Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin

Vaterbücher haben Konjunktur. Christian Futscher hat eines geschrieben, das herausleuchtet, das einem beglückt, ohne verklären zu wollen. Weit mehr als eine Sammlung vergnüglicher Anekdoten, sondern eine Liebeserklärung an den Eigenwillen eines Sonderlings!

Als mein eigener Vater starb und mir klar wurde, dass es bei einer Beerdigung nicht reichen konnte, ein paar Daten und Ereignisse chronologisch aufzuzählen, wurde auch klar, wie viel mit dem Tod mitgerissen wird, wie viel Leben, wie viel Geschichte und Geschichten, wie viel Begegnung. Geschichten, die ins Vergessen abtauchen. Geschichten, die man nur lebendig halten kann, wenn sie immer wieder erzählt werden oder jemand die Kraft hat, sie aufzuschreiben.

Christian Futscher hatte die Kraft. Aber seine Sammlung von Vatergeschichten ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch eines Zurückgelassenen. Jener Vater, den Christian Futscher in seinem Buch beschreibt, ist ein Sonderling. Einer der in den warmen Monaten kellnerte und es in den kälteren der Frau überliess, morgens zur Arbeit zu gehen. Ein Mann, der das Leben von einer anderen Seite abzurollen versuchte, das Faultier zu seinem Lieblingstier machte und seinem Jungen sagen konnte, es täte ihm leid, kein ernsthafter Vater zu sein, kein Fels in der Brandung, dass er keine Geschwister habe, die Wohnung nicht hell sei, man kein Auto besitze. Ein Mann, der sich selbst in düsteren Augenblicken einen Dummkopf, Jammerlappen, Kasperl nennt. Sein Vater war ein Sonderling, einer der mit Papierröllchen und Gummi andere in der Stadt abschiessen konnte, der auf Bäume kletterte und zu zwitschern begann, der es morgens nicht aus dem Bett schaffte und nachdem ihn seine Frau gebeten hatte, doch wenigsten die welken Blumen in der Vase bis am Abend zu entsorgen, bloss die Blüten kappte und meinte, die Stängel sind noch schön gewesen. Einer, der Fremdwörter ganz sinnfrei benutzen konnte, absichtlich falsch, der seine Frau anfangs noch zur Weissglut, später in die Resignation stiess.

Christian Futscher «Mein Vater, der Vogel», Czernin, 2021, 112 Seiten CHF 30.90, ISBN 978-3-7076-0728-4

„Mein Vater, der Vogel“ ist weit mehr als ein Erinnerungsbuch, ein paar lustige Geschichten, die an einen Sonderling erinnern sollen. Es ist ein Buch über einen „komischen Vogel“, der nicht nur von seiner Umgebung als solcher wahrgenommen wird, für den sich manchmal sogar der eigene Sohn schämt. Ein Buch über einen Vater, einen Sohn und eine Mutter, eine Familie, die mit dem Auszug des Sohnes auseinanderbricht. Über einen Mann, der sich nicht um Konventionen kümmert, in einer Zeit, in der meine eigenen Eltern stets um das äussere Erscheinungsbild als Familie bedacht waren. Über einen Mann, der nicht wird, was wir erwachsen nennen, der das Kind in sich leben lässt, dessen Flügel aber dann doch irgendwann fluguntauglich werden.

Ich habe lange nicht mehr so herzhaft gelacht bei der Lektüre eines Buches. Und doch mischte sich ins Lachen eine leise Trauer darüber, dass der Vater in diesem Buch letztlich am Schluss vom Himmel fiel, dass sich der Mensch selbst seiner Freiheiten beraubt und man Lebenslust manchmal mit dem Leben bezahlt. Der Vater in „Mein Vater, der Vogel“ war ein Lebenskünstler. Etwas, was der Autor selbst in seinem eigenwilligen Schreiben ausleben kann.

Wenn es eine Lektüre gibt, mit der man sich bezaubern lassen kann, dann „Mein Vater, der Vogel“!

Interview

Als Sohn ist einem ein Vater durchaus manchmal peinlich. Und weil sich ihr Vater doch des öfteren als schräger Vögel präsentierte, waren die Peinlichkeiten auch öfter. Aus den Geschichten spricht Wehmut. Vielleicht auch ein bisschen Schmerz, ihn nicht besser verstanden zu haben?

Mein Vater ist 1982 von einem Tag auf den anderen an einem Herzinfarkt gestorben, er war erst 52 Jahre alt. Ich war damals 22. Mein Vater war ganz und gar kein schräger Vogel, sondern ein mit beiden Beinen auf dem Boden stehender Mann, der einen Beruf hatte, der mir ein Rätsel war. In der Schule sollten wir den Beruf unseres Vaters nennen, ich musste zuhause nachfragen, um dann sagen zu können: Handelskammerangestellter. Mein Vater war auch jahrelang Vizebürgermeister der Stadt Feldkirch, ein Mann der ÖVP, der aber im Gegensatz zu vielen anderen in der Partei den Wiener Parteiobmann Erhard Busek, der oft als „bunter Vogel“ bezeichnet wurde, sehr schätzte. 

Ich habe meinem Vater viel vorgeworfen, besonders schlimm nach seinem plötzlichen Tod war für mich, dass da auch ein Gefühl der Erleichterung war. Ich habe meinen Vater in vielem nicht verstanden, und es war für mich unmöglich, ruhig mit ihm zu reden. Ein paar Wochen nach seinem Tod war ich mit einem Freund eine Woche in Paris. An einem Abend, ich weiss nicht, wie wir darauf kamen, machten wir ein Rollenspiel: Mein Freund spielte meinen Vater, ich den zornigen jungen Mann, der ich auch war. Mein Freund schlüpfte so gut in seine Rolle, dass ich auf diesem Umweg ein längst überfälliges Gespräch mit meinem Vater führte, in dem ich ihm alles sagen konnte. Das Gespräch, das zwischendurch auch sehr emotional war, dauerte mehrere Stunden lang. Kurze Zeit später war ich dann zum ersten Mal fähig, um meinen Vater zu weinen. Bis dahin hatte ich noch keine einzige Träne vergossen, war ich innerlich kalt und erstarrt gewesen.

Peinlichkeiten. Mein Vater war eine imponierende respektable Persönlichkeit. Es beeindruckte mich schwer, als ich ihn einmal bei einer Rathaussitzung durch die geschlossenen Türen des Rathaussaales lautstark schimpfen hörte. Ein anderes Mal war er an unserer Schule als Politiker eingeladen, hielt vor der ganzen Schule eine Rede und beantwortete anschliessend Fragen. Ich war stolz auf meinen Vater. Ein peinliches Erlebnis, an das ich mich erinnere (ich habe in einem Buch darüber geschrieben): Freunde und ich sahen ihn aus einiger Entfernung, wie er auf der Terrasse unseres Hauses stand und mit den Händen in der Luft herumfuchtelte, als habe er den Verstand verloren. Meine Freunde lachten, ich schämte mich, obwohl ich natürlich wusste, was er tat: Er dirigierte zu der Musik, die im Wohnzimmer lief, die wir aber auf die Entfernung nicht hören konnten. Hätte ich den Satz von Gerhard Fritsch damals schon gekannt, hätte ich meinen Freunden sagen können: „Wer die Musik nicht hört, hält die Tanzenden für Wahnsinnige.“ 

Noch etwas, das mir zu Peinlichkeiten, bzw. zu Fehlern einfällt: Ich las bei einer Psychologin, dass gute Eltern 40 Fehler pro Tag machen. Als ich, inzwischen selber Vater, das zu meinem damals ca. 10-jährigen Sohn sagte, meinte er: „40 okay, aber du machst 400!“  

«Mein Vater, der Vogel» auf dem 54. Literaturblatt

Steigen Sie auch auf Bäume? Haben Sie Flügel?

Ich steige zwar nicht auf Bäume (lange her, dass ich das tat), schreibe aber immer wieder davon. Ob das etwas mit dem Affentheater zu tun hat, das ich zeitweise im Kopf habe, es also mehr mit Affen zu tun hat, als mit Vögeln? Das könnte sein. Dagegen spricht, dass Affen kaum in meiner Literatur vorkommen, Vögel jedoch sehr häufig, und zwar von Anfang an. Mein erstes Buch heisst „was mir die adler erzählt“ (visuelle Poesie, getippt auf meiner guten alten mechanischen Schreibmaschine, einer ADLER), weitere Bücher heissen: „Schau, der kleine Vogel!“ und „Dr. Vogel oder Ach was!“, und dann gibt es noch ein Kinderbuch mit dem Titel: „Ich habe keinen Fogel“.  

Während meiner Jugend hatte ich immer wieder Träume, in denen ich versuchte zu fliegen, was aber nie klappte. Irgendwann so Mitte 20 gelang es plötzlich, ich konnte mich aus jeder Gefahr in die Lüfte retten, flog auch zum Spass … Es war immer ein erhebendes Gefühl, wenn mir im Traum einfiel, dass es jederzeit möglich war, zu fliegen. Sehr intensive, beglückende, befreiende Flugerlebnisse!

Jede Generation arbeitet sich an ihren Vätern ab, vorgestern, gestern wie heute. Väterbücher haben Dauerhochkonjunktur. Warum? Und warum schaffen Sie es, daraus keinen Kampf, sondern zumindest für mich Leser, ein Vergnügen zu machen?

Ich denke, das ist einfach zu beantworten: Fast alle Menschen haben Väter, die ihnen nahe sind, mit denen sie sich auseinandersetzen müssen, mit denen sie Schönes und anderes erleben, die sie prägen, von denen sie etwas mitbekommen, denen sie ähnlich sind. Um Urs Widmer in dem Zusammenhang zu zitieren: „Die Geschichten aller sind immer die besten Geschichten.“ 

Ich habe längere Zeit Material für mein Vater-Buch gesammelt, hatte irgendwann eine Fülle von Geschichten, Episoden, Szenen, wusste aber lange nicht, was ich damit machen sollte, wie ich das Ganze stimmig unter einen Hut bringen könnte. Dann zog mein Sohn aus, ein guter Freund, der ein grosses Alkoholproblem hatte, starb überraschend, mir fiel ein tragikomisches Buch von Jean-Louis Fournier in die Hände: «Er hat nie jemanden umgebracht: mein Papa». Fournier schreibt darin  über seinen Vater, der Alkoholiker war und mit 43 gestorben ist, als der Autor 15 war. Urwitzige, aber natürlich auch urtraurige Geschichten. Ein zweites autobiografisches Buch von Fournier heisst «Wo fahren wir hin, Papa?» Darin schreibt er über seine zwei geistig und körperlich schwer behinderten Söhne, die er beide überlebt hat. Der erste Sohn starb mit 15 … Fournier ist laut Klappentext «Schriftsteller und Humorist».

Dann hatte ich irgendwann die Idee, neben den zum Grossteil lustigen Geschichten und Streichen des Vaters die Geschichte einer Ehe und einer Krankheit anzudeuten, eine hintergründige Ebene einzubauen, einen Bogen zu spannen, so dem Ganzen mehr Tiefgang zu verleihen. So in etwa. 

Ihr Buch ist mehr als ein Vaterbuch. Es ist auch das Buch einer Familie, eine Ehe, die nach dem Auszug des Sohnes endgültig zerbricht. Auch das Buch einer Frau, die ihren Mann nicht „halten“ kann. Ein Buch über einen Menschen, der nicht den Konventionen entspricht. Sind Sie Schriftsteller geworden, weil man als Künstler am leichtesten tun kann, was ihr Vater eigentlich auch tat?

Mein Vater war sehr kunstinteressiert, wäre am liebsten Musiker geworden, z.B. Dirigent (vom leidenschaftlichen Herumfuchteln auf der Terrasse habe ich schon erzählt), aber er musste damals ein kurzes Studium wählen, ausserdem eines, das ein rasches und sicheres Einkommen garantierte, also Jus (sein Vater war mit 46 gestorben, da war mein Vater 16, sein Bruder ist mit 12 gestorben, da war er 11) … Als Schriftsteller kann man alles werden, was man will, und wenn es nur auf dem Papier ist. Jetzt könnte ich noch zwei schöne Zitate bringen, lasse es aber bleiben. Nur so viel: Das eine ist von Franz Hohler, darin geht es darum, die Tür zum Kinderzimmer offen zu lassen, das andere ist von Kurt Vonnegut, in dem es darum geht, dass wir auf Erden sind, „to fart around“.   

Gibt es Fragen, die Sie Ihrem Vater versäumt haben zu stellen? Welche?

