David Signer «Doppeltür in Bujumbura», Plattform Gegenzauber

Eine von X.’ vielen Reisen auf dem afrikanischen Kontinent führte ihn – vermutlich 2014 – in die burundische Hauptstadt Bujumbura. Ich weiss nicht genau, was er dort machte. Manchmal frage ich mich, was er in solch abgelegenen Orten eigentlich suchte. War er für den Geheimdienst unterwegs? Bei dieser Reise allerdings war eher das Gegenteil der Fall. Er wurde beschattet, aber entkam den Agenten.

Er war wie so oft als Journalist eingereist, was auch seltsam ist, weil es die Formalitäten verkomplizierte, und er ja nichts schrieb. Er wäre einfacher als Tourist gekommen. Viele Journalisten reisen der Einfachheit halber lediglich mit einem Touristenvisum, was mit Risiken verbunden ist. Warum machte er es umgekehrt? In Ländern wie Burundi werden ausländische Reporter routinemässig überwacht. War es für ihn eine Art Spass zu versuchen, die Verfolger abzuhängen?

Er stieg zuerst im gediegenen Hotel Roca ab, wo oft Korrespondenten und internationale Delegationen unterkommen. Die Räume sind verwanzt, Telefon und Internet werden überwacht. Er besuchte gelegentlich ein billiges, schummriges Restaurant und beobachtete, dass zwei Agenten draussen, auf der anderen Strassenseite, warteten. Die Toiletten befanden sich im Hinterhof des Restaurants. Bei einer kleinen Inspektion stellte er fest, dass von dort ein schmaler Durchgang zum Innenhof des Nachbarhauses führte. Von dort wiederum gab es einen Ausgang auf ein Seitensträsschen, das weiter ins dichtbevölkerte Quartier und zu einem kleinen, überdachten Markt ging. Bei seinem vierten oder fünften Besuch der Imbissbude haute er durch diesen Hinterausgang ab. „Double-door“ nennt man dieses Manöver im Gangsterslang. Er verschwand im Labyrinth des Viertels.    

Er hatte kein Gepäck mehr im Roca-Hotel. Das war bereits am Busbahnhof deponiert. Er zog ins Botanica-Hotel in Downtown um. Man hatte ihm gesagt, dort müsse man keinen Pass vorweisen. So würden auch die Behörden nicht erfahren, wo er war.

Er erschrak zwar, als die Frau am Empfang (es war eher eine Abstellkammer) ihm sagte, er solle seinen Pass nachher dem Chef geben, der komme in einer Stunde. Er versuchte, dem Chef auszuweichen. Aber als er ihm dann später am Abend doch über den Weg lief und an das kleine Pult beordert wurde, merkte er, dass der Chef davon ausging, er habe den Pass bereits der Frau gezeigt (oder zumindest so tat, um den offiziellen Schein zu wahren).

X. hatte Benoît in einem Klub namens „Arena“ kennen gelernt. Sie waren in einer Sitzgruppe am Rand eines Pools miteinander ins Gespräch gekommen. Mit dabei war ein älterer Franzose. X. hatte ihn gefragt, woher komme, und er antwortete, er lebe aus dem Koffer. Es stellte sich heraus, dass er Burundi seit Jahrzehnten kannte, wie auch viele andere afrikanische Länder. Über seine Tätigkeit wollte er nicht allzu viel preisgeben. „Sagen wir, ich bin Consultant.“ Auf X.’ Nachfrage sagte er: «Ich arbeite regional.» Er stellte sich auch nicht mit Namen vor. Irgendwann erhob er sich mit seinem Whiskyglas und sagte: „Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen. Falls jemand nach mir fragt – wir sind uns nie begegnet“ – und verschwand in der tropischen Nacht. Es hörte sich an wie aus einem schlechten Film, aber er meinte es ernst. Da blieben nur noch Benoît und X. übrig. Es war Benoît, der ihm das „Botanica“ empfahl und nebenbei erwähnte, man müsse dort keinen Pass vorzeigen. Er schwärmte ihm von Vanessa vor, einer Burunderin, in die er sich verliebt hatte. Eigentlich wollte er sie an diesem Abend ein letztes Mal treffen, aber seit 24 Stunden nahm sie das Telefon nicht mehr ab. Benoît war verwirrt, er konnte sich ihr Verhalten nicht erklären. Hatte sie ihr Handy verloren, wollte sie nichts mehr mit ihm zu tun haben, oder war etwas Schlimmes passiert? Die Stunde seiner Abreise näherte sich, und er geriet immer mehr in Panik. Kurz vor der Fahrt an den Flughafen meldete sie sich, aber es war zu spät für ein Treffen. Benoît gab X. 200 Dollar und ihre Telefonnummer. Sie sollte später am Abend vorbeikommen, und X. würde ihr das Geld aushändigen.       

X. wartete im «Botanica»-Hotel auf sie, im kleinen Restaurant des Innenhofs. Gegen elf Uhr nachts tauchte sie auf. Sie war nachlässig gekleidet und schmutzig, aber X. verstand sofort, warum Benoît so fasziniert von ihr war. Ihre Augen leuchteten, eine fast sichtbare Aura ging von ihr aus. Sie wollte nicht, dass X. ihr das Geld im Restaurant gab. Er ging zur Rezeptionistin, die eingezwängt hinter dem Eisenpult sass, und liess sich den Schlüssel geben. Die Decke war so niedrig, dass ihr der Ventilator bei einem brüsken Aufstehen die Haare wegrasiert hätte. Sie reichte ihm den Schlüssel für Zimmer Nr. 7. Das war das Zimmer von Benoît. Offensichtlich verwechselte sie ihn mit ihm, vielleicht, weil Benoît auch schon mit Vanessa hier gewesen war. In diesem Moment erst merkte er, dass es tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit zwischen ihm und Benoît gab. Darüber hinaus hatten Afrikaner oft Mühe, weisse Gesichter auseinanderzuhalten, so wie es Europäern oft auch umgekehrt mit ihnen ergeht. X. liess sich nichts anmerken und ging mir ihr in Benoît ehemaliges und jetzt leeres Zimmer. Sie erzählte ihm, dass sie verhaftet worden sei und eine Nacht im Gefängnis hinter sich hatte. Das Telefon hatte man ihr abgenommen, deshalb verpasste sie Benoîts viele Anrufe. Sie hatte Benoît nichts von ihrer Verhaftung erzählt, sie schämte sich. Nun, sagte sie, wolle sie so rasch als möglich nach Hause, um sich zu duschen und sich umzuziehen. X. sagte ihr, sie könne schon hier ein Bad nehmen, wenn sie wolle. Sie blickte ihn stumm und erstaunt an und lachte dann. Bevor sie ging, lud X. sie für den nächsten Tag zum Mittagessen ein. Er begleitete sie hinaus und hielt ein Taxi für sie an. Als er zurückkam, war niemand mehr an der Rezeption. Er schnappte sich seinen Schlüssel und brachte seine Sachen ins Zimmer Nr. 7. Am nächsten Morgen begrüsste ihn die Rezeptionistin mit „Bonjour Monsieur Benoît“.

Vanessa erschien tatsächlich zum Mittagessen. Sie gönnten sich in der Pergola des Hotels Stachelschwein mit Kochbananen und eine Flasche eisgekühlten Rosé. Nachher landeten sie im Bett. Sie setzte sich rittlings auf ihn und schlug ihm mit der Hand auf den Hintern, wenn er nachliess, und mit den Füssen auf die Oberschenkel, als ob er ein Pferd wäre und sie ihm die Sporen gäbe. Ein schlechtes Gewissen hatte er nicht. Er beendete gewissermassen für Benoît, was dieser angefangen hatte. Er brachte die Sache zu Ende, aber er machte es für ihn, in seinem Namen.

Am Abend gab sie ihm einige Texte, eine Art Tagebuch, die sie Benoît versprochen hatte. X. war neugierig auf ihren Inhalt, öffnete sie jedoch nicht und übergab sie, wieder in Europa, Benoît. Dass er mit ihr im Bett gewesen war, verschwieg er.

Was er allerdings nicht wusste: Vanessa erzählte Benoît alles, der X. jedoch nichts davon sagte. Dafür erzählte Benoît es mir, nach X.’ Verschwinden.

***

Ich ertappe mich bei der Fantasie, nach Bujumbura zu reisen und die Geschichte weiterzuführen. Ich könnte mich als Benoît oder als X. ausgeben (ich habe noch einen seiner Passports). Ich würde im selben Hotel Botanica absteigen, im selben Zimmer Nr. 7, und Vanessa anrufen. Ich kenne ihre Nummer (die bestimmt längst nicht mehr funktioniert – ich vergesse, wie viele Jahre das schon her ist! X. meinte manchmal auch, er könne irgendwohin zurückkehren und nahtlos dort weitermachen. Das ist eine Illusion, und wie viel mehr, wenn ich dort weitermachen will, wo jemand anders aufgehört hat. X. allerdings würde sagen: Natürlich kann ich in die Haut einer fremden Person schlüpfen – ich mache es dauernd! Und natürlich kann ich die Zeit austricksen – auch das tun wir unaufhörlich, ohne es zu merken).

(Der vorliegende Text ist ein bisher unveröffentlichter Auszug aus der entstehenden Erzählung «Tod eines Tricksters».) 

David Signers acht Erzählungen in «Dead End» kreisen um biografische Wendepunkte, an denen bisher geregelte Existenzen aus den Fugen geraten. Eben noch im Alltag verhaftet, finden sich die Protagonisten plötzlich an fremden, düsteren Orten wieder. In Situationen, die sie überfordern. Oder in denen ihr Leben zu einem jähen Ende kommt. Dead End.
Signer schickt in seinem Erzählband weisse, europäische Männer im mittleren Alter ins Verderben. Ob in Varanasi oder in Zürich, alle jagen verlorenen Träumen und unstillbaren Sehnsüchten hinterher, neben denen die Fassaden der bürgerlichen Leben zu Staub zerfallen.

David Signer, geboren 1964, promovierter Ethnologe, hat mehrere Jahre in Afrika verbracht. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches «Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt» über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Von 2016 – 2020 lebte er als NZZ-Afrikakorrespondent in Senegal, seit 2020 wohnt er in Chicago und berichtet für die NZZ aus Amerika und Kanada. Zuletzt erschienen von ihm die Erzählungen «Dead End» (Lector Books, 2017) und der Roman «Die nackten Inseln (Salis, 2010).  

Im Herbst erscheint von ihm im NZZ Libro-Verlag das Buch «Afrikanische Aufbrüche. Wie mutige Menschen auf einem schwierigen Kontinent ihre Träume verwirklichen».

Michèle Minelli «Chaos im Kopf», Jungbrunnen

Michèle Minelli hat schon mit ihrem ersten Jugendroman „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ keinen Wohlfühlroman, kein Geschichtchen geschrieben. Als Roman mitten aus dem Kampfgebiet Familie zeichnete die Deutsche Akademie für Kinder- und Jugendliteratur „Passiert es heute? Passiert es jetzt“ als „Buch des Monats Oktober 2018“ aus. Ihr neuer Roman „Chaos im Kopf“ steht dem Vorgänger in nichts nach!

Das Fenster meines Arbeitsplatzes öffnet sich direkt zum Eingang meines Schulhauses. Und selbst wenn das Fenster geschlossen ist, kann ich den Gesprächen der Jugendlichen unter meinem Fenster zuhören. Die Nische unter diesem Fenster ist abends und an Wochenenden zu einem regelrechten Treffpunkt geworden. Manchmal sind die Gespräche und Brunftlaute derart deutlich und penetrant, dass das Zuhören unvermeidlich wird und mich von meiner Arbeit wegreisst. Dann sitze ich da und höre nur mehr zu, staune darüber, wie weit ich mich von der Welt der Jugendlichen entfernt habe, obwohl ich mit Kindern arbeite, kippe weg in Erinnerungsfetzen meiner eigenen Jugend, um unsicher darüber zu werden, ob damals wirklich alles so ganz anders war.

Zu glauben, dass die Welt von Jugendlichen noch weit weg vom Ernst des Lebens sei, ist fatal. In so unsicheren Zeiten wie diesen noch viel mehr, wo Jugendliche schlicht nicht mehr wissen, wie und wo sie sich austesten sollen. Wie sehr das Leben einer Jugendlichen bedrohlich werden kann, beschreibt Michèle Minelli in ihrem neuen Jugendroman „Chaos im Kopf“. Doch „Jugendroman“ ist ein Etikett. „Chaos im Kopf“ ist ein Fenster in eine Welt, die allzu leicht und allzu schnell unterschätzt und mit Vorurteilen verzerrt wird. Umso wichtiger und hilfreicher, dass es Autorinnen wie Michèle Minelli gibt, die mit derart viel Empathie und Unmittelbarkeit eine Welt eröffnen können, die sich in der eigenen Erinnerung verklärt. 

Michèle Minelli «Chaos im Kopf, Antonia – vierzehn-dreiviertel», Jungbrunnen, 2021, 220 Seiten, CHF 26.90, ISBN 978-3-7026-5954-7

Antonia ist vierzehn-dreiviertel, noch eintausendeinhundertsiebzig Tage, bis sie sich volljährig aus den Fesseln ihrer Mutter, ihrer Familie, ihrer Rolle losreissen kann. Angi, ihre Mutter, demonstriert ein ganz eigenes Verständnis von Fürsorge, Mutterpflichten und Nestwärme. Ihre Mutter versetzt Antonias Reitstiefel zu Geld und öffnet einem neuen Lover die Wohnung. Man macht ihr die Schule zum Spiessrutenlauf mit der wiederholten Aufforderung endlich ernst mit der Suche nach Schnupperstellen. Charlie, der Neue ihrer Mutter, rückt ihr mit unmissverständlichen Unzweideutigkeiten auf die Pelle und ihre Freundin Emmi wendet sich als mutierte Streberin mit einem Mal von ihr ab. Alles wankt. Alles droