Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige», Dumont

Johanna von Kastilien war Königin von Kastilien, Aragón und León. Als sie 1555 starb, hatte sie fast 50 Jahre in einem Kloster verbracht. Nicht etwa aus Frömmigkeit, sondern weil das Leben sie in jene Isolation getrieben hatte – nicht die einzige Isolation, die die Frau erdulden musste. Mit „Die Wahnsinnige“ schrieb Alexa Hennig von Lange einen beeindruckenden Roman über ein exemplarisches Opfer der Geschichte.

Königin oder König sein. Uneingeschränkt regieren über Land und Untertanen. Ein Reich nach eigenem Gutdünken formen und gestalten. Eine beinahe kindliche Illusion! Johanna von Kastilien wurde 1479 in Toledo geboren, war Tochter von Königin Isabella I, die drei Jahrzehnte lang, bis zu ihrem Tod 1504 auf der spanischen Halbinsel gestreng und mit eiserner Hand regierte. Mutter Isabella beschäftigte sich viel mehr mit ihren Aufgaben als Regentin und führte die Inquisition ein, als dass sie eine liebende und sorgende Mutter gewesen wäre. So sehr ihr Leben in die Zwänge einer Königin eingespannt war, so sehr machte sie das Leben ihrer Tochter Johanna zu einer ungebrochenen Folge von Fremdbestimmung und Zweck. Nicht verwunderlich, dass Johanna schon früh als introvertiert, sensibel und verschlossen galt.
Sehr jung verheiratete man sie aus strategischen und politischen Gründen mit Philipp dem Schönen. Eine Ehe, die durchaus mit heftigen Gefühlen füreinander einherging, aber auch mit ebenso leidenschaftlicher Eifersucht, denn ihr Gemahl Philipp nahm den Treueschwur alles andere als ernst. Johanna gebar in der Folge sechs Kinder. Kinder, denen sie eigentlich eine gute Mutter sein wollte, denen sie all das geben wollte, was ihr ihre eigene Mutter verweigerte. Aber weil Johannas Wesen unberechenbar zu sein schien, sperrte man sie in die Festung La Mota in Kastilien, weit weg von ihren ersten Kindern, die in Flandern bei Gouvernanten am Hof ihres Ehemannes aufwuchsen.  

Alexa Hennig von Lange «Die Wahnsinnige» Dumont, 2020, 208 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-8321-8127-7

Alexa Hennig von Lange setzt mit ihrem Roman in jenen Tagen ein, in denen Johanna klar wird, dass die Festung La Mota nicht Zwischenstation ist, sondern ein Gefängnis, sie die Geisel der Politik ihrer Mutter. Dass man sie im ganzen Land „Die Wahnsinnige“ nennt, ist ebenso Strategie wie Verurteilung. Wen wundert es aus heutiger Sicht, wenn man Regentin ohne Macht ist, von seinen Kindern, der Liebe abgeschnitten, mehr bewacht als umsorgt und von den Priestern ihrer Mutter zur Beichte gedrängt und bedrängt.

Aber warum einen Roman schreiben, der im ausgehenden Mittelalter spielt? „Die Wahnsinnige“ ist ein Roman über das Leben einer Frau in den Zwängen von Geschichte, Politik und Gesellschaft. Solche Schicksale sind mit dem Mittelalter nicht verschwunden. „Die Wahnsinnige“ ist der Roman über eine starke Frau, die alles daran setzt, aus den ihr vorbestimmten Wegen auszubrechen, die ein eigenes, selbstbestimmtes Leben führen will und daran scheitert. Auch solche Geschichten sind Tatsache in der Gegenwart. Und es ist die Geschichte einer jungen Frau, einer jungen Mutter, die bereit ist, alles daran zu setzten, nicht in die Fussstapfen anderer treten zu müssen. Eine Geschichte der Emanzipation. Bin ich, was ist will? Lebe ich jenes Leben, das es sein sollte? Was zwängt und bedrängt mich, damit ich bleibe, wo ich bin?

Johannas Rolle als Königin war ein Fluch, hat ihr Leben zu einem einzigen Martyrium gemacht. Alexa Hennig von Langes Roman ist fiktionale Geschichte. Ich als Leser begleite das Leben Johannas derart nahe, dass es schmerzt. „Die Wahnsinnige“ ist ein universales Muster des Scheiterns. Alexa Hennig von Langes Johanna ist knapp über zwanzig und leidet an all dem, was das Leben einer jungen Frau traumatisch machen kann. Johanna von Kastilien lebte ein Leben lang auf dünnem Eis mit der ständigen Angst einzubrechen, unsäglich weit weg von den Menschen, die ihr am Ufer dieses kalten Sees zuschauen.

„Ich glaube, ich wär eine gute Regentin.“

Alexa Hennig von Lange, geboren 1973, wurde mit ihrem Debütroman «Relax» 1997 zu einer der erfolgreichsten Autorinnen ihrer Generation. Es folgten zahlreiche weitere Romane, Erzählungen, Theaterstücke und Jugendbücher. 2002 wurde Alexa Hennig von Lange mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Bei DuMont erschienen die Romane «Risiko» (2007), «Peace» (2009), «Kampfsterne» (2018) und «Die Weihnachtsgeschwister» (2019). Die Schriftstellerin lebt mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern in Berlin.

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Beitragsbild © Marcus Höhn