Was hast du als Handelskammerangestellter den ganzen Tag gearbeitet? Wie war dein Vater, über den ich leider so gut wie gar nichts weiss? Ist dein Vater wirklich manchmal im Hauseingang gelegen und hat seinen Rausch ausgeschlafen, weil ihn deine Mutter nicht in die Wohnung liess? Wie war das für dich, als dein Vater starb? Wie war es, als dein Bruder starb? Der soll sehr begabt gewesen sein, stimmt das? Wie war das für dich neben dem „Wunderknaben“? Darf ich die gezählten 92 Briefe lesen, die du als junger Mann deiner späteren Frau/meiner Mutter geschrieben hast? Wo sind die Briefe hingekommen? – Die letzte Frage muss ich meiner Mutter stellen.  

Welches Buch hat Sie in den letzten Monaten nicht losgelassen? Und warum?

Neben dem Ulysses von James Joyce, den ich zum ersten Mal bis zum Ende gelesen habe, weil ich für die sogenannte Joyce-Passage in Feldkirch eine „Joyce-Installation“ entwickelt habe (ein Comic, in dem übrigens auch ein Vogel zu sehen ist, der ähnlich aussieht wie der auf dem Cover meines Vater-Buches!), die noch bis April zu sehen sein wird, war es ein Buch, das mir ein Freund empfohlen hat: Die Insel Felsenburg von Johann Gottfried Schnabel. Nach der Lektüre habe ich dem Freund in einer E-Mail Folgendes geschrieben: „honetter rainer, ‚die insel felsenburg’ von schnabel […] was für eine lustige sprache, ich meine ergötzliche! voritzo admiriere ich diese eigenmündliche sprache sehr, die mich ungemein divertiert, die vermögend ist, das einwurzelnde melancholische wesen aus meinem gehirne zu vertreiben. derowegen nahm ich allhier und allda doch immer zuflucht zu den büchern! zum glück ist mir bis jetzt die erschreckliche zerscheiterung eines schiffes erspart geblieben, nunmehro möge mein schicksal auch weiterhin kontinuieren mich höflich zu traktieren … 
2500 druckseiten waren es bei schnabel, sein huber [Florian Huber, mein Lektor bei Czernin, der meinen ‚Vogel’ ordentlich gestutzt hat] hiess tieck, allerdings kürzte tieck das werk erst ca. 100 jahre nach schnabels tod zusammen, meine huber tat es schon zu meinen lebzeiten … was mich jetzt auch noch interessieren würde, sind schnabels bücher ‚Der im Irrgarten der Liebe herum taumelnde Cavalier’ und ‚Der aus dem Mond gefallene und nachhero zur Sonne des Glücks gestiegene Printz’. hast du die zwei gelesen? soll ich auch? schnabel hat ja barbier gelernt, arbeitete auch als solcher. bitte zeitreise, ich will den herrn kennenlernen!“   

… und übrigens: Der Drochl Verlag, der Bücher von Christian Futscher herausgibt, pflegt eine ganz besondere Reihe: Handgebundene Schmuckstücke in einem Schuber in Kleinstauflage für «Feinschmecker». So wie «Nidri. Urlaub total» von Christian Futscher (Hier der Link)!

Christian Futscher, geboren 1960 in Feldkirch, Studium der Germanistik, lebt seit 1986 in Wien, wo er u. a. Pächter eines Stadtheurigen war. 1998 erfolglose Teilnahme beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt, dafür 2006 Publikumspreis bei der «Nacht der schlechten Texte» in Villach. 2008 Gewinner des Dresdner Lyrikpreises. 2014 österr.-ungarisches Austauschstipendium. Seit 2010 Verfasser von Schulhausromanen mit Schulklassen. 2015 Aufenthaltsstipendium in Schloss Wartholz und 2016 in Winterthur.

Beitragsbild © Magdalena Tuertscher

Felicitas Korn «Drei Leben lang», Kampa

Ein einziger Augenblick kann eine Katastrophe provozieren. Und dieser eine kurze Augenblick kann sich zu einem nie endenden Sturm auswachsen, aus dem es keinen Ausstieg gibt. Felicitas Korn, die sich bisher als Drehbuchautorin und Filmregisseurin einen Namen machte, weiss ganz genau, wie sie mich mit ihrem feinen Geflecht einspinnen kann!

Felicitas Korn liest am 16. Thuner Literaturfestival «literaare» vom 28. – 30 Mai 2021. 

Wenn es der Virus zulässt, wird Felicitas Korn an den 16. Literaturtagen „literaare“ in Thun Ende Mai lesen. Dieses Buch allein ist den Weg nach Thun wert! Ihr Roman „Drei Leben lang“ ist raffiniert erzählt, mit einem erstaunlichen Gefühl für Nähe und Distanz, Bildern, die viel mehr erzeugen, als das, was sie zeigen.

Eine Familie fährt mit dem Auto nach Spanien in die Ferien. Vater am Steuer, Mutter daneben, Sohn und Tochter auf der Rückbank. Aber in einem Tunnel wird aus der Abenteuerfahrt in den Süden ein nie enden wollender Alptraum. Es kracht. Die Eltern verbluten zwischen Metall und Beton. Die Kinder rettet man. Michi und Xandra landen in einem Übergangsheim. Und weil sich Michi für seine jüngere Schwester verantwortlich fühlt, büxt er mehr als einmal aus. Zuerst weil er Poppy für seine Schwester holen soll und später, weil er weiss, dass man sie vielleicht nicht an den selben Ort, ins selbe Heim, in die gleiche Familie schicken will. Michi will den kleinen Rest, der geblieben ist, zusammenhalten. Und er glaubt nicht an die vielfach ausgesprochenen Beteuerungen, man wolle nur das beste für sie beide. Und weil Michi immer mal wieder an der Seite seines Vaters an Autos herumschraubte, hofft Michi auf Aziz, den Mann in der Werkstatt, mit dem sich sein Vater so gut verstand. Vielleicht ist Aziz seine Hilfe.

Felicitas Korn «Drei Leben lang», Kampa, 2020, 304 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978 3 311 10025 6

King hat sein Kingdom, endlich. Er glaubt, sich lange genug den Arsch aufgerissen zu haben für den Schuppen in Frankfurts Innenstadt, dort wo das Leben brodelt. Wenn er in seiner protzigen Loft über den Dächern der Stadt aufwacht und sich die erste oder auch noch eine zweite Linie durch die Nase hineinzieht, ist jeder Tag wie ein neuer Feldzug im Kampf auf dem Weg ganz nach oben. Auch ein Kampf um Jana, die Unberührbare, seine Schneekönigin, die er von der Seite seines mächtigen Partners und Ziehvaters Mekki abwerben will, die so etwas wie das Tor zu seiner Glückseligkeit werden soll. King glaubt, vor dem ganz grossen Durchbruch zu stehen, das Geschäft mit dem weissen Pulver ganz neu aufmischen zu können. Mit seinen Verbündeten bis nach Südamerika, seinem Leinenhund bei der Polizei und Jana, seiner Göttin des Mondes, glaubt er, unaufhaltsam und unwiderstehlich zu sein.

Und Loosi, einer, den ein erneuter Absturz, ein neuer grosser Suff wohl endgültig unter den Boden bringen wird, dem der Arzt beim letzten Mal Magenauspumpen erklärt, es werde nicht noch einmal ein nächstes Mal geben. Loosi ist ein Loser. Und ausgerechnet er hat sich bei einer der angeordneten Gruppentherapien der minderjährigen, tablettensüchtigen Sanni angenommen. Sie hausen draussen, an den fransenden Rändern der Stadt. Und weil das Leben Geld kostet, weiss Loosi, dass ihm irgendjemand aus der Patsche helfen muss, denn er weiss doch, wie man die Karre zum Laufen bringt.

Drei Leben, drei Existenzen. Drei Leben, die genausogut hätten anders werden können. Drei Leben, bei denen es irgendwann begann, „schief“ zu laufen. Ganz langsam oder urplötzlich wie beim 14jährigen Michi, der eigentlich nur eines will, sich selbst und seine Schwester Xandra retten. So wie King sich selbst und Jana retten will und Loosi Sanni.

Felicitas Korn erzählt aber nicht einfach vier mehr oder weniger aus dem Ruder laufende Existenzen. Die Schriftstellerin und Filmemacherin erzählt mit dem Blick einer Cineastin, mit dem perfekten Gefühl für den Schnitt und dem Verweben von mehreren Erzähl- und Zeitebenen. „Drei Leben lang“ erklärt nicht. Vieles bleibt in der Schwebe, lässt mich nach dem Ende einer gebannten Lektüre nicht los. Felicitas Korn fesselt mich mit meinen eigenen Bildern!

Interview

Die drei Leben kippen zwischen der Sehnsucht, nicht alleingelassen zu werden, irgendwo zuhause zu sein, Geborgenheit zu fühlen und der Verzweiflung, alles immer wegbrechen zu sehen. Das ist Angst. Was kann Sicherheit geben?

Zunächst muss eine bestimmte materielle Grundsicherung gegeben sein, um sich sicher zu fühlen. Das ist z.B. bei Loosi nicht mehr der Fall. Gesund zu sein, ist auch sehr beruhigend. Ausserdem und v.a. denke ich, dass das Gefühl, geliebt zu werden und jemanden zu lieben, Sicherheit gibt. Geborgenheit, Verbundensein, Aufgehobensein. Michi, King, Loosi verlieren dies viel zu früh, finden es nicht mehr und/oder geben die Hoffnung schliesslich auf, dass sie es nochmals finden könnten. Das ist das Kernthema von „Drei Leben lang“.

„Jeder stirbt an dem beschissensten Gefühl, das es gibt. Der Einsamkeit“, sagt Loosi. Mit dieser Erkenntnis ist Loosi nicht allein. Er teilt die milliardenfach. Dieses beschissene Gefühl grassiert. Ausgerechnet in einer Welt, die sich so vernetzt wie nie zeigen will. Ist Liebe, Familie, Freundschaft nur eine vorübergehende Betäubung? Schlussendlich stirbt doch jeder allein.

Ich denke, dass Liebe, Familie und Freundschaft (a.o.) eine der absolut wichtigsten Dinge im Leben sind, und auch den Sinn des Lebens speisen. Der Sinn ist meines Erachtens, seinen Platz im Leben zu finden, und seine Talente, sein Können, seine Individualität einbringen zu können in die Gemeinschaft. Wenn es aber keine Gemeinschaft gibt, leben wir nur im luftleeren Raum, und dann sterben wir an dem „beschissensten“ Gefühl der Einsamkeit. Dass wir letztlich alle allein sterben, ist natürlich ein Fakt und traurig. Aber ich denke, dass es möglich sein kann, trauernd, oder auch glücklich zu sterben, wenn wir auf ein erfülltes Leben zurückblicken können.

King sieht von seiner Loft hinunter auf die Strassen der Stadt. Auf die Ameisenmenschen, die Tag für Tag zur Arbeit gehen, morgens im Dunkeln aufstehen und abends erschöpft vor der Glotze einschlafen. Die Welt der Kinohelden, Sportidole und Glamoursternchen suggeriert schon den Kindern, dass das Ameisenleben nur etwas für Verlierer und Gescheiterte ist. Man lese in den Freundschaftsbüchern der Kinder, was sie einmal werden wollen! Vor allem Jungs! Auf der einen Seite die heftig geführte Genderdiskussion, auf der andern die kleinen Macker auf Pausenhöfen. Diskutieren wir nicht zu oft über das Falsche?

Ja, wir, die Medien, die Meinungsmacher, die Politiker diskutieren meines Erachtens zu oft über das Falsche. Selten geht es um wahre Werte und die Ursache der Probleme. Meist geht es um Geld, Macht, Ego, Selbstdarstellung. Dass so die narzisstische Prägung der Gesellschaft immer mehr Futter bekommt, ist offensichtlich ein grosses Problem unserer Zeit. Man bedenke zB. Fake News und Komplettverweigerer von belegten Tatsachen. Dass es zB. immer noch Menschen gibt, die die Klimakatastrophe für eine Lüge halten oder die Notwendigkeit der AHA-Regeln für unnötig, ist ein Irrsinn, der einfach nur noch absurd ist, aber leider Realität.

Das sich die Leben von King und den beiden Kindern Michi und Xandra verhängnisvoll kreuzen, blitzt nur in einem einzigen Satz durch. Ein Satz, der durchaus das Kapital für ein ganzes Kapitel gehabt hätte. Aber damit splittern sie die Geschichte geschickt, erzählen, wie man es im Film wahrscheinlich so nicht kann. Wo liegen die grössten Unterschiede zwischen filmischem und literarischem Erzählen?

Beim Drehbuchschreiben geht es vor allem um Handlung, um den Kern-Plot, und als Drehbuchautorin arbeitet man immer als erste Kreative eines langen Prozesses. Sukzessive kommen während der Arbeit immer mehr Menschen dazu, die ihren Teil beitragen. Ausserdem müssen die DrehbuchautorInnen aus Kostengründen dann auch immer mehr ändern, kürzen. Film ist zunehmend eine kreative Dienstleistung für einen harten Markt, die in einem grossen Team erfolgt und einem meist stark begrenzten Budgetrahmen unterliegt. Oft müssen DrehbuchautorInnen im Prozess viel Frustration ertragen, zumindest sehr offen sein, bis ihre Geschichte nicht selten grundlegend verändert und zusammengestaucht, mit dem fertigen Film das Licht der Welt erblickt. Und die Regie ist im Grunde v.a. kreative Projektleitung. Regie hat viel mit Organisation zu tun, man muss parallel denken und planen können, alle Departments im Blick behalten, für wen wann was wichtig ist und wie du in einem bestimmten Zeitrahmen alles sicher nach Hause bringst. 

Der Roman bietet dem gegenüber eine grosse Freiheit. Hier spricht erstmal niemand mit, hier gibt es keine finanziellen Beschränkungen, ausser der, dass der Lebensunterhalt verdient werden muss, und zu einem späteren Zeitpunkt arbeiten Schreibende meist mit nur ein oder zwei Leuten weiter; dem Lektor und dem Verleger. Das ist eine überschaubare Runde, und auf eine gewisse Weise ist in meinem Empfinden die Arbeit an einem Roman wie Drehbuchschreiben und Regieführen in Einem. Die Welt, die man im Film mit der Regie kreiert (die Feinheiten der Figuren, das Innenleben, die Inszenierung, die Bilder, die Farben, die auditive Ebene, der Rhythmus) – das alles macht man im Roman mit Worten.

Auch die Geschichte, die Herkunft von Jana bleibt nur angedeutet. Genauso die Geschichte um den Vater von Michi. Im realen Leben bleibt vieles angedeutet, das meiste. Ausgerechnet in der erzählenden Literatur wird in der Regel hell ausgeleuchtet. Seit die Nabelschau zur einer eigentlichen Gattung geworden ist, erst recht. Verwechseln wir Tiefgang mit  der Helligkeit des Ausleuchtens? 

Das finde ich eine sehr treffende Bezeichnung. Mehr Tiefgang statt Ausleuchten und Nabelschau würde sicher helfen, dass Bildung weiter fortschreitet, die Menschen glücklicher werden und unser Planet vielleicht noch gerettet werden kann.

Meistens lese ich nach der Lektüre noch einmal das Zitat, das die meisten Schreibenden an den Anfang eines Buches setzen. Das ihrige von Marc Aurel ist wie ein Thema; „Nicht den Tod sollte man fürchten, sondern dass man nie beginnen wird zu leben.“ Wann beginnt man zu leben?

Ich denke, man beginnt zu leben, wenn man nicht mehr mit dem Überleben beschäftigt ist, sondern das Leben als solches erfährt. Materiell, emotional und geistig. 

Felicitas Korn, geboren 1974 in Offenbach am Main, ist Drehbuchautorin und Filmregisseurin. Werke sind u.a. der Musikclip zum gleichnamigen Hit Supergirl der Band Reamonn, der Kurzfilm nass mit Bela B. von der Band Die Ärzte und der Spielfilm Auftauchen, der nicht zuletzt aufgrund seiner «Radikalität und Konsequenz» (FBW) internationales Aufsehen erregte.
In den letzten Jahren schrieb sie auch immer wieder für verschiedene Fernsehformate. «Drei Leben lang» ist Felicitas Korns erster Roman, dessen Verfilmung sie gerade vorbereitet. Sie lebt und arbeitet in Berlin.

Webseite der Autorin

«literaare» Literaturfestival Thun vom 28. – 30. Mai 2021

Beitragsbild © Barbara Rohm

Christoph Simon «Die Dinge daheim», edition taberna kritika

Das kann so nur ein Schriftsteller! Vielleicht gibt es unter den SchriftstellerInnen auch nur ganz wenige, die es können, die es wirklich können. Und vielleicht ist Christoph Simon einer der ganz wenigen, die es meisterlich können: Den Dingen Leben einhauchen.

Christoph Simon zeichnet seine Dinge, all das, was er täglich benützt, was in seiner Wohnung steht, das eine verborgen, nur selten zur Hand genommen, das andere immer wieder. Er zeichnet sie mit Stift und Worten. Mit Stiften klar umrissen und mit Worten aufgebrochen und ausgefüllt, mit Leben und Seele: Die konservative Stimmgabel, die Spülmaschine, die zum Ort der Begegnungen wird, der nachdenkliche Staubwedel, der eingebildete Stöckelschuh, Madame Kuhn Rikon, die alte Pfanne in der Küche mit ihren Kratzern und Verbrennungen. Christoph Simon gibt den Dingen eine Seele, lässt sie reagieren, antworten, erkennen und zweifeln.

Ich wohne im Parterre. Als ich an diesem kleinen Bericht schrieb, fuhr ein fettes, schwarzes Auto auf den Besucherparkplatz vor der Tür. Ein Mann mit Krawatte und Mappe entstieg dem sichtbar teuren Gefährt, schloss die Tür und verriegelte seinen Schlitten mit seiner Fernbedienung. Er blieb einen kurzen Moment stehen, blickte zurück, einen Moment länger, als nur festzustellen, ob das Auto mit seinen Blinkern zwinkert. Es war der Blick eines besorgten Vaters, der nicht sicher ist, ob er seinen Schützling so ganz allein an einem fremden Ort sich selbst überlassen darf. Christoph Simon hätte dem Auto eine Stimme gegeben, hätte den Blick der sich entfernenden Biomasse nicht nur erwidert, sondern verbalisiert.

Christoph Simon «Die Dinge daheim», edition taberna kritika, 2021, 80 Seiten, CHF 15.00, ISBN 978-3-905846-61-4

Christoph Simon vermenschlicht die Dinge mit voller Absicht. Nicht aus Bewusstseinsgründen oder um das spezifische Gewicht der Dinge zu erhöhen. Christoph Simons Schreibe ist ein Spiel mit den Dingen. Er atmet den Dingen Leben ein, lässt sie unser eigenes Tun und Lassen spiegeln. Und Christoph Simon tut er meisterlich, in köstlicher Manier, sodass man den eigenen Dingen mit einem Mal ebenfalls versucht ist, Stimmen zu geben. Eigentlich müsste man das Büchlein in lauter Sprechblasen zerschneiden, um sie den Dingen überall an die Kontur zu kleben. Was Christoph Simon tut, hat etwas fein Subversives. 

Christoph Simon weiss, wie Dialog funktioniert. Auch den Dialog mit sich selbst. Er weiss es, weil er auf der Bühne steht und unmittelbar gezeigt bekommt, ob im Hinundher ein Wiedererkennungswert liegt oder nicht. Und doch sind die kleinen Miniaturen viel mehr als nur Minutengeschichtchen. Sie spiegeln die Welt des Menschen; all die Eitelkeiten, Eigenheiten und Einbildungen.

Man kaufe das Büchlein und stecke es in die Westentasche. Dann wird das Warten bei der Ärztin, die Fahrt im Zug, die Minuten im Bus zum reinsten Vergnügen!

Leseprobe auf der Homepage der edition taberna kritika

Christoph Simon, geboren 1972 im Emmental, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Er ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018 und zweifacher Schweizer Meister im Poetry-Slam. Seine Romane (u. a. «Spaziergänger Zbinden», «Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen») sind in mehrere Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Zu seinen Dingen daheim pflegt er ein entspanntes Verhältnis.

Rezension von «Swiss Miniatur» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Michael Isler

Michèle Minelli «Chaos im Kopf», Jungbrunnen

Michèle Minelli hat schon mit ihrem ersten Jugendroman „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ keinen Wohlfühlroman, kein Geschichtchen geschrieben. Als Roman mitten aus dem Kampfgebiet Familie zeichnete die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ als „Buch des Monats Oktober 2018“ aus. Ihr neuer Roman „Chaos im Kopf“ steht dem Vorgänger in nichts nach!

Das Fenster meines Arbeitsplatzes öffnet sich direkt zum Eingang meines Schulhauses. Und selbst wenn das Fenster geschlossen ist, kann ich den Gesprächen der Jugendlichen unter meinem Fenster zuhören. Die Nische unter diesem Fenster ist abends und an Wochenenden zu einem regelrechten Treffpunkt geworden. Manchmal sind die Gespräche und Brunftlaute derart deutlich und penetrant, dass das Zuhören unvermeidlich wird und mich von meiner Arbeit wegreisst. Dann sitze ich da und höre nur mehr zu, staune darüber, wie weit ich mich von der Welt der Jugendlichen entfernt habe, obwohl ich mit Kindern arbeite, kippe weg in Erinnerungsfetzen meiner eigenen Jugend, um unsicher darüber zu werden, ob damals wirklich alles so ganz anders war.

Zu glauben, dass die Welt von Jugendlichen noch weit weg vom Ernst des Lebens sei, ist fatal. In so unsicheren Zeiten wie diesen noch viel mehr, wo Jugendliche schlicht nicht mehr wissen, wie und wo sie sich austesten sollen. Wie sehr das Leben einer Jugendlichen bedrohlich werden kann, beschreibt Michèle Minelli in ihrem neuen Jugendroman „Chaos im Kopf“. Doch „Jugendroman“ ist ein Etikett. „Chaos im Kopf“ ist ein Fenster in eine Welt, die allzu leicht und allzu schnell unterschätzt und mit Vorurteilen verzerrt wird. Umso wichtiger und hilfreicher, dass es Autorinnen wie Michèle Minelli gibt, die mit derart viel Empathie und Unmittelbarkeit eine Welt eröffnen können, die sich in der eigenen Erinnerung verklärt. 

Michèle Minelli «Chaos im Kopf, Antonia – vierzehn-dreiviertel», Jungbrunnen, 2021, 220 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7026-5954-7

Antonia ist vierzehn-dreiviertel, noch eintausendeinhundertsiebzig Tage, bis sie sich volljährig aus den Fesseln ihrer Mutter, ihrer Familie, ihrer Rolle losreissen kann. Angi, ihre Mutter, demonstriert ein ganz eigenes Verständnis von Fürsorge, Mutterpflichten und Nestwärme. Ihre Mutter versetzt Antonias Reitstiefel zu Geld und öffnet einem neuen Lover die Wohnung. Man macht ihr die Schule zum Spiessrutenlauf mit der wiederholten Aufforderung endlich ernst mit der Suche nach Schnupperstellen. Charlie, der Neue ihrer Mutter, rückt ihr mit unmissverständlichen Unzweideutigkeiten auf die Pelle und ihre Freundin Emmi wendet sich als mutierte Streberin mit einem Mal von ihr ab. Alles wankt. Alles droht in einem endlos scheinenden Chaos zu versinken. Dabei will sie nur das eine; ihren Platz in einer Familie, die sie trägt und eine Perspektive für ihren grossen Traum. Antonia möchte Filmregisseurin werden. 

Aber wer Filmregisseurin werden will, braucht das Gymnasium, gute Noten, Lehrpersonen, die daran glauben und, wenn es den Papa nur als Erinnerung gibt, wenigstens eine Mutter, die mitträgt. Aber Angi hat ganz anderes im Kopf, als die fürsorgliche Mutter zu spielen, weder für Antonia noch für ihre beiden Schwestern, schon gar nicht für ihre kleine Schwester Pippa. Antonias Mutter ist eine notorische Leugnerin und Lügnerin, die alles nach ihrer Fasson drückt, die Vergangenheit und wenn nötig auch die Zukunft. Sie ist von sich als Künstlerin überzeugt, wenn nicht an Resultaten gemessen, dann ganz sicher als Lebenskünstlerin. Dass sich ihre Kinder nach der Pflichtschulzeit aus den Fängen des Staates lösen sollen, ist Maxime. Und seit Charlie, der Neue, in der Familie mitmischt, ist der Gang durch die Zeit erst recht hochexplosiv.

Irgendwann sitzt Antonia auf dem Dach einer alten Ziegelei, restlos verzweifelt, von ihren Ängsten umzingelt. Mit fast fünfzehn erwartet die Welt einen Plan. Aber selbst wenn man einen solchen hat und man noch eine Ewigkeit von der Volljährigkeit entfernt den Kampf ganz alleine ausfechten soll, braucht man Beistand, Zuneigung, ganz wörtlich verstanden. Michèle Minelli beschreibt einen Kampf, den Kampf mit jenen Ängsten, die einem zu lähmen drohen, die einem in Situationen zu treiben vermögen, die keinen gangbaren Ausweg mehr andeuten. Antonia merkt, dass sie ausbrechen muss. Dass dieser Ausbruch nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Dass es ein Kampf um viel mehr ist, als eine geregelte Ausbildung und einen festen Platz in der Welt.

Interview

Erwachsene bilden sich sehr oft ein, dass ihre Probleme viel die schwergewichtigeren seien als die von Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt darum, weil viele vergessen und verdrängen, was sie einst so sehr beschäftigte, weil sich der Mantel der Verklärung über die Kindheit legt, je älter man wird. Probleme, die die Existenz bedrohen, können nie miteinander verglichen werden. Warum tun wir es doch?

Das aktuellste Problem ist immer das schwerste. Das gilt bei Erwachsenen wie bei Kindern oder Jugendlichen gleich. Aber nicht nur neue Probleme stellen uns vor Rätsel, auch Probleme, die andauern. Und so geht es Antonia in dieser Geschichte: Zu ihrem andauernden Problem – der Lernfeindlichkeit in ihrem Elternhaus – gesellen sich neue Probleme dazu. Bis es ihr zu viel wird. Weshalb wir Probleme miteinander vergleichen, weiss ich nicht sicher. Meine Vermutung ist, dass in einem ernsthaften Vergleich der Versuch liegen könnte, eine Art Ordnung zu schaffen. Und was in einer irgendwie gearteten Ordnung seinen Platz findet, lässt sich bestimmt auch lösen; Ordnung ist der erste verheissungsvolle Schritt zur Lösung hin. Wenn da aber nur Chaos ist, wie bei Antonia, schwindet der Glaube an Lösung.

Was muss man sich als Schriftstellerin oder Schriftsteller bewahren, um mit Büchern wie dem deinigen so punktgenau den Nerv der Zeit zu treffen, zumal dein Blick aus deinem Arbeitszimmer alles bietet, was es zur Idealisierung braucht?

Um Antonias Geschichte schreiben zu können, musste ich mir die Erlaubnis geben, den Kontakt zu meinem eigenen Lebensgefühl als Jugendliche wieder aufzunehmen. Es war gewissermassen eine Tür, die ich aufgestossen habe, zurück zu einer jugendlichen Intensität des Fühlens. Dieses jugendliche Fühlen war bei mir geprägt von Impulsivität und einem unbedingten Drang, mein Leben zu gestalten. Wenn ich heute in einem von mir gestalteten Leben angekommen bin, birgt das auch die Gefahr der Verklärung – und die führt immer in Kraftlosigkeit. Insofern muss ich mir als Schriftstellerin meine Ambiguitätstoleranz bewahren, auch mir selber gegenüber – und diese ständig weiterentwickeln.

Warum hat es Kinder- und Jugendliteratur so schwer, sich neben der Erwachsenenliteratur zu etablieren, zu emanzipieren? Müssten wir nicht aufhören, in Kategorien zu denken, weil gute Literatur sich nicht vom Adressaten unterscheidet?

Frauenfelder Woche März 2021

Die Ansprüche, die von aussen an Kinder- und Jugendliteratur gestellt werden, sind immens. Es scheint, als haben viele scheinbar gescheite Erwachsene einst ein Korsett geschnürt, in das die Literatur für junge Menschen unbedingt zu passen habe. Sie muss pädagogisch wertvoll sein, eine Lehre oder Moral vermitteln, politisch korrekt sein, sprachlich gut aber nicht zu schwierig sein … – alles antiquierte Vorstellungen, denen ich mich in ihrem totalitären Anspruch nicht unterwerfen mag. Die Frage könnte man also auch so stellen: Warum haben es Kinder und Jugendliche so schwer, sich neben Erwachsenen zu etablieren und zu emanzipieren? 

Dein Roman ist eine latente Familientragödie; drei Töchter, eine alleinerziehende Mutter, ein mehr oder weniger übergriffiger Liebhaber der Mutter, Schule, die mehr fordert als fördert – und alles gekoppelt mit viel Angst. Eine Kindheit lang versucht man die Kinder vor aller Angst zu bewahren, um sie dann als Jugendliche mit ihren Ängsten vielfach alleine zu lassen. Wäre Angst an sich nicht ein guter Schutzmechanismus?

Angst ist eine überlebenswichtige Gefährtin. Aber sie darf nicht zur Anführerin werden und ausschliesslich allein entscheiden. Gegen sie zu kämpfen wäre falsch. Sie als Teil eines inneren Teams wahrzunehmen, ihr ein Mitspracherecht und eine Zuhörfähigkeit zu geben, würde schon viel helfen. Die Angst der Eltern, von den Problemen der Kinder überwältigt zu werden, braucht ebenso ihren Platz wie das Zutrauen, es gemeinsam zu schaffen und das Vertrauen, dass die Kinder ihre Schritte, wenn selbstgewählt, auch verkraften.

Antonia kann sich in keinem Moment auf ihre Mutter verlassen. Antonia sagt über ihre Mutter: „Sie lügt, sie betrügt, und sie verschluckt die Wahrheit wie ein schwarzes Loch die Sterne.“ Sie hasst ihre Mutter. Ist dann der Kampf nicht aussichtslos? Wenn man immer wieder beschwört, wie wichtig die Familie sei – gibt es einen Weg zurück? 

Ich glaube nicht, dass Antonia ihre Mutter hasst, aber sie hasst das, was die Mutter tut: Lügen. In den wenigen Momenten, in denen sich Antonias Mutter selbst schutzlos zeigt, finden die beiden zu einer unmittelbaren Nähe zu einander. Diese Nähe und das Verständnis füreinander ist wie ein Raum, der immer da ist, der aber leer bleibt, wenn sich die beiden nicht trauen, sich gewissermassen nackt zu zeigen, eben so, wie sie sind: unvollkommen, ängstlich, suchend – und dem Anderen im Innersten eben doch das Beste wünschend.

Gab es in unmittelbarer Vergangenheit ein Buch, das dich nicht losgelassen hat? Und warum?

Ich lese sehr viel und meist zwei Bücher parallel. Ein fast physisches Erlebnis boten mir die Geschichten von Clarice Lispectors Erzählband «Aber es wird regnen» (Penguin), und in seiner erzählerischer Konsequenz gefangen nahm mich «Die Parade» von Dave Eggers (Kiwi). Und ein freies, umwerfendes und psychologisch ehrliches Kinderbuch ist für mich «Betti Kettenhemd»,  von Albert Wendt (Jungbrunnen) – ein Buch, das ich am liebsten immer bei mir tragen wollte.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.

Bei lector books erscheint fast zeitgleich Michèle Minelli Roman «Kapitulation»: Fünf kunstschaffende Frauen, die einst überzeugt waren, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur wollen. Heute sind sie auf dem Boden der Realität angekommen: Sie können, sie wollen, sie werden übersehen und gehen vergessen. Bei einem Wiedersehen nach 18 Jahren loten die fünf ihre Möglichkeiten aus, reden über verpasste Chancen, lachen und trinken. Bis in dieser entspannten Runde die Idee aufkommt, einen Flashmob zu veranstalten, bei dem sich alle Frauen in Luft auflösen. Was vier der Frauen wieder vergessen, nimmt eine von ihnen todernst.
Buchtaufe mit «Kapitulation» (und einem Seitenblick auf «Chaos im Kopf») im Literaturhaus Thurgau am 29. April 2021! Moderation: Gallus Frei

Rezension zu «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Anne Bürgisser

Das 54. analoge Literaturblatt ist versandfertig!

«Die sind aber auch wirklich wunderschön gemacht, war auch einmal Teil davon und sehr begeistert!» Jürgen Bauer

«… und dann schwimmt vor Jahresende noch so eine zauberisches Literaturpost in meine Wohnung . Das ist wirklich eine Besonderheit! Vielen lieben Dank» Katharina J. Ferner

«Gibt’s denn sowas noch? Handgeschriebene, gezeichnete Buchempfehlungen. Dochdoch, die gibt’s bei literaturblatt.ch!» Joachim B. Schmidt

«Lieber Schweizer Initiator des Literaturblattes, dass es so etwas Schönes und liebevoll Gestaltetes wie das analoge Literaturblatt noch gibt, begeistert mich. Als ich das Literaturblatt sah, war es um mich geschehen. Ich freue mich sehr und denke, die Zusendungen werden Jahreshighlights sein.» Birgitta Nicola, Buchhändlerin und Illustratorin

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

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Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos

Mag sein, dass Reisen abenteuerlich werden können. Dann, wenn man bekanntes Terrain verlässt, wenn man diesen einen Schritt über den Rand hinaus wagt. Wenn man nicht mit Sicherheit weiss, was sich jenseits des Bekannten befindet. Was für Reisen gilt, gilt noch viel mehr für Beziehungen. Werner Rohner schreibt in seinem neuen Roman „Was möglich ist“ über Menschen, die den Schritt über solche Grenzen wagen, meist in mehrfacher Hinsicht.

Werner Rohner hätte am Wortlaut St. Gallen vor Publikum gelesen, wenn es geklappt hätte. Wenn Sie trotzdem online verfolgen wollen, was Wortlaut digital anzubieten hat, dann besuchen Sie die Webseite hier.

„Was möglich ist“ lotet aus. Werner Rohner beweist sich als Seismograph. In seinem Roman erzählt er drei Geschichten von Frauen und Männern, die in ihren Beziehungen diesen einen Schritt wagen. Den Schritt über die Grenze, über die Konvention, über die Vernunft hinaus, in unbekanntes Terrain. Dabei geht es Werner Rohner nicht um die Frage, ob der Schritt glückt, nicht einmal darum, ob er nachvollziehbar ist. Werner Rohner begibt sich ganz nah an sein Personal, spürt ihnen nach, dem Mut, der Hoffnung, der Verzweiflung, dem Zweifel. „Was möglich ist“ zeigt, was möglich ist, dass in Beziehungen Abenteuer stecken, reisen in unbekanntes Terrain, weit über Grenzen hinaus.

Edith ist über sechzig und arbeitet eine Ewigkeit im selben Café. Dort sitzen Menschen und erzählen ihre Geschichten. Einer davon ist Christoph, jünger als sie, Bademeister. Christoph versuchte einer leblos im Wasser treibenden Frau das Leben in den Brustkorb zurückzupumpen. Es sollte nicht sein. Die Frau blieb liegen. Aber nicht nur auf dem Betonboden der Badeanstalt, sondern auch in den Bildern in Christophs Kopf. Edith, eine Frau mit feinem Gespür, kommt Christoph näher. So nah, dass das Zusammensein mit dem Mann Türen wieder aufreisst, von denen Edith glaubte, sie hätten sich für den Rest ihres Lebens geschlossen. Christoph gibt ihr zurück, was sie aufgeben hatte, obwohl da vor Jahrzehnten einmal eine Familie war. Chris und Edith fahren weg, in ihrem alten Saab über Spanien bis nach Marokko, wo Chris mit Ediths Erspartem ein Haus in einem kleinen Dorf gekauft hat. Eine neue Existenz, ein neues Leben. Was sich für beide paradiesisch anfühlt, entpuppt sich aber doch als Fata Morgana, zumindest für Edith, die das neue Leben zwar geniesst, ihre Rolle als Geliebte, als Hausbesitzerin und Gastgeberin. Aber Edith fährt zurück, zurück in ihr altes Leben.

Werner Rohner «Was möglich ist», Lenos, 2020, 379 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-007-3

Vera ist schwanger. Eingeladen an eine Kongress in New York nimmt sie ihre Freundin Nathalie mit. Nathalie hat zwei Kinder, die sie für die paar Tage bei ihrem Mann zurücklässt und Vera ebenfalls einen Ehemann, der nicht verstehen kann, dass sich Vera schwanger in ein Flugzeug setzt. Was aus der Ferne wie eine Geschäftsreise aussehen soll, ist aber schon bei den Vorbereitungen zur Reise und im Flugzeug erst recht ein Versprechen für viel mehr. Vera und Nathalies Freundschaft ist mehr. Vera fühlt, dass zusammen mit ihrer Freundin etwas aufbricht, das bisher nur schlummerte. In der monumentalen Stadt auf der anderen Seite des Ozeans beginnt eine leidenschaftliche Affäre, die im Rausch alles auszublenden vermag, lässt ein Leben aufkeimen, das sich aber mit dem Flugzeug zurück nicht ins alte Leben zurücktransportierten lässt. Die Versprechen bröckeln.

Michael ist Schriftsteller. Sein Freund Lorenz bittet ihn, seine Frau Lena, die ohne ihre Kinder mit einem Mal, wie aus dem Nichts, nach Neapel abgehauen ist, zur Rückkehr zu bewegen. Mit einem Typen. Lena und Michael kennen sich schon lange. Und weil Michaels Schreibe ins Stocken geraten ist, fährt er in die Stadt am Vulkan. Lena zu finden ist nicht schwierig. Sie versteckt sich nicht, auch nicht den Mann mit Bauch an ihrer Seite. Auch der eine alte Geschichte. Michael wird zu einem Verbindungsmann. Lena ist ausgebrochen, in der Schwebe. Sie weiss genau, dass das Angefangene in Neapel keine Dauer hat und das Alte zuhause so keine Zukunft. Michael bietet ihr und ihren beiden Kindern eine vorübergehende Bliebe in seiner Wohnung an. Bloss ein Zimmer, aber immerhin. Und mit einem Mal steht Michael mitten drin.

Drei Frauen, die es wagen, alles aufzugeben, allen Sicherheiten zu entsagen, die einen Neuanfang provozieren, ausreissen und abreissen lassen. Die Geschichten sind nicht nur thematisch miteinander verbunden. Sie spiegeln sich ineinander. Und sie treffen sich sogar ganz kurz im Café, in dem Edith während Jahrzehnten servierte. Aber die Geschichten spiegeln sich auch in mir, mit Sicherheit in allen, die sich auf diesen äusserst gelungenen Roman einlassen. Denn diesen einen Schritt, zumindest die Möglichkeit, den Gedanken darum, den Traum, die Idee tragen die meisten mit sich herum. Dass Werner Rohner daraus kein abgehobenes Abenteuer macht, ist die grosse Qualität dieses Romans.

Interview:

War da von Anfang an ein Plan? Ein Buch mit drei Geschichten, die sich auf verschiedene Arten berühren und spiegeln? 

Da war kein Plan zu Beginn, da war Edith, die zu erzählen begonnen hat. Dabei hat sie im Café Uetli gesessen. Um sie herum andere Menschen, denen sie ab und zu einen Café brachte. Und auch die hatten ihre Geschichten. Und manche davon haben sie mir dann auch noch erzählt.

Edith, Vera und Lena brechen aus. Sie tun das, was viele als Plan, Absicht, Vorsatz, Wunsch und Traum ein Leben lang unerfüllt mit sich herumtragen. Als ich einmal während einiger Monate im Spital arbeitete und eine Frau fragte, warum sie das Foto ihres eingesargten Mannes auf dem Nachttischen stehen habe, sagte sie: „Heiraten sie spät oder nie. Tun sie erst alles andere!“ Warum tun wir uns so schwer auszubrechen und nehmen lieber Magengeschwüre und Burnouts in Kauf?

Es fehlt an Vorbildern (im Gegensatz zu Magengeschwüren und Burnouts), an Geschichten, die anders erzählt, anders gewertet und verstanden werden.

Außerdem brauchen Ausbrüche Anlauf – das dauert –, Gelegenheit und Mut. Glück halt. Und nicht zuletzt ein Umfeld, welche die Ausbrüche mitträgt, oder zumindest nicht dagegen angeht.

Und dann ist ein Ausbruch ja je nachdem auch nicht eine einmalige Sache. Muss man wieder und wieder tun, durchhalten, aushalten, Unsicherheit zu- und den Ausgang offenlassen können.

Alle deine Protagonistinnen leben in der Angst, dass sie für ihr Glück büssen müssen. So sehr, dass sie den Ausbruch auf die eine oder andere Weise „ausklingen» lassen. Muss man sich mit dem Konfuziuszitat „Der Weg ist das Ziel“ trösten?

Also nach Konfuzius versteh ich das das ja nicht als Trost, sondern als Glück. Und ich glaub, das haben auch Edith und Vera und Lena unterwegs gefunden. Sind dann aber oft wo gelandet, wo sie nicht damit umgehen konnten.

Aber ihre Geschichten sind ja nicht zu Ende. Ich hab nur aufgehört, sie weiter zu erzählen.

Es sind Ausbrüche und es sind Varianten eines Kontrollverlusts, die du beschreibst. Dabei lernen wir schon kleinen Kindern im Kindergarten, Ausbrüche und Kontrollverlust zu vermeiden. Büssen wir damit auch einen Teil unserer Kreativität ein, weil Kreativität immer Ausbruch und Kontrollverlust ist?

Fällt mir Patrick Findeis ein, der gesagt hat, Schreiben sei eine Mischung zwischen totalem Kontrollverlust und alle Fäden in den Händen halten. Kreativität trägt immer beides mit, sonst ist es Chaos.

Ist „Schreiben“ ein kontrollierter Ausbruch?

Ich glaub, es ist eher eine Möglichkeit mehr. Es ersetzt ja nichts, aber es fügt was hinzu. Sowohl für mich als Schreibenden, als auch für die Lesenden. Und hat eine Wechselwirkung mit dem anderen Leben – und diese Wirkung ist, glaub ich, kaum voraus- oder abzusehen, und damit auch kaum kontrollierbar.

Welches Buch hat sich in jüngster Vergangenheit tief in dein Herz eingebrannt und warum?

„Ich hab› gelebt Mylord“ von Simone Berteaut. Es ist eine Art Biografie von Edith Piaf, geschrieben von ihrer Halbschwester, die vielleicht auch einfach eine Bekannte war. Das aber ist egal; das Buch hat so einen tollen Sound, und im Hintergrund Edith Piafs Musik, dass man das Leben so stark spürt, dass ich oft weinen musst. Manchmal so sehr, dass ich die Buchstaben nicht mehr sehen konnte.

© Christoph Oeschger

Werner Rohner, geboren 1975, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Studium am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Längere Schreibaufenthalte in Rom, Langenthal und Los Angeles. Er veröffentlichte Texte in Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien, für die er mehrfach mit Preisen und Stipendien ausgezeichnet wurde, und schrieb drei Theaterstücke. Sein erster Roman «Das Ende der Schonzeit» erschien 2014 und war für den Rauriser Literaturpreis nominiert. Zusammen mit Katja Brunner veröffentlichte er 2018 das Buch «Wie weit du genetisch vom Raubtier entfernt bist». «Was möglich» ist ist sein zweiter Roman.

Werner Rohner mit «Was bleibt» auf der «Plattform Gegenzauber»

Beitragsbilder © Werner Rohner

Annina Haab «Bei den großen Vögeln», Berlin

Ali ist ihre Grossmutter. Und weil Ali nach einem Krankenhausaufenthalt nicht mehr zurück in ihr Zuhause kann und man sie in einem Altersheim platziert, beginnt ihre Enkelin zu schreiben. Sie will festhalten, was noch lebt, was noch da ist. All die Geschichten aufschreiben, die Ali ausmachen, die Ali mit sich herumträgt, die Ali zu der gemacht haben, die sie ist, auf die sie nicht verzichten kann, die ihr das Sterben und der drohende Tod wegnehmen will.

„Ali ist ein Code, drei Buchstaben, damit ich nicht Oma sagen muss oder Grossmutter.“

Wenn Menschen sterben, schliessen sich Türen endgültig. Was an Abdankungen in ein paar Minuten das Leben eines Menschen umreissen soll, ist nie und nimmer das, was der Tod hat abreissen lassen, was jenes Leben ausmachte. Dann sitzen wir Angehörige in den Bänken, lauschen und wissen, dass vieles unwiederbringlich mit in der Grube zugeschüttet ist. Die Schriftstellerin Annina Haab gibt einer Erzählerin eine Stimme, die sich mit allen Mitteln dem Vergessen und Verschwinden entgegenstellt. Die Enkelin besucht ihre Grossmutter immer wieder, will möglichst viel von dem bewahren, was die innige Beziehung zu ihrer Grossmutter ausmachte, diese beinah kumpelhafte Zweisamkeit, die etwas Verschwörerischen an sich hatte. Aber die Grossmutter verstummt immer mehr. Zum einen schwindet die Kraft, zum andern schliesst sich die Tür zu den Geschichten schon deshalb, weil sich die Grossmutter weigert, ihre eigene Geschichte so ernst und wichtig wie ihre Enkelin zu nehmen.

Annina Haab hat ein ungeheuer zartes und anrührendes Buch geschrieben. Ein Buch, das ganz leicht ins Sentimentale hätte abdriften können. Aber Annina Haab schaffte es mit erstaunlicher Sicherheit, nicht in erster Linie ein Buch über ihre Grossmutter zu schreiben, ein Leben aus der Vergangenheit dem Vergessen zu entreissen, sondern ein Buch über einen Abschied. Über die immer grösser werdende Distanz, die lange vor dem Sterben beginnt. Über Nähe, die ganz langsam verloren geht und darüber, dass das Schreiben vielleicht eine der wenigen Möglichkeiten ist, einem Menschen über seinen Tod hinweg nahe zu bleiben, ihn nicht loslassen zu müssen.

Annina Haab «Bei den grossen Vögeln», Berlin, 2021, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-8270-1427-6

Sie weiss einiges über Ali. Von einer Kindheit auf dem Bauernhof, von der Reise als Jugendliche nach England, nach London in die Dienste von Familien. Ali erzählt von ihrem Leben in der Enge, einem Leben, das fast nur aus Arbeit bestand, ihrem Pelzmantel, den sie monatelang abstotterte, der ihr den Zugang in die „Gesellschaft“, in das Leben dort erleichtern und nicht sofort als Haushalthilfe erkennbar machen sollte, von ihren Ersparnissen, die sie sich von einem Fremden abknöpfen liess und Jahre später wie aus dem Nichts wieder an sie zurück gelangten. Es sind Bruchstücke, das was man erzählt, wenn man sich nahe ist, Zeitinseln aus einem Meer, das unendlich scheint. Die Enkelin will festhalten, weil ihr mit dem Sterben ihrer Grossmutter ein Leben zu entgleiten beginnt, das ihr näher als alle anderen ist.

Sie geht durch die verlassene Wohnung ihrer Grossmutter, als wäre es ein verlassenes, nur vorübergehend verlassenes Leben einer Frau, die nur eben mal schnell weg ist. Sie besucht Ali im kleinen Altersheim, im Zimmer, das sie mit einer anderen Frau teilt, die fast immer unter einem Berg von Decken im Bett am Fenster liegt. Sie lebt mit dem Riss in sich selbst, weil sie ihre Grossmutter am liebsten zu sich nehmen würde, aber an den Realitäten scheitert und in der Zeit zögert, in der es noch möglich gewesen wäre, es Ali aber gar nicht gewollt hätte. Sie hadert mit dem Bewusstsein, dass ihr vieles, alles aus den Händen genommen wird, dass sie zur Zurückbleibenden verurteilt ist.

„Bei den grossen Vögeln“ ist viel mehr als ein Erinnerungsbuch einer jungen Frau über ihre Grossmutter, auch wenn es das auch ist. Der Roman spiegelt, was in der Erzählerin passiert, das Pendeln zwischen Schmerz, Trauer, Ergebenheit und zärtlicher Liebe. Und nicht zuletzt zwingt der Roman mich als Leser zu Fragen an mich selbst: Was will ich in meiner letzten Zeit in meinen Händen behalten? Was soll von mir zurückbleiben? Ist das erzählt, was mich ausmacht oder lasse ich so hilflos zurück, wie es meistens ist? Lebe ich mit dem Bewusstsein, das mein Leben endlich ist?

“Bei den grossen Vögeln“ ist kein grosser, schwarzer Vogel, aber ein Buch, das sich über viele andere zu diesem Thema hinausgehoben hat.

Interview

Der grosse Wiener Liedermacher Ludwig Hirsch schrieb und sang ein Lied mit dem Titel „Komm, grosser schwarzer Vogel“, ein düsteres Lied über Todessehnsucht. Ihr Debüt „Bei den grossen Vögeln“ ist ein Nachgesang über eine grosse Liebe; die Liebe zwischen Enkelin und Grossmutter. So gar kein Buch über den Tod. Auch kein Erinnerungsbuch. War das Buch eine Notwendigkeit? 

Das Lied kenne ich nicht, die Vögel sind für mich auch gar nicht so sehr mit dem Tod assoziiert. Ich denke, dass das Schreiben als Prozess für mich eine Notwendigkeit war. Dass daraus jetzt ein Buch wird, ist für mich eher eine erfreuliche Zugabe. Ich finde es aber durchaus nötig, dass über Menschen, wie die Ali im Text, mehr geschrieben wird, dass also nicht nur Heldengeschichten erzählt werden, sondern auch von jenen geschrieben wird, die sozusagen kleine Geschichten leben. 

Sie sind noch jung. Ich bin bald 60. Sie haben sich beim Schreiben dieses Buches ganz intensiv mit dem letzten Lebensabschnitt auseinandergesetzt, wenn man so will, exemplarisch an Ali der Grossmutter. Hat sich Ihre Sicht auf Ihr eigenes Leben, auch auf Ihr eigenes Sterben verändert? 

Mit meinem eigenen Sterben habe ich mich nicht besonders auseinandergesetzt, für mich war und ist die Auseinandersetzung mit dem Sterben der anderen wichtig, mit der Position derjenigen, die weiterlebt. Es ging mir also eher um den Abschied und den Verlust, aber auch um eine Reflexion verbreiteter Erzählweisen und Darstellungen des Todes.
Die Sicht auf das eigene Leben verändert sich wahrscheinlich zwangsläufig, wenn man sich mit hochbetagten Frauen beschäftigt. Ich bin sehr glücklich, durfte ich so manches von ihnen lernen. 

Ist Ihr Buch auch eine Aufforderung, sich mit dem letzten Schritt eines jeden Lebens mehr auseinanderzusetzen?

Ich denke nicht, dass ich je den Wunsch verspürt habe, mit dem Text irgendwen zu etwas aufzufordern. Ich glaube aber, dass es durchaus sinnvoll wäre, sich mit dem Sterben und dem Tod auseinanderzusetzen. Oft, so scheint mir, wird ein wenig daran vorbeigeschielt oder verhüllend darüber gesprochen. Gerade bei den Darstellungen und metaphorischen Ausdrücken müssen wir sehr genau hinschauen und prüfen, ob sie zutreffend sind oder doch eher Ausflüchte, um in einer gefahrenfreien Zone bleiben zu können. 
Allgemein fände ich es gut, den Tod und die Krankheit, die Gebrechen, die Abweichung von der (ideellen) Norm junger gesunder Körper nicht an den Rand der Gesellschaft oder des Blickfeldes zu schieben, sondern sie sichtbar zu machen und die Diversität der existierenden Körper und Zustände anzunehmen und auch zu verteidigen.

Weil Ihr Buch keine Anekdotensammlung ist, kein Erinnerungsbuch, sondern eine Liebeserklärung, eine Verneigung, eine sprachliche Zärtlichkeit, liest es sich anders; Sie schaffen es, die Spur vorbei an Sentimentalitäten zu halten. War das schwierig?

Danke, das freut mich zu hören. Ja, das fand ich sogar sehr schwierig und in vielen Momenten zweifelte ich auch, ob es denn geglückt sei. Es ist ja ein schmaler Grat, auf dem ich wandeln wollte. Ich bin eine Befürworterin von Pathos und auch hier finde ich es vor allem wichtig, auf der Hut zu sein, um keine Vorurteile weiter festzutreten. Das gilt aber für den Zynismus genauso, eine Haltung, die zwar oft souveräner scheint, es aber nicht unbedingt ist.

Obwohl das Altersheim, in dem Ali die letzte Zeit ihres Lebens verbringt, ein ganz kleines ist, wird sie von „Einsamkeit zerfressen“, etwas, das auch mit vielen Besuchen nicht verhindert werden kann. Das Abgeschnittensein vom alten Leben, vom Leben draussen (etwas, was in Coronazeiten dramatische Züge bekommen hat!), von einem wirklichen Zuhause. Wie wollen Sie alt werden?

Nun ja, am liebsten schon eingebettet in eine soziale Struktur, die mir dieses Zuhause ist, aber wer auf intensive Pflege angewiesen ist, hat oft keine Wahl mehr. Dass noch im familiärsten Heim die Einsamkeit grassiert, verweist auf ein strukturelles Problem; dass von den Pflegenden zu viel verlangt wird, dass kaum Zeit für zwischenmenschlichen Kontakt bleibt, dass sie chronisch überarbeitet aber unterbezahlt sind. Wie müssen unbedingt über die Bedingungen und den Stellenwert von Care-Arbeit reden, und über patriarchale Geschlechterverhältnisse. In erster Linie möchte ich also erleben, dass da ein Umdenken stattfindet, und zwar sofort, bevor ich alt werde. Ansonsten kann ich mir nur wünschen, so humorvoll, offen und unkompliziert wie beispielsweise die Ali zu werden, ich glaube, dann wär ich ganz schön stolz auf mich.

Ganz am Schluss des Buches danken Sie. Da erscheinen gewichtige Namen: Ruth Schweikert, Friederike Kretzen, Zsuzsanna Gahse oder Antje Rávik Strubel. Ein Indiz dafür, dass Schreiben nicht einfach „das stille Brüten im Kämmerchen» ist. Und doch erstaunt die Dichte an grossen Namen. Wie verändert die Auseinandersetzung den Text?

Ich denke, das Bild von der Literatur als einsames Geschäft wird oft und gerne bemüht, weil es vielen Leuten gefällt, sich so darzustellen, und ja, während ich schreibe, bin ich selber auch allein, aber während ich über Texte nachdenke zum Glück nicht. Die „Dichte an grossen Namen“ hat etwas damit zu tun, dass ich in verschiedenen (institutionellen) Kontexten meinen Text besprechen durfte. Mir hat vor allem die konstante Begleitung von Friederike Kretzen geholfen, die sich mit grosser Ernsthaftigkeit auf meinen Text eingelassen hat und auch bereit war, über noch so kleine Details mit mir nachzudenken. Aber auch viele andere haben meinen Prozess beeinflusst. Ich finde es eine grosse Chance und Bereicherung, mit anderen über Texte zu sprechen, die am Entstehen sind, auch einige Freundinnen und Geschwister von mir haben den Text in einer ersten Fassung gelesen und wichtige Anstösse gegeben. Das Einbeziehen anderer Meinungen lehrte mich, dass nichts festgeschrieben ist, dass es sich lohnt, alles noch einmal zu hinterfragen und nur stehen zu lassen, was man begründen kann. Es zeigte aber auch, dass zu jeder Szene zehn verschiedene Meinungen möglich sind. 

Ein Buch, das Sie in den vergangenen Monaten gepackt hat?

«Kassandra» und viel weiteres von Christa Wolf. Und einmal mehr die Reden von Audre Lorde.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Beitragsbild © Privat / Piper Verlag

Jürgen Bauer «Portrait», Septime

Bin ich der, der ich sein möchte? Sehen mich meine Mitmenschen, meine Vertrauten so, wie ich mich selber sehe? Welches Bild macht man sich von mir? Wie sehr verstecke ich mich hinter einer Fassade, hinter Pappkulissen? Jürgen Bauer geht in seinem neuen Roman „Portrait“ genau diesen Fragen und vielen mehr nach. Ein kunstvoll konstruierter Einblick in die verwundeten Seelen der Gegenwart.

Das Buch erzählt von Georg, der nach dem Krieg irgendwo in der österreichischen Provinz in einem Bauerndorf aufwächst, zusammen mit seinem älteren Bruder und seiner Mutter, die nach dem Krieg nicht mehr hofft, dass ihr Mann wieder auftaucht. Georg ist anders als sein Bruder, aber wenigstens ein Junge, der auf dem Hof mitanpacken kann, jetzt wo alles auf der Schultern der Mutter liegt und sie zu erdrücken droht. Aber Georg ist nicht wie sein Bruder, auch nicht wie seine Mutter. Er wird auch nicht, was sich die Mutter erhoffte, ganz anders wie der Bruder, der wirklich anzupacken weiss. Georg ist gut in der Schule, ein Einzelgänger, vom Onkel ans Gymnasium geschickt, vom Onkel, der im Hintergrund gerade so viel hilft, dass der Hof mit der Mariedl und den beiden Söhnen nicht untergeht. Georg bleibt weg, studiert an der Universität in Wien, wird ein „Städter“ und taucht kaum mehr auf auf dem Hof, auf dem sich die Mutter abrackert und der Bruder ohne Frau und Familie bleibt.

Das wäre schon Stoff genug; die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn, der Alp eines verschwundenen Vaters, der aus der Sicht des Sohnes ein Held des Widerstands ist, aus der Sicht der Mutter ein Versager, einer der seinen Mund nicht halten konnte, der seine Familie im Stich liess. Aber Jürgen Bauer erzählt viel mehr, denn „Portrait“ erzählt nicht direkt von Georg, der sich in der Stadt lieber Schorsch nennt. Jürgen Bauer erzählt die Geschichte, das Leben des verlorenen Sohnes im ersten Teil des Romans aus der Sicht seiner Mutter, im mittleren Teil aus der seines Liebhabers Gabriel und im letzten aus der seiner Ehefrau Sara. Sie alle drei erzählen ihre Geschichte und die Geschichte Georgs. Mariedl aus der Sicht einer verbitterten und hart gewordenen Frau, der nichts geschenkt, aber alles genommen wird. Gabriel aus der Sicht Georgs Liebhabers, eines Wiener Strichjungen, der wie ein Streunender durch sein Leben hechelt, immer auf der Suche nach dem Kick. Und aus der Sicht seiner Ehefrau Sara, die Georg heiratet, weil sie beide die verzweifelte Liebe verbindet, weil Georg eine Frau braucht, um die Fassade in der Hauptstadt aufrecht erhalten zu können und weil Sara einen Mann braucht, der ihr Sicherheit gibt, der sie achtet, den sie formen kann.

Jürgen Bauer «Portrait», Septime, 2020, 305 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-902711-93-9

Jürgen Bauer öffnet in seinem facettenreichen Roman derart viele Räume, dass ich als Leser förmlich hin- und hergepeitscht werde. Nicht zuletzt deshalb, weil Jürgen Bauer die drei Teile in genau dem Ton erzählt, der zu den drei Erzählenden passt. Georgs Mutter Mariedl ist bis auf die Knochen verbittert und enttäuscht. Ihre Sprache, ihr Gestus ist hart, hölzern. Da schwingt nichts mehr mit von Liebe,Verständnis, Fürsorge oder Hoffnung. Das Leben ist blosser Kampf, nichts als harte Arbeit, weit weg von allem, was an Liebe erinnert. Sie macht auch nie einen Hehl daraus, dass sie das Leben ihres jüngeren Sohnes missraten findet, so wie das Leben ihres nichtsnutzigen Ehemannes, der in den Wirren des Krieges verschwand.
Georgs Liebhaber Gabriel wächst auch auf dem Land auf, entflieht diesem, weil er genau weiss, dass er mit seinem Schwulsein nur in der Stadt, in der Hauptstadt das findet, wonach der permanente Durst ihn treibt. Gabriels Sprache ist schnodderig, ungehemmt, seine Gedanken kreisen zumindest in seiner ungestümen Jugend nur um das Vergnügen, den nächsten Rausch. Wien ist sein Tummelplatz, auch wenn man ihm in den 70ern in den Wiener Gassen ungehemmt nachschreit, solche wie ihn hätte man gescheiter alle vergast.

Und Sara? Sara ist Bankierstochter, ursprünglich aus reichem Haus in Amsterdam, in Wien hängen geblieben, weil sie sich eine Karriere als Opernsängerin erhoffte, es aber nie reichte, zum einen weil ihr Aussehen den Massstäben nicht entsprach, zum andern aber auch ihre Stimme. Und weil Sara genau merkt, dass Georg in seinem Leben eine Stütze, einen Halt, Rückendeckung braucht, weil er Karriere macht und ihn sein Kippleben zwischen Laster und Fassade zu zerreissen droht, ist sie die, die sich als Ehefrau anbietet. Sie erzählt als die Gebildete, die Frau, die alles unter Kontrolle zu halten versucht, weil sie aus Erfahrung weiss, wie tief man fallen kann.

„Portrait“ schildert das harte Leben einer Alleingelassenen im Nachkriegseuropa, das bittere Dasein aller nicht Heteros in den 70ern und 80ern, erst recht, als die „Schwulenpest“ Aids all jenen in die Hände spielte, die schon immer wussten, was richtig und falsch ist und den Leidensweg einer Frau, die nie dort ist, wo sie sein will, der der Kampf um Sicherheit, ihr Kampf um ihr Leben wird.

Sie alle erzählen von Georg. Einem Mann, der sich nach nichts mehr sehnt, als dort zu sein, wo man ihn nimmt, wie er wirklich ist, den Ort aber nie findet. Der es nie schafft, als „verlorener Sohn“ zurückzukommen, der sich immer verstecken muss, nie genügt, nie ankommt. „Portrait“ ist harte Kost, ein Sittengemälde der jüngsten Vergangenheit. Virtuos geschrieben, ganz nah am Leben, unmittelbar!

Interview

Sie erzählen Georgs Geschichte, ohne direkt von ihm selbst zu erzählen. Seine Geschichte aus drei verschiedenen Perspektiven, aus der Sicht jener, die ihm am nächsten kommen. Georg ist aus verschiedenen Perspektiven aber nicht immer der selbe Georg. So wie wir selbst aus der Perspektive aller, die uns kennen oder von uns wissen, ganz verschieden sein können. Selbst die Sicht auf sich selbst kann mit einem Mal zu wanken beginnen, durch Lebenskrisen, markante Einschnitte. Ist jede Person nur ein Konstrukt aus Wahrnehmung und Inszenierung?

Selbstgemalte Kleinigkeiten – im Lockdown anlässlich des Buches gemalt © Jürgen Bauer

Es ist eine uralte Frage, ob es das Ich überhaupt gibt – und wenn ja, welches Ich. Da braucht man nicht bis zu Kleists «Amphytrion» zurückgehen. Ich wollte es eine Nummer kleiner haben … Ausgangspunkt des Romans war die Beobachtung, dass selbst engste Freunde und Familienmitglieder völlig unterschiedliche Beschreibungen widergeben, wenn sie einen Menschen portraitieren sollen. In «Portrait» ist das ins Extrem getrieben: Ein Mann, der selbst nicht mehr weiss, wer er ist, weil er der Welt zu lange so viele verschiedene Gesichter präsentiert hat. Und das kombiniert mit der Frage, ob wir überhaupt von anderen Menschen erzählen können – oder insgeheim doch immer von uns selber reden, wenn wir ein fremdes Leben widergeben. Ob das heisst, dass wir alle nur Konstrukt und Inszenierung sind? Ich tu mir schwer mit so allgemeinen Aussagen. Bei «Portrait» ist es jedenfalls so, und es hat einen riesen Spass gemacht, das zu schreiben – mit all den literarischen Verwirrungen, die man daraus basteln kann. 

Geschichten vom Widerstand während des Nationalsozialismus kennen wir. Georgs Mutter, die erste, die in Ihrem Roman von ihrem missratenen Sohn erzählt, ist eine vom Leben gestrafte Frau. Verbittert und vernarbt. Ihr Mann, untergetaucht, weil er „den Mund nicht halten konnte“, liess sie damals schwanger mit Hof und Familie allein. Eine Frau, die sich selbst nach dem Krieg noch gestraft fühlte. Das zeigt sich auch in der Erzählstimme. Gab es da ein reales Vorbild, einen Sound im Ohr? Mit Jahrgang 1981 muss eine solche Stimme wie aus einem anderen Jahrtausend „klingen“.

Notizbücher © Jürgen Bauer

Die Stimme Mariedls klang beim Schreiben nie fremd, im Gegenteil! Meine Grosseltern väterlicherseits hatten einen Bauernhof im Burgenland, in einem kleinen Dorf. Ich kenne den Klang, die Redensweise. Meine Grossmutter, andere Verwandte, Dorfbewohner – sie alle habe ich «angezapft». Und musste dennoch viel recherchieren. Es gibt, den Archiven sei Dank, viele Bücher, auch Ton- und Videoaufnahmen von alten Bäuerinnen. Mir war es extrem wichtig, die Stimmen der drei Erzähler genau zu treffen. Ich hasse Bücher mit verschiedenen Ich-Erzählern, die schlussendlich alle wie die Autorin oder der Autor klingen. Es war die Hauptarbeit im Schreibprozess, die Stimmen zu entwickeln.

Georg ist schwul. Er wächst nach dem Krieg in einem Dorf auf, in dem ein solches Anderssein mehr als bloss ein Makel ist. Dazu die Ablehnung und das Gefühl des permanenten Nicht-Genügen, dass von seiner Mutter über ihn gegossen wurde. Da muss unweigerlich ein Trauma wachsen. Er lernt in Wien Gabriel kennen. In einer Stadt, die seine Feindschaft der Homosexualität gegenüber ganz offen und in aller Hässlichkeit zeigt. Noch immer ist die Stigmatisierung des „Ungewöhnlichen“ tief im Menschen verankert, auch wenn eine gewisse Öffnung zu spüren ist. Glauben sie an eine Gesellschaft, in der Menschen als das geschätzt werden, was sie sind?

Ich weiss nicht, ob wir je für das geschätzt werden, was wir wirklich sind. Wir spielen meist Rollen – und die sind gesellschaftlich geprägt. Sogar die Befreiung der Schwulen und Lesben war ja nur möglich, weil diese Gruppen plötzlich für ihre Kaufkraft geschätzt wurden – ökonomische Gründe spielen bei gesellschaftlicher Anerkennung ja immer eine Rolle! Wer Geld hat, wird geschätzt. Wie schon Pollesch sagt: «Liebe ist kälter als das Kapital.» Aber der Roman zeigt ja nicht nur die Ablehnung, sondern auch die anarchische, lustvolle, verspielte Schwulenszene der siebziger Jahre. Es hat Spass gemacht, die wilden Aktionen, Bälle, Proteste zu beschreiben, den Zusammenhalt und Streit der Szene. Wir werden vielleicht nicht von allen akzeptiert für das, was wir sind – aber von manchen schon. Und Qualität ist besser als Quantität. Für alles andere muss man kämpfen – und die besonders Bornierten reizen, provozieren, ihnen metaphorisch ins Gesicht schlagen, wie mein Erzähler Gabriel sagen würde.

Georg tut fast alles, um seine Fassade aufrecht zu halten. Das tat schon seine Mutter auf ihre eigene Weise. Das tut Georgs Freund Gabriel und Georgs Frau Sara. Künstler tun es sehr oft auch. Man pflegt das Klischee des Übermenschen. Schwäche, Unsicherheit, Zweifel kaschiert man gerne mit dicker Fassade. Selbst Schriftstellerinnen und Schriftsteller tun es mit jovialer Geste am Fernsehen, in Talkshows oder im Feuilleton. Belügen wir uns selbst?

Jürgen Bauers Kunstwand als Inspiration © Jürgen Bauer

Ich habe das Gefühl, dass es in Zeiten von Social Media und medialer Dauerpräsenz eine Gegentendenz gibt. Die dauernde Selbstentblössung, das Zu-Markte-Tragen der eigenen Verletzungen, das Zu-Geld-Machen des eigenen Lebens inklusive aller Verletzungen. Es wurde fast zum Imperativ: Sei du selbst, zeige dein Innerstes. Nicht umsonst ist der Buchmarkt voll mit Authentizitätsliteratur, mit Ich-Büchern. Das wollte ich nicht bedienen. Vielleicht ist es nicht die schlechteste Entwicklung, Masken als Schutz und Selbstschutz zu nutzen. Extreme sind selten gut – und die Figuren in «Portrait» kämpfen darum, zwischen Verlust des Ichs und völliger Selbstentblössung einen Weg zu finden, den sie leben können. Sara zum Beispiel gelingt das ja ganz gut, den Umständen entsprechend.

Sara heiratet Georg. Eine Ehe als gegenseitige Sicherheit, als Rückendeckung, Eckpfeiler einer perfekten Kulisse. Und gleichzeitig akzeptiert Sara die Lüge, weil sie weiss, dass sie zum Gefüge ihrer Ehe gehört, ein Teil des Fundaments ist. Wir verbinden Lüge mit Unwahrheit, dabei baut jede und jeder an seiner Lebenslüge. Ist die Lüge nicht Teil des menschlichen Seins? Viel mehr als eine lasterhafte Sünde?

Ich habe nichts gegen die Lüge. Man kann in der Gesellschaft nicht ohne Lüge leben. Wenn man immer man selbst ist, erträgt man die Verletzungen irgendwann nicht mehr. Lügen können helfen, Schmerz zu vermeiden – und anderen Schmerz zu ersparen. Und manchmal macht das Lügen, das Maskenspiel, das Vortäuschen ja auch einfach nur Spass. Wie immer macht die Dosis das Gift!

Welches Buch hat sie in den letzten Monaten aus den Socken gerissen? Und warum?

Annie Ernaux – «Die Scham»
Weil sie ein riesen Einfluss für mich war. Weil sie die eigene Psyche seziert – und dazu die ganze Gesellschaft. Weil sie über Klasse schreiben kann, wie das nur Franzosen hinkriegen, neben ihr Didier Eribon, Eduard Louis usw…

Gabriele Kögel – «Gipskind»
Weil es Parallelen zu meinem Roman gibt, der dann doch ganz anders ist. Weil sie mich zum Weinen gebracht hat, ohne kitschig zu werden. 

 Christoph Szalay – «Raendern»
Weil er Heimat definiert und seziert, weil die Sprache dieses Textes zwischen Lyrik und Prosa einfach der Wahnsinn ist.

 Und noch viele andere: Sandra Gugic, Helena Adler, Dennis Cooper – dessen „Die Schlampen“ zum Beispiel ist ein wildes, dreckiges Gegenbeispiel zu den gerade so beliebten „braven“ Romanen über schwules Leben von zumeist heterosexuellen Frauen 😉

© Daniel Schönherr

Jürgen Bauer wurde 1981 geboren und lebt in Wien. Im Septime Verlag erschien sein Debütroman «Das Fenster zur Welt» und drei weitere Romane. Im Rahmen des Studiums der Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien, Amsterdam und Utrecht spezialisierte er sich auserdem auf Jüdisches Theater und veröffentlichte hierzu zahlreiche Artikel und Buchbeiträge. 2008 erschien sein Buch «No Escape. Aspekte des Jüdischen im Theater von Barrie Kosky» in der Edition Steinbauer. Jürgen Bauer erhielt zahlreiche Stipendien und Auszeichnungen, 2014 unter anderem ein Aufenthaltsstipendium des Literarischen Colloquiums Berlin. 

Rezension von «Ein guter Mensch» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige», Dumont

Johanna von Kastilien war Königin von Kastilien, Aragón und León. Als sie 1555 starb, hatte sie fast 50 Jahre in einem Kloster verbracht. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil das Leben sie in jene Isolation getrieben hatte – nicht die einzige Isolation, die die Frau erdulden musste. Mit „Die Wahnsinnige“ schrieb Alexa Hennig von Lange einen beeindruckenden Roman über ein exemplarisches Opfer der Geschichte.

Königin oder König sein. Uneingeschränkt regieren über Land und Untertanen. Ein Reich nach eigenem Gutdünken formen und gestalten. Eine beinahe kindliche Illusion! Johanna von Kastilien wurde 1479 in Toledo geboren, war Tochter von Königin Isabella I, die drei Jahrzehnte lang, bis zu ihrem Tod 1504 auf der spanischen Halbinsel gestreng und mit eiserner Hand regierte. Mutter Isabella beschäftigte sich viel mehr mit ihren Aufgaben als Regentin und führte die Inquisition ein, als dass sie eine liebende und sorgende Mutter gewesen wäre. So sehr ihr Leben in die Zwänge einer Königin eingespannt war, so sehr machte sie das Leben ihrer Tochter Johanna zu einer ungebrochenen Folge von Fremdbestimmung und Zweck. Nicht verwunderlich, dass Johanna schon früh als introvertiert, sensibel und verschlossen galt.
Sehr jung verheiratete man sie aus strategischen und politischen Gründen mit Philipp dem Schönen. Eine Ehe, die durchaus mit heftigen Gefühlen füreinander einherging, aber auch mit ebenso leidenschaftlicher Eifersucht, denn ihr Gemahl Philipp nahm den Treueschwur alles andere als ernst. Johanna gebar in der Folge sechs Kinder. Kinder, denen sie eigentlich eine gute Mutter sein wollte, denen sie all das geben wollte, was ihr ihre eigene Mutter verweigerte. Aber weil Johannas Wesen unberechenbar zu sein schien, sperrte man sie in die Festung La Mota in Kastilien, weit weg von ihren ersten Kindern, die in Flandern bei Gouvernanten am Hof ihres Ehemannes aufwuchsen.  

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige» Dumont, 2020, 208 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8321-8127-7

Alexa Hennig von Lange setzt mit ihrem Roman in jenen Tagen ein, in denen Johanna klar wird, dass die Festung La Mota nicht Zwischenstation ist, sondern ein Gefängnis, sie die Geisel der Politik ihrer Mutter. Dass man sie im ganzen Land „Die Wahnsinnige“ nennt, ist ebenso Strategie wie Verurteilung. Wen wundert es aus heutiger Sicht, wenn man Regentin ohne Macht ist, von seinen Kindern, der Liebe abgeschnitten, mehr bewacht als umsorgt und von den Priestern ihrer Mutter zur Beichte gedrängt und bedrängt.

Aber warum einen Roman schreiben, der im ausgehenden Mittelalter spielt? „Die Wahnsinnige“ ist ein Roman über das Leben einer Frau in den Zwängen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Solche Schicksale sind mit dem Mittelalter nicht verschwunden. „Die Wahnsinnige“ ist der Roman über eine starke Frau, die alles daran setzt, aus den ihr vorbestimmten Wegen auszubrechen, die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen will und daran scheitert. Auch solche Geschichten sind Tatsache in der Gegenwart. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, einer jungen Mutter, die bereit ist, alles daran zu setzten, nicht in die Fussstapfen anderer treten zu müssen. Eine Geschichte der Emanzipation. Bin ich, was ist will? Lebe ich jenes Leben, das es sein sollte? Was zwängt und bedrängt mich, damit ich bleibe, wo ich bin?

Johannas Rolle als Königin war ein Fluch, hat ihr Leben zu einem einzigen Martyrium gemacht. Alexa Hennig von Langes Roman ist fiktionale Geschichte. Ich als Leser begleite das Leben Johannas derart nahe, dass es schmerzt. „Die Wahnsinnige“ ist ein universales Muster des Scheiterns. Alexa Hennig von Langes Johanna ist knapp über zwanzig und leidet an all dem, was das Leben einer jungen Frau traumatisch machen kann. Johanna von Kastilien lebte ein Leben lang auf dünnem Eis mit der ständigen Angst einzubrechen, unsäglich weit weg von den Menschen, die ihr am Ufer dieses kalten Sees zuschauen.

„Ich glaube, ich wär eine gute Regentin.“

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman «Relax» 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane «Risiko» (2007), «Peace» (2009), «Kampfsterne» (2018) und «Die Weihnachtsgeschwister» (2019). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Marcus Höhn

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin

Annette Mingels schrieb mit „Dieses entsetzliche Glück“ einen Episodenroman. Fünfzehn Geschichten, fünfzehn Leben. Leben, die oftmals ganz nah aneinander vorbeischrammen, sich für kurze Zeit mehr oder weniger begegnen. Leben, denen man aus verschiedenen Perspektiven begegnet, als würde man von Person zu Person springen und sich durch den Kosmos einer Kleinstadt tragen lassen. Grossartig gezeichnet!

Hollyhock liegt irgendwo in Virginia. Aber Hollyhock liegt überall, genauso in Schlesien oder im Thurgau, irgendwo, etwas abseits, ziemlich weit weg von der nächsten grossen Stadt und in der letzten Zeit ganz ordentlich gewachsen. Eine Kleinstadt, in der alle alle kennen, in der nur wenig verborgen bleibt, und wenn es aufbricht, dann weil es ein Leben lang moderte. 

«Ich bin zurück», flüsterte er, und als ihre Augenlider flatterten, lehnte er sich dicht neben sie, einen Arm um sie geschlungen, als könnte er sie beide auf diese Weise retten.»

Man lebt während Jahrzehnten in einer Beziehung, um dann irgendwann festzustellen, dass es das falsche Leben war, dass man austreten will. Nicht weil Hass, Enttäuschung oder Verzweiflung alles verändert, sondern weil mit dem Auszug der Kinder die alles bestimmende Aufgabe genommen wurde, die Aufgabe, die alles zusammenhielt.
Man lebt sein Leben lang ein Leben, dem man eigentlich eine andere Richtung geben will.
Man lebt ein Leben, in das man hineinrutschte, dass irgendwann wie ein fremder Mantel zu seinem eigenen wurde, der aber doch nie passte, zu gross, zu klein, oder einfach falsch.
Eine Ehe zerbricht, weil die eine Seite sich von der andern Seite abwendet, weil man im Bruch von Konventionen Auffrischung erhofft, die dann aber mehr zerstört als zulässt.

«Und nachdem sie einige Minuten auf dem Sofa gesessen und geweint hatte, verliess sie das Haus, das ganz so aussah, als wäre nichts geschehen.»

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels beschreibt die amerikanische Mittelschicht. Man lebt in guten Berufen, verdient gutes Geld, lebt in grossen, manchmal auch viel zu grossen Häusern. Die Strassen sind sauber und in den Gärten wehen die Wimpel zu den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren. Trotzdem fehlt den Menschen die Zufriedenheit, das Glück. Es sind bloss ganz kurze Momente, die das Glück ausmachen und sie stehen in keinem Zusammenhang mit Status, Erfolg, nicht einmal mit der Liebe zu anderen Menschen. Annette Mingels beschreibt Menschen, die nicht angekommen sind, die sich in Umlaufbahnen verlieren.

«Sie stellte ihn sich vor: einsam und nass. Den Kopf vorgereckt, irgendetwas witternd, bereit zur Flucht.»

Wer eine in sich geschlossene Geschichte erhofft, wird enttäuscht sein. Aber genau dieses scheinbar Zufällige macht den Reiz dieses Romans aus. Er zeigt genau das; wie jeder von uns in seinem Leben eingespannt ist. Man begegnet Menschen und ihren Geschichten. Die einen haben mit den anderen zu tun, die Getroffenen selbst sehen sich nur aus der Distanz. Ich mache mir mein Bild, mache mir Geschichten, mache mir meinen Reim. Keine einzige Geschichte, nicht einmal die eigene, erzählt sich chronologisch. Die Chronologie zwingt sich durch unseren Ordnungswillen auf.

«Hinein ins Helle und Warme. Wenigstens für kurze Zeit.»

Was bei Annette Mingels Erzählen beeindruckt, ist ihre Nähe zu den Personen und ihr Geschick, sich nicht durch Deutung und Psychologie aufzudrängen. Jede Episode hat das Zeug zu einem ganz eigenen Drama; Dramen, die ausbrechen, Dramen, die sich anbahnen, Dramen, die sich abwenden oder ersticken. Jede dieser Episoden hätte das Potential zu einem eigenen Roman.

Manchmal, wenn nachts der Zug in einer Vorstadt stehen bleibt und man mit einem Mal die Gelegenheit hat, in die hell erleuchteten Wohnungen hineinzublicken, sucht der Blick nach den kleinen und grossen Theatern, die sich im Scheinwerferlicht der Normalität abspielen. Annette Mingels tut genau dies. Sie blickt hinein. Sie tut es ohne Voyeurismus, tut es mit aller Behutsamkeit. Der Titel des Romans „Dieses entsetzliche Glück“ beschreibt genau jenen Kippzustand, jenen Moment, der je nach Perspektive in ganz anderm Licht steht, dann ist der Titel zu diesem äusserst gelungenen Kunstwerk perfekt.

«Dieses entsetzliche Glück, hier zu stehen und Kenji wieder nah zu sein.»

Und dann sind da die letzten Sätze zu den Geschichten, von denen einige hier in die Rezension eingefügt sind. Wie die leuchten!

Interview

Sie lebten in Deutschland und in der Schweiz und seit ein paar Jahren in San Francisco. Warum ist Ihr Roman ausgerechnet in Virginia angesiedelt?

Vor einiger Zeit wohnte ich für zwei Jahre in der Nähe von New York – es war eine Gegend, die ich von meiner Kindheit her kannte; meine Verwandten lebten dort und ich hatte sie mehrere Male besucht. Mir waren von damals viele Erinnerungen geblieben und eine Vorliebe für die kleinen Städte im Osten des Landes. Virginia habe ich während einer Reise kennen gelernt, und als ich nach einem Ort in Amerika suchte, an dem mein Roman spielen könnte, kam mir eine Kleinstadt dort in den Sinn. Hollyhock ist eine Mischung aus Realem, Erinnertem und Imaginiertem geworden.

Ihr Roman ist aufgebaut wie ein „Episodenfilm“. Als ich vor bald zwanzig Jahren den Film „L.A. Crash“ sah, war der Film eine Offenbarung. Auch wenn die Dramen in ihrem Episodenroman viel subtiler und stiller sind – was reizte Sie an dieser Erzählform?

Ich habe zwei literarische Vorlieben, die Eingang in das Buch fanden: in stilistischer Hinsicht liebe ich sowohl den weiten Bogen des Romans als auch die Pointiertheit der Kurzgeschichte; ein Episodenroman kann beides wunderbar verbinden. Und in inhaltlicher Hinsicht liebe ich die Darstellung konkreter Personen, konkreter Lebensumstände, die den Fokus eher auf den Einzelnen als auf das grosse Ganze richtet. Ich mag es sehr, Personen in kurzen Episoden nahe zu kommen – es sind Einblicke in verschiedene Leben, nichts ist auserzählt. Den Film „L.A.Crash»  kenne ich nicht, aber den Film „Shortcuts“ habe ich damals sehr gemocht.  

Ihr Roman spiegelt das Leben einer gehobenen Mittelschicht in den USA. Ist er jene Gesellschaft, weil Sie ein Teil dieser sind oder weil es eine wegbrechende Spezies ist?

Es ist nicht nur die gehobene Mittelschicht, die vorkommt, sondern auch eher einfache Leute, wie eine Drogeriemitarbeiterin oder ein Schreiner. Aber es stimmt schon: Ich habe nicht über Leute am Rand der Gesellschaft geschrieben, und auch die meisten Probleme, die ich darstelle, sind nicht extrem – auch wenn sie sich für den Einzelnen bisweilen so anfühlen können. Ich gehe beim Schreiben nicht so rational vor, dass ich mir vorher überlege, über welche Gesellschaftsschicht ich schreiben möchte. Es ist mehr so, dass mir ein Bild, eine Situation, eine Figur in den Kopf kommt, und sich daraus eine Geschichte entwickelt, die mich bisweilen selbst überrascht. Und das sind dann vielleicht tatsächlich eher Themen und Personen, die mir irgendwie vertraut sind. Zudem habe ich gewisse Hemmungen, über Dinge zu schreiben, die ich nur von aussen beobachtet oder mir angelesen habe.

Obwohl Sie ganz nah gehen, verlieren Sie sich nie in Details. Trotz der Nähe bleibe ich als Leser auf Distanz, weil sie weder deuten noch erklären, schon gar nicht psychologisieren. Wie sehr mussten Sie sich während des Schreibens vor allzu grosser Nähe zu Ihrem ProtagonistInnen „schützen“?

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man über eine Figur, über die man schreibt, viel mehr wissen muss, als man dann in der Geschichte selbst beschreibt. So ist das bei mir auch: viele meiner Figuren, eigentlich alle, sind mir sehr vertraut, aber nicht alles an ihnen breite ich für den Leser oder die Leserin aus, es schwingt eher mit. Die Konkretion, mit der ich die Figuren in ihrem Handeln vor mir sehe, verhindert vielleicht, dass ich als Erzählerin zu sehr erkläre und erläutere: es ist mehr so, dass ich das, was ich vor meinem geistigen Auge sehe, hinschreibe. Am ehesten kann man das vielleicht mit einem Film vergleichen, in dem ja auch mehr gezeigt als erklärt wird. 

Und doch spürt man wenig von dem, was man als Europäer nach den vergangenen Präsidentschaftswahlen beinah befürchtete; diesen Riss durch die Gesellschaft, der ein Land zu spalten droht. Ist das nur die Sicht aus der Ferne oder Realität?

Ich glaube durchaus, dass es diesen Riss gibt – und nicht erst seit Trump. Es gibt zahlreiche politische und soziale Gründe dafür – angefangen beim Zweiparteiensystem über ein insuffizientes Gesundheitssystem bis hin zu den Bildungseinrichtungen, die je nach finanzieller Situation der Eltern ganz unterschiedliche Möglichkeiten bieten. In meinem Buch gib es schon ein paar Hinweise auf ethnische, ökonomische und soziale Gefälle, aber diese sind meist auf den Kosmos der Kleinstadt beschränkt. Eine Analyse der amerikanischen Gesellschaft zu geben, war nicht mein Anspruch – ich traue es mir als Europäerin auch nicht zu. Ich beschränke mich in meinem Schreiben auf die privaten Konflikte und Nöte der Figuren, wobei diese ja durchaus von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst sind. Hätte ich dieses Buch in den letzten Monaten und nicht schon im vergangenen Jahr geschrieben, würden politische Themen jedoch wohl mehr Eingang gefunden haben, ganz einfach, weil die Politik und ökonomischen Nöte in 2020 ein dominanteres Thema für jeden Einzelnen hier in den USA waren. 

Welches Buch aus Ihrem Bücherregal lässt sie momentan nicht los?

Ich lese gerade das neue Buch von Ali Smith, „Winter», und die neue Erzählsammlung von Richard Ford „Irische Passagiere“. Beide liebe ich sehr – Ford für seine Eleganz, die er in Kurzgeschichten viel eher hat als in seinen viel zu langen Romanen. Und Smith’ Bücher liebe ich dafür, dass sie so seltsam sind; sie haben stets etwas leicht Skurriles an sich, das man nicht so recht zu fassen bekommt.  

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Was alles war» von Annette Mingels auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders