was konnten sie wagen?

Liebe als ein Geheimnis mit mehr als sieben Siegeln. Ihr Buch ist vieles, auch eine ganz zarte Liebesgeschichte, bei der sie er meisterlich schaffen, an sprachlichen Untiefen vorbeizusegeln. Wird eine Liebe, wie sie damals sein konnte, heute erst recht entzaubert? 1969 war alles möglich. Heute schlägt die Endlichkeit mit aller Heftigkeit zurück.

Das ist eine sehr schwierige Frage. War denn 1969 in der Liebe wirklich alles möglich? Zum Beispiel erotisch? Die sechziger Jahre waren die Zeit der sogenannten sexuellen Revolution, also dem gesellschaftspolitischen Ruf nach einer freieren Moral. In der Praxis, soviel wissen wir inzwischen, hat das aber meistens nicht besonders gut funktioniert, aber gerade das macht es erzählerisch reizvoll. Der Punkt ist ja: Das, was die sexuelle Befreiung wollte, war grundsätzlich richtig, nur konnten es selbst deren Befürworter damals nicht so ohne weiteres leben. Unsere Einstellung zur Sexualität ist nunmal kein Schalter, den man per Knopfdruck von gehemmt auf frei umstellen kann. Das ist ja viel tiefer in der Persönlichkeit verankert.
So gesehen sind die freiesten Figuren in meinem Roman – und das ja durchaus auch erotisch – die beiden Kinder. Für sie ist die Liebe noch in jeder Hinsicht wirklich geheimnisvoll. Sie nähern sich ihr, ohne zu wissen, wohin sie das führt. Vielleicht setzt Liebe immer ein gewisse Mass an Unwissen voraus – das könnte sein. Und je älter man wird, umso schwieriger wird es, sich darauf einzulassen. Daran hat sich in den vergangenen fünfzig Jahren wohl nicht so viel geändert. Der Unterschied ist aber, dass wir heute sehr frei darin sind, unterschiedliche Erfahrungen zu machen. Das ging in der engen Welt der Sechziger nicht. Und daran scheitert die Mutter des Erzählers.

Ist Schreiben, ein Roman, ein Gedicht nicht der Start einer Sonde in die Unendlichkeit des Seins?

Das auf jeden Fall. Ich habe gerade eine E-Mail aus Australien bekommen. Ein Deutscher hat dort auf einem Markt für gebrauchte Bücher zwischen all den englischen Thriller-Paperbacks ein Exemplar meines Buches „Sternenklar“ entdeckt und gekauft. Wenn Bücher reden könnten, würde es mich wirklich interessieren, wie das dahin gekommen ist. Auf jeden Fall hat es dem Käufer sehr gut gefallen, und er hat mir diese E-Mail geschrieben. Und es muss ja nicht gleich Australien sein. Im Moment bekomme ich viele – zum Glück sehr erfreuliche – Rückmeldungen von Lesern von „Der Sommer meiner Mutter“. Wie weit und wohin die „Sonde“ dieses Romans noch reisen wird, weiß ich nicht. Ich weiss nur, sie ist unterwegs, und das ist ein gutes Gefühl.

Autorenprotrait © Bettina Keller

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, «Freigang», erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen sind unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.

Buchtrailer

Webseite des Autors

Rezension von «Nacht der Engel» von Ulrich Woelk auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Daniel Glattauer «Vier Stern Stunden», Deuticke

Alles ist alt, in die Jahre gekommen. Frederic Trömerbusch, von dem vor sechs Jahren sein letzter Roman erschien – das Vier-Sterne-Hotel beim Kurpark, dem nicht nur der fünfte fehlt – das Immergleiche in Beziehungen, Gewohnheiten und Traditionen – und selbst die Liebe. 

Im Kur- und Kulturhotel Reichenhoffer (Kalauer) kündigt der Hotel-Juniorchef im Gastraum auf der improvisierten Bühne Professor und Schriftsteller Frederic Trömerbusch an. Ein Literaturgespräch in der langen Reihe seiner Stern-Stunden mit der Literaturredaktorin Mariella Brem. Im Kulturhotel haben Events mit Berühmtheiten Tradition. An der Wand hängen Bilder von Reinhold Messner, Martin Walser und DJ Ötzi. Mariella Brem ist glühende Verehrerin der Bücher des grossen Frederic Trömerbusch, der Gästeraum voll mit satten Kurgästen, aber das Gespräch entgleitet. Trömerbusch langweilt sich, weil er die immer gleichen Fragen fürchtet, schaut er seiner Gesprächspartnerin Brem nicht einmal in die Augen. Die Technik setzt aus und eine Frau mit Burka stört.

Der Haussegen im matt gewordenen Hotel hängt genauso schief wie der zwischen Trömerbusch und seiner viel jüngeren Begleitern, mit der er das Hotelzimmer teilt, aber das Bett eigentlich schon lange nicht mehr. Aus Lisa, die ihren Friedrich einst anhimmelte, aus dem Groupie ist eine junge Frau geworden, die sich auch ein Stück vom VIP-Kuchen abschneiden will. Sie will in Kürze als Bloggerin berühmt werden, Social Media, Kreativ Dancing, Schauspiel, Mode… Sie, die den Mann Trömerbusch wollte und ihn hatte, aber kein einziges Buch gelesen hatte, will aussteigen, aus dem kalten Bett, dem fremden Zimmer, der antiquierten Welt.

Während nach dem Debakel auf der Hotelbühne in der Bar aus der Konserve «Stranges in the Night» trällert, sitzen Juniorchef David-Christian Reichenshoffer am einen Thekenende, am andern die Literaturredaktorin Brem, die schon unter Vater Reichenshoffer die Stern-Stunden im Hotel moderierte. Es kommt auch zwischen diesen beiden zum Knall.

Alles zerbricht, Beziehungen und Traditionen genauso wie die Kultur von gestern, der Literaturbetrieb, die Literatur selbst. Glattauer spielt gekonnt mit seinen Figuren, heizt mit Emotion und Gegensätzen. So alt das Motiv des alternden Schriftstellers, der sich der Gegenwart und Zukunft entgegenzustellen versucht, so erfrischend das Leiden derer, die in dieser Komödie vorgeführt werden.
Ein Theater lesen? Ja, unbedingt. Glattauer inszeniert perfektes Schauspiel im Kopf. Ein gelungener Theaterabend im Ohrensessel vor dem Kamin mit einem Glas Wein. Gar nicht so anders wie die Stimmung im Kur- und Kulturhotel Reichenshoffer.

Daniel Glattauer, geboren 1960 in Wien, Autor und ehemals Journalist. Mit seinen beiden Romanen, «Gut gegen Nordwind» (2006) und «Alle sieben Wellen» (2009), gelangen ihm zwei Bestseller, die in zahlreiche Sprachen übersetzt und auch als Hörspiel, Theaterstück und Hörbuch zum Erfolg wurden. Im Deuticke Verlag sind auch die Romane «Ewig Dein» (2012) und «Geschenkt» (2014) sowie die Komödien «Die Wunderübung» (2014) und «Vier Stern Stunden» (2018) erschienen.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Franco Supino «Wie die alten Römer», Plattform Gegenzauber

Sie war hübsch, schlank, weiblich und auf den zweiten Blick weniger jung, als er angenommen hatte.
Darf ich Sie zu einem Kaffee einladen.
Nein.
Darf ich Sie ein ander Mal zu einem Kaffee einladen?

Er hielt sich für einen Mann ohne Plumpheit. Für einen, der so etwas nicht nötig hat. Wenn nicht irgendeinmal alle Frauen, die ihm in Reichweite schienen, vergeben oder verbraucht gewesen wären. Und ein Freund ihn nicht gefragt hätte: Wozu kaufst du eigentlich diese blöden Lotterielose, du weist ja, dass man nie gewinnt.
Ich glaube nicht ans Glück, sagte er sich. Aber an den Zufall. Alles ist Zufall.

Also begann der Glücklose hin und wieder auf gut Glück Frauen anzusprechen. Ohne Not. Er war nicht ungern allein und nicht ungern ungebunden. Und er fühlte sich jung.
Das musste auch die schöne Mittvierzigerin spüren. Die sich noch nie von einem Wildfremden auf einen Kaffee hatte einladen lassen. Klar. Dafür hatte er einen Sinn. Sie hatte keinen langweiligen Mann und keine lästigen Kinder zuhause. Sie kam zurecht im Leben, auch ohne ihn.
Auf einen Kaffee?
Er gab ihr seine Nummer und war sich sicher, dass sie sich nicht melden würde.

Bald hatten sie alle Schranken überwunden und wurden ein Paar.
Dass es so gekommen war: Zufall! Glück!
Sie war auch für den erfahrenen Mann aussergewöhnlich. Ihr Berufsweg beispielsweise: Nach dem Abitur Schreinerlehre (weil sie keine Erwartungen als Tochter und Frau mehr erfüllen mochte). Dann Psychiatriepflegerin. Überstürzte Heirat mit einem genialen geisteskranken Fotografen. Vier Jahre Leidenszeit mit tragischem Ende. Flucht. Reisen. Zu Fuss durch Usbekistan allein als Frau. (Das ist ganz anders, als du dir das vorstellst. Was du vielleicht über solche Länder gehört hast. Absolut ungefährlich und vor allem herzlich, menschlich bereichernd). Zurück und unklare berufliche Ambitionen. Meeresbiologie nach zwei Semestern abgebrochen. Dann Jusstudium in Rekordzeit bis zur Promotion. Arbeitete jetzt für eine Menschenrechtsorganisation in Genf. Dass sie an dem Tag in dem Tram sass: Zufall. Sie hatte eine Gastprofessur an der Uni inne, meist fuhr sie am gleichen Tag zurück. Manchmal blieb sie über Nacht in einem Hotel und fuhr erst am Morgen. Die Mutter lebte in einem Pflegeheim ausserhalb der Stadt. Deshalb dachte sie darüber nach, sich hier eine Wohnung zu mieten und zu pendeln.

Sie sahen sich wöchentlich. Manchmal an Wochenenden. Als ihr Lehrauftrag auslief, überraschte sie ihn. Sie hatte für sich eine kleine Wohnung gefunden. Die in Genf behielt sie. Sie hätte auch bei ihm einziehen können, aber das wollte sie nicht.

Er fuhr nie zu ihr. Hatte keinen Sinn. Sie hätte keine Zeit gehabt. Sie war weltweit unterwegs, stark eingebunden. Imponierend. Und dass sie trotzdem immer wieder Zeit für ihn und ihre demente Mutter fand, herfuhr. Sie war ein Juwel. Er hat einfach Glück gehabt. Nicht das Millionenlos-Glück. Das einfache, unerzwingbare Glück.

Sie war auch deshalb schön, weil sie nicht perfekt war. Ihr Busen und ihre Pobacken hingen. Wenig, aber deutlich. Es machte ihn fast verrückt vor Lust.
Er hatte immer schönere Frauen gehabt. Sportlich, durchtrainiert, wie er. Noch nie fühlte er sich körperlich so angezogen.
Er erkannte sich nicht mehr. Er musste sich nicht rechtfertigen. Sie wies ihn nicht zurück. Auch wenn er ein zweites Mal. Ausser einer Spur Ungeduld, wenn es etwas länger dauerte, meinte er nichts wahrzunehmen.
Nicht dass er das Gefühl hatte, es mache ihr Freude, sie brauche das.
Es hätte demütigend führ ihn sein können. Anstrengend. Er war sich gewohnt gewesen, Frauen auf Händen zu tragen, und doch stets das Gefühl vermittelt zu bekommen, sich nicht genug zu bemühen.
Bei ihr war es nicht so. Sie fand etwas in ihm. Irgendetwas, das sie schätzte, brauchte und dass ihn keine Anstrengung kostete. Auch wenn er nicht wusste, was es war. Es war so. Was wollte er mehr? Wozu grübeln?

Glück macht nicht misstrauisch, das weiss man. Wir passen einfach zusammen, sagte er sich. Glück macht blind und dumm? Von mir aus.

Einmal reiste er zu ihr nach Genf. Er verbrachte während einer UNO-Konferenz einen Tag in ihrer Nähe. Sie stellte ihn als Mitarbeiter vor. Sie nahm ihn zu Meetings mit. Acht zählte er bis am Abend. Es war ein sehr erfolgreicher Tag, bilanzierte sie spätabends. Zur Feier führte sie ihn in ein Sternelokal. Ich habe den ganzen Tag kaum was gegessen, sagte sie. Er schon. An jedem Meeting gab’s Essen und er langte immer zu. Sie liessen sich ein Mehrgang-Menu auftragen. Hummer, Kaviar, Gänseleber, Taubenbrüstchen. Einfach nicht zu viel von den leckeren Brötchen essen, sagte sie, sonst schläfst du schlecht. Und nicht zu viel Wein!
Er schlief misserabel. Er hatte viel zu viel gegessen.
Sie musste am nächsten Tag früh raus. Er wollte nichts Frühstücken. Er sah sie am Tisch sitzen und sich Brötchen schmieren. Ich fahre gleich heim, sagte er.
Vielleicht ein kurzer Spaziergang durch Genf?, schlug sie vor.
Vielleicht. Zum Jet d’eau. Den hat er noch nie gesehen.

Er betrachtete den Jet d’eau. Das Essen des gestrigen Tages lag ihm schwer auf.
Er sah und verstand.
Zufall? Nein.
Glück? Sicher nicht.

Als er zuhause ankam, fuhr er zu ihrer Wohnung und wühlte im Müll. Leer-Packungen von Fertigprodukten, Keksen, Schokolade.
Der Kühlschrank voll. Der Vorratsschrank voll. Der Tiefkühler voll.
Er entdeckte, was er längst wusste.
Bevor sie zu Bett kam, war immer sie immer als letzte im Bad, erinnerte er sich. Er hörte den Strahl plätschern. Das Würgen, wenn er vor die Tür stand. Erinnerte sich, wie er kehrt machte und sich wieder hinlegte. Und hörte, wie sie spülte und spülte.
Dass sie nach jedem Essen, auch auswärts, in der Toilette verschwand. Manchmal auch zwischen den Gängen.
Sie mache sich frisch, liess sie ihn glauben. Sie putze sich die Zähne.

Er überlegte. Was mache ich jetzt?

Er habe schon etwas vor, gab er vor, als sie das nächste Mal anrief und herfahren wollte.
Sie schlug vor, zusammen in den Urlaub zu fahren.
Er war einverstanden. Auch, dass sie ihn einlud.
Skiurlaub, eine Woche. Luxushotel mit Wellnessresort. Tolles Frühstück, Mehrgangmenu am Abend. Mittagessen auf der Piste.
Viel frische, kalte Luft. Viel Sex.
Seine Nerven wurden strapaziert.
Er schwieg, wenn sie nach dem Frühstück gleich wieder alles erbrach, was sie zu sich genommen hatte, und dann im Zimmer in einen vom Buffet geschmuggelten Apfel biss.
Eine Provokation?
Sie sah gut aus, sie war lieb, herzlich. Sie machte ihn verrückt.
Ach, dachte er, was soll ich tun? Sie im Klo überraschen? Blossstellen?
Er sah die Fäden im Klo, die der Magensaft hinterlässt, auch wenn sie zweimal spült und die Schüssel fest schrubbt.

Zuhause nahm er sich vor, sie darauf anzusprechen. Wenn sie das nächste Mal herfuhr. Ganz sicher. Nur schon aus Respekt sich gegenüber.

Er wolle mehr von ihr erfahren, sagte er.
Wie mehr erfahren?
Alte Fotos anschauen zum Beispiel.
Ok. Sie brachte Alben mit. Sie als Teenager.
Sie lacht auf vielen, hat verfärbte Schneidezähne.
Ja, die Zähne seien ihr Schwachpunkt.
Jetzt sind die Flecken weg. Wie ist das möglich?
Sie habe Magenprobleme. Seit jeher, sicher seit sie 13 ist. Magensaft steige oft in ihre Mundhöhle und greife die Zähne an. Deshalb habe sie sich Kissen auf die Zähne auftragen lassen. Dieser Aufbau helfe, die Zähne zu erhalten, und habe auch gleich noch kosmetische Wirkung.

So lang geht das schon so?
Er sprach ruhig, ohne eine Spur von Vorwurf. Seit du 13 bist? Du musst zum Arzt, sagte er. Dringend.
Was meinst du? fragte sie.
Was wohl! Ich halte das nicht aus. Verstehst du? Das kann man nicht aushalten.
Du irrst dich. Sie lächelt.
Es ist ihm, als würde sich das nicht zum ersten Mal zu jemandem sagen. Als sei sie gut vorbereitet.
Ich habe dir doch erzählt, dass ich Magenprobleme habe. Von klein auf. Immer, wenn ich esse, habe ich dieses saure Aufstossen. Und dann muss ich ein bisschen was rausgeben. Aber nur wenig. Ich bin deswegen auch schon in ärztlicher Behandlung. Ich bekomme mein Problem zunehmend in den Griff, sagt auch mein Arzt. Glaub‘ mir.

Er hatte einen trockenen Mund.
Und was sind die leeren Packungen in deinem Abfall? Die vollen Vorratsschränke, die überfüllte Tiefkühltruhe? Er sollte etwas trinken. Er sagte nichts. Möchte er ihr glauben?
Es ist nicht, wie du denkst, sagte sie. Lachte auf. Ich brauche keinen Finger in den Rachen zu stecken und schon gar keine Gänsefeder wie die alten Römer. Sie schüttelte den Kopf. Ist das wichtig? Liebst du mich denn nicht mehr?
Er hat immer noch diesen trockenen Mund.
Ist vielleicht besser, sagt sie, wenn du heute Nacht bei dir schläfst.
Sie wird sich Töpfe aufsetzen, Mikrowelle einschalten, sie wird essen zubereiten, kiloweise, schlingen, wieder auswerfen, dachte er auf dem Heimweg.

Reiche Römer, las er zuhause nach, sollen in ihren Villen eigentliche Vomitorien eingerichtet haben. Archäologische Nachweise fehlen allerdings. Man kann eher davon ausgehen, dass die alten Römer zum absichtlich herbeigeführten Erbrechen die Latrina verwendeten.

Franco Supino, geboren 1965 in Solothurn, wuchs als Kind italienischer Eltern zweisprachig auf. Studium der Germanistik und Romanistik in Zürich und Florenz. Heute lebt er in Solothurn und unterrichtet an der Pädagogischen Fachhochschule. Franco Supino erhielt zahlreiche Preise, u.a. den Preis für Literatur des Kantons Solothurn 2001.

Webseite des Autors

Ursula Krechel «Geisterbahn», Jung und Jung

Ursula Krechel erzählt in ihrem vielstimmigen Epos aus verschiedensten Familiengeschichten während und nach dem NS-Regime. Angelpunkt ist die Stadt Trier, die Stadt, in der die Autorin geboren wurde. «Geisterbahn» ist wirklich Geisterbahn, den die Geister aus der Vergangenheit werden beschworen. Die einen treten ganz deutlich aus dem Damals hervor, die andern nur noch als Kontur.

Obwohl chronologisch erzählt, schildert Ursula Krechel die Erlebnisse, Verstrickungen, Leidenswege, Untergänge und Überlebenskämpfe ihrer Protagonisten nicht wie Nacherzählungen. «Geisterbahn» ist mit dem Instrumentarium einer Lyrikerin erzählt. Drängt sich bei vergleichbaren Unterfangen eine cineastische Umsetzung auf, spürt Ursula Krechel in ihrem Roman viel mehr dem fokussierten Blick nach. Es sind nicht die raumgreifenden Kamerafahrten durch die Zeit, sondern die Einsichten in die Innenwelten der Betroffenen.

Josef Dorn irrt durch Deutschland, zuerst durch eine Tausendjährige Ewigkeit, dann durch ein unendliches Nachkriegsdesaster. Josef Dorn ist der älteste Sohn einer Schaustellerfamilie, einer stolzen Sintifamilie, die im Vorkriegsdeutschland von Stadt zu Stadt zog, mit sich selbst und der Welt zufrieden. Bis dem Patriarchen Alfons Dorn bei einer Berliner Messe der Kauf einer neuen Autoscooterbahn verweigert wird: An Zigeuner verkauft der Händler nicht. Alfons und sein Ältester Josef finden den Weg zurück zu Familie nicht mehr. Die Katastrophe von Vertreibung, Verfolgung und Vernichtung beginnt: Fünf Kinder der Dorns verlieren in Auschwitz ihr Leben, eine Tochter gerät in die Experimentenmühlen des KZ-Arztes Josef Mengele. Selbst dem im KZ geborenen Ignaz Dorn, der viel später im stillgelegten Trierer Bahnhof ein Restaurant eröffnet, wird seine Existenz von Neonazis demoliert und von der Staatsmacht gerügt, als er die Verantwortlichen mit Namen nennt.

«Geisterbahn» ist aber viel mehr als die Familiengeschichte der Dorns. Da ist der Polizistenvater, der im Roman mit Grossbuchstaben wie ein Geist immer wieder mit MEINVATER betitelt wird, eine Person, eine Stimme, die während und nach dem Krieg mit ungebrochenem Gehorsam Menschlichkeit verweigert. Oder den sich ewig anpassenden Dr. Neumeister, der nach dem Krieg Psychiater wird. Oder den mutigen Kommunisten Willi Torgau. Ursula Krechel verwebt Stimmen und Leben ineinander. So wie die Wirklichkeit es auch tut und Literatur und Erzählen allzuoft auseinander dividiert, als ob die Geschichte Ordnung schaffen würde.

«Geisterbahn» ist eine opulente Sinfonie von Stimmen, Bildern, Eindrücken, Begebenheiten, Wirklichkeiten. «Geisterbahn» überrascht und fesselt, auch wenn der Roman von mir als Leser einiges abverlangt und erst im zweiten Teil den grossen Zusammenhang offenbart, die Nähe zur erzählenden Stimme. «Geisterbahn» offenbart die Akribie der Recherche, die schiere Menge an Wissen, Einsichten und gewonnenen Zusammenhängen. Ursula Krechel ordnet und legt auseinander, besticht mit tiefgreifender Empathie. Und obwohl sie unverblümt schildert, verfällt sie nie dem Moralisieren.

«Geisterbahn» ist ein Monument in der Gegenwartsliteratur. Die Trilogie «Shanghai fern von wo», «Landgericht» (mit dem sie 2012 den Deutschen Buchpreis gewann) und «Geisterbahn» nicht bloss ein Eckpfeiler deutscher Vergangenheitsbewältigung, sondern Fixstern jener Art des Schreibens, die nicht nur Bilder vermittelt, sondern solche erzeugt. Bilder, die bleiben!

© Gunter Glücklich

Ursula Krechel, geboren 1947 in Trier, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays. Nebst vielen anderen Preisen gewann Ursula Krechel 2012 den Deutschen Buchpreis für ihren beim Verlag Jung und Jung erschienenen Roman «Landgericht».

Beitragsbild © Sandra Kottonau

«Poesie – eine Spielart der Ketzerei» Ursula Krechel

Ursula Krechel, der am 16. Internationalen Lyrikfestival in Basel der eigentliche Eröffnungsabend zur Bühne wurde, zeigte, was sie ist; eine souveräne, stilvolle Grande Dame der Literatur, eine Dichterin, die sich nur schwer einordnen lässt, nicht einmal durch Deutungen eines Literaturprofessors. Eine Ikone, eine Lichtgestalt und doch stets nah an den «Dingen» und Menschen geblieben.

Bis zu ihrem Roman «Shanghai fern von wo», der aus einem Hörspiel entstand und sich zum ersten, grossen Verkaufserfolg der Autorin entwickelte, war Ursula Krechel einem eingeweihten Kreis bekannt als Lyrikerin, Theaterautorin und Essayisten. Der Roman von 2008 über Exilanten des NS-Regimes, die nach China flüchteten und im Shanghaier Ghetto überlebten, machte sie mit einem Mal einem viel breiteren Publikum zugänglich. So wie mir, der ich nun auch die Lyrik der Autorin zu lesen begann.

2012 folgte «Landgericht», ein Roman, eine Familiengeschichte um den jüdischen Richter Dr. Richard Kornitzer, der 1947 nach jahrelangem Exil in Havanna nach Deutschland zurückkehrt und in der Konfrontation mit Schrecken und Verlust im Nachkriegsdeutschland zerbricht. Im gleichen Jahr erhielt Ursula Krechel für diesen Roman den Deutschen Buchpreis 2012, ein Preis, der für einmal mehr als verdient war.

Ursula Krechel, die 2018 mit «Geisterbahn» den dritten Roman einer Trilogie veröffentlichte, ein Roman, den die Kritik mit Recht euphorisch beklatschte, war aber schon vor ihrem Wirken als Romanistin ein Eckpfeiler der deutschen Literatur. 1977 erschien ihr erster Lyrikband, damals noch bei Luchterhand, unter dem Titel «Nach Mainz!» über den sie schrieb: «Ich hatte mir eng begrenzte Experimentierfelder ausgesucht, vielleicht der Platte eines Tisches vergleichbar, und immer war im Persönlichen das Politische, in der schweifenden Form eine Festigkeit, der ich trauen lernte; in den Gedichten begriff ich, was ich in Begriffen nie begreifen wollte.»

Über die Perspektive

«Die Welt ist voller Unruhe, alles
drunter und drüber, und noch
weiss man nichts Gewisses!»
Öden von Horváth

Einige mächtige Männer
stehen am Horizont
verdecken die Sonne
und fragen:
Wo bleibt
eure Perspektive?

Wir sagen:
Je nachdem
wo man steht
sieht man
auf den Champs Elysées
einen Dame mit Hündchen
einen rotledernen Stiefel
den Absatz eines Stiefels
oder den Dreck daran.
Je nachdem wie man blickt
sieht man auch
Bäume von weitem.
Betrachtet
die mächtigen Äste.
Der Ast einer Kastanie
erschlug hier einen Dichter.

Geht uns aus der Sonne
dann reden wir weiter
über unsere Perspektiven.

(aus «Nach Mainz!» Gedichte. Darmstadt 1977. Ebenso in «Die da» Ausgewählte Gedichte, Jung und Jung, 2013)

 

Seither sind ein gutes Dutzend weitere Gedichtbände erschienen, reihte sich Preis an Preis. Dichtung um die Frage: Was ist Nähe? Was ist Distanz? Wo liegt der Zugang zur Welt? Unerträglich sei ihr die Distanzlosigkeit. Um zu erkennen, brauche es Distanz. Daher wohl auch ihr Bedürfnis, in Essays über das Schreiben und Dichten, die Begegnung mit Welt nachzudenken. Ursula Krechels Gedichte sind ein Nachspüren eingefangener Gedanken, Sätze, die sie nie loslassen, Einsichten aus dem eigenen Lesen. Lesen als Welterfahrung, ein Heranarbeiten an Innenwelten, aus dem wiederum Lyrik, Text entsteht.

«Stimmen aus dem harten Kern» (2005) ist ein Gedichtband, der sich mit expressiver Männlichkeit beschäftigt; mit Kriegern, Soldaten, einem kollektiven «Wir», das damals, als der Band erschien, mit dem Krieg im Irak verzahnt war. Bilder in Sprache. Bilder, die Fotographien niemals zu erzählen vermögen. Dabei mehr als deutlich die Kritik, was koloniale Macht angerichtet hat und noch immer anrichtet. Ursula Krechel nimmt kein Blatt vor den Mund. «Ich habe Angst, ich verstehe nicht wirklich.»
Sie verführt, analysiert, sie beschreibt und singt. Sie spielt, mal mit Anspielungen, mal mit Verspieltheit.

Wie sehr Ursula Krechel dabei die Form wichtig ist, lässt sich in «Stimmen aus dem harten Kern» errechnen: Alles dreht sich um die Zahl 12: 12 mal 12 mal 12 Verse.

Simulation Heimkehrumkehr

1

Wo früher die kugelsichere Weste ummantelte, klebt nun
Die Creditcard in der Brusttasche des verschwitzten Hemdes

Dazwischen ein Langstreckenflug und eine sanfte Landung
Wir sind Heldendarsteller, verabschiedet, schlüpfen in Anzüge

Von Bankangestellten. Summen, die früher die Toten zählten
Sind an Zinssätze gekoppelt, Kids lümmeln mit Plastikpistolen

Stellungskrieg des Normalen; Hausbaukredite im freien Fall
Rasende Kopfschmerzen nachts, wir träumen von Rinderherden

Mit Stricken aneinandergefesselte Tiere, die wir für Feinde hielten
Niedergemetzelt im Irrtum, sie griffen uns an, wie wir ihnen contra

Wenn Aias schrie am Morgen ai, ai, als wäre sein Name ein Schmerz
Sind wir Aias, Mörder: schuldig und ruhiggestellt durch Tranquilizer.

(aus «Stimmen aus dem harten Kern» Jung und Jung, 2005)

 

Die Lücke, die Notwendigkeit auszusparen, so wie der Dialog in den Romanen der Autorin fast durchwegs ausgespart wird, braucht die Lyrikerin Ursula Krechel Sparsamkeit, die Lücke, die Auslassung das Weglassen. Ursula Krechel ist Dichterin, Verdichtern im eigentlichen Sinne. Aus dem All(es) der Sprache, dem Empfinden von Unendlichkeit bis zur Konzentration in einem Vers ist ihr Schreiben ein permanentes Suchen auf vielen Ebenen. Ursula Krechel filtert aus der Unendlichkeit sprachliche (Bau-)Prinzipien. Ihre Gedichte brechen auf.

Eintauchen!

Ursula Krechel, Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten. Sie debütierte 1974 mit dem Theaterstück «Erika», das in sechs Sprachen übersetzt wurde. Erste Lyrikveröffentlichungen 1977, danach erschienen Gedichtbände, Prosa, Hörspiele und Essays.

Ich danke dem Verlag Jung und Jung für die Erlaubnis, zwei Gedichte der Autorin in den Text einzufügen.

Beitragsbild © Gunter Glücklich

Charles Lewinsky «Der Stotterer», Diogenes

Charles Lewinsky glänzt mit Witz, beissendem Zynismus, ungebrochener Schreibfreude und elektrisierender Spannung. «Der Stotterer» ist die Geschichte eines jungen Mannes, der zurückschlägt. An den Rand gedrängt, blossgestellt und abgestempelt macht Johannes Hosea Stärckle seine Schwäche zur Stärke, seinen Makel zum Schwert. An Alexandre Dumas «Der Graf von Monte Christo» erinnert dreht ein Eingesperrter den Spiess um und wandelt seinen Niedergang zum Triumphzug.

Er sitzt in der JVA, Justizvollzugsanstalt. Wohl für eine ganze Weile. Betrügereien. Und weil ihm als Stotterer das Schreiben leichter fällt als das Sprechen, geht er auf den Deal des Anstaltsgeistlichen, den er nur Padre nennt, ein und beginnt zu schreiben. Zuerst nur an den Padre, selbstzensuriert, später auch in ein Tagebuch, ungefiltert. Er schreibt und schreibt, erzählt aus seinem Leben, zuerst mit einiger Distanz, dann immer ungehemmter, schreibt Geschichten, Briefe. Zuerst als Geschäft mit dem Geistlichen. Dieser verspricht sich Läuterung, Johannes den einen Posten als Gefängnisbibliothekar. Weg von den dröhnenden Stanzmaschinen, die einem nicht nachdenken lassen. Zuerst ist das Schreiben nur Deal, dann immer mehr Hoffnung, bis Johannes, ermutigt auch durch einen Ehrenplatz bei einem Schreibwettbewerb (ausgerechnet zum Thema Gerechtigkeit in einer Zeitschrift für Geistliche), ermuntert durch den Priester und einen Verleger immer mehr an ein Buch glaubt. So sehr, dass er befürchtet, die Zeit im Knast könnte knapp werden.

«Die Wahrheit ist ein Sicherheitsgurt für Leute, die keine Phantasie haben.»

Er hatte es nicht leicht, schon als Kind in einer Familie, die sich einer Sekte angeschlossen hatte, einem Vater ausgeliefert, der dem Bibelzitat näher stand als seiner Familie, der seinen Glauben durch Zucht und Ordnung unterstrich und seinen Sohn letztlich in die gierigen Fänge des Sektenoberhauptes Bachofen auslieferte und einer Mutter, die sich lieber an ihrer Kochschürze festhielt, als an der Liebe zu ihren drei Kindern. Nach dem Suizid der Schwester, der keiner sein durfte, und einer traumatischen Beerdigung nimmt er Reissaus, um sich aus den Fesseln seiner Familie zu befreien, flieht in eine Stadt, mittellos und ohne Bindung.

«Die Schriftstellerei ist ein Art der Hochstapelei, nur eben gesellschaftlich anerkannt und nicht strafbar. Der einzige Beruf, in dem man gelobt wird, wenn man gut gelogen hat.»

Er, dem man in der Schule auch mal «Schwächle» über den Pausenhof nachrief, findet überraschend schnell eine Arbeit. Und ganz nach dem literarischen Vorbild Felix Krull schärft er in unscheinbarer Gestalt seine Superkräfte: zum einen seine Kunst des geschliffenen Schreibens, zum andern seine Fähigkeit der Empathie! Wie nur wenig andere ist Johannes fähig, sich in die Seele eines Gegenübers zu versetzen, seine geheimen Wünsche, Sorgen und Sehnsüchte zu ergründen. Die besten Voraussetzung, um mit geschriebener Sprache, dem richtigen Ton und überdurchschnittlicher Intelligenz zu viel Geld zu kommen. Wohl auf dem Rücken eines Opfers. Aber wer tut das nicht? Tut der Padre in seinen Gefängnisgottesdiensten am Sonntag etwas anderes? Einfach ohne materiellen Gewinn.

«Geschichtenerzähler müssen keine Bekenner sein, sondern gute Lügner.»

Johannes versteht es, selbst im Gefängnis, seine Fähigkeiten als Schreibkünstler hinter der Fassade des unbeholfenen Stotterers zu seinen Gunsten einzusetzen. Es bekommt die Stelle als Gefängnisbibliothekar, erreicht die Gunst des stillen Herrschers in der JVA, des «Advokaten», die Unterstützung des Padre, der ihn soweit unterstützt, bis er als gemachter Mann die Gefängnismauern verlässt.

«Eine nette Lüge ist besser als eine unangenehme Wahrheit.»

«Der Stotterer» ist vielschichtig, raffiniert komponiert und leichtfüssig erzählt. Ich spüre förmlich die Lust des Autors an den sich überlagernden und überschlagenden Stoffen. Was aus der Geschichte des Stotterers bestimmt «autobiographisch» ist, ist Charles Lewinsky grosse Meisterschaft, sich in einen Menschen hineinzuversetzen. Ganz bestimmt mit der Einsicht, gar nicht so sehr anders zu sein. Jeder kämpft mit seinen Waffen.

Maurice Haas © Diogenes

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturg und Regisseur an diversen Bühnen gearbeitet, bevor er als Autor von Shows und Serien zum Fernsehen ging. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller, international berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger sowie den Preis der Schillerstiftung. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Anna Stern «Wild wie die Wellen des Meeres», Salis

Ava hat sich abgesetzt. Was formell ein Praktikum in einem schottischen Naturschutzgebiet ist, ist eigentlich die Insel, auf die sich Ava absetzen will, um ein neues Leben zu beginnen, all jene Fragen für sich zu beantworten, die die «untergegangene» Heimat nicht mehr beantworten konnte. «Wild wie die Wellen des Meeres» macht die Gischt spürbar, das Salz auf den Lippen, den Schmerz des Verlorenen und die Sehnsucht nach Liebe und Ordnung.

«Wild wie die Wellen des Meeres» ist ein Sedimentroman, der beim Lesen Schicht um Schicht freilegt, als sei ich der Archäologe, als würde ich die Stein gewordenen Wurzeln eines Lebens freilegen, Wurzelfaden um Wurzelfaden.

Ava ist schwanger, erfährt dies erst kurz bevor sie nach Schottland abreist. Aber sie reist trotzdem. Sie braucht Distanz zu einem Leben, dass sich in der Enge verkeilt hat. Distanz zu Paul, dem werdenden Vater, dem Mann, der nicht zu ihrem Mann an ihrer Seite werden kann, solange die Geister der Vergangenheit sie nicht in Ruhe lassen. Distanz zu ihrer Familie oder dem, was davon übrig geblieben ist, dem Tod ihrer Mutter, dem Unfall ihres Vaters und den Beinahekatastrophen um ihre jüngeren Geschwister. Distanz vor dem Gefühl, viel mehr als Heimat verloren zu haben. Distanz zu Therapie und Zwängen, aus denen sie sich nur selbst befreien kann.

Ich bin manchmal nicht ich, sagt Ava, es tut mir leid.

Die Feldstation des Reservats (Das Beinn Eighe National Nature Reserve) liegt unweit des kleinen schottischen Dorfes Kinlochewe an der Westseite des Landes mit Sicht auf Loch Maree. Ava will dort Ruhe finden, um einen Weg, vielleicht einen Ausweg zu finden. Gegen den Willen fast aller, trotz der Bedenken Pauls, ihres Freundes, der nicht verstehen will und kann, dass man Probleme gemeinsam lösen kann. Paul ist Polizist, daran gewöhnt und daraufhin geschult, dass man Probleme anpacken soll. Ava und Paul sind seit ewig ein Paar. Ava kam als junges Mädchen in Pauls Familie, ausgesiedelt aus einer Familie, der der Boden entzogen wurde. Paul, zuerst mehr ein grosser Bruder, acht Jahre älter, wird Vertrauter, Freund. Und als Ava Studentin wird, ziehen sie zusammen, in eine kleine Mansardenwohnung. Aber nicht nur die Wohnung wird Ava schnell zu eng. Es ist die Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt, auch wenn Ava sich den Fragen verweigert.

Sorgen, sagt Ava, ich mag es nicht, wenn man mit Fesseln anlegt.

Ava kämpft. Sie kämpft mit sich und der Entscheidung, ob sie ihr ungeborenes Kind behalten kann oder nicht. Sie kämpft gegen die Geister aus der Vergangenheit, die selbst ihre Träume dominieren. Sie kämpft gegen die Liebe, weil sie ihr nicht traut, weil sie sich fürchtet, damit neuen Katastrophen Platz zu geben. Sie kämpft mit Fragen an Die Welt, ohne je eine Frage an sie selbst zuzulassen. Aber sie kämpft vor allem gegen sich selbst. Ein Kampf, der sie letztlich in Lebensgefahr bringt. Ava will in ihrer Enge Weite spüren, das Meer, dieses verlorenen Gefühl Everything is going to be alright.

Anna Stern schrieb einen facettenreichen Roman, bildstark, verspielt und mit grosser Sogwirkung. Ein Roman, der die Umweltwissenschaftlerin nicht ausklammert, voller Engagement für alles, was Leben bedeutet, für die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, Fragen die Ava seit ihrer Kindheit an das Leben stellt. So wie Ava (Avis hiesst Vogel) mit zwei ungleich farbigen Augen sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft stellt, so ungleich sind Lee und Luv ihres Lebens, von abweisender Kälte wie die Winde in Schottland bis irritierende Wärme wie unter der Decke zusammen mit Ava. „Wild wie die Wellen des Meeres“, eine Collage aus Realität und Traum, Songtexten und Briefen, Familienfotos und Polaroid-Bildern, Notizen und Erzähltem.

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, lebt in Zürich. Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Seit 2018 Doktorat am Institut für Integrative Biologie. 2017 Teilnahme an der Kunstausstellung EAM Science Meets Fiction mit den Kurzgeschichten «Karte und Gebiet» und «Quecksilberperlen». 2014 erschien ihr erster Roman «Schneestill», 2016 «Der Gutachter», in dem Ava Garcia und Paul Faber zum ersten Mal auftauchen (beide Salis). 2017 folgte der Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» bei lectorbooks. Die Arbeit am neuen Roman wurde von der Pro Helvetia und dem Kanton St. Gallen mit Werkbeiträgen unterstützt.

Anna Stern liest an den Wortlaut-Literaturtagen 2019 in St. Gallen, vom 28. – 31. März. Moderiert wird die Lesung von Gallus Frei.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder aus dem Roman, mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Vielen Dank! © Anna Stern (Titelbild: © Anna Stern, nach leagueoflostcauses.com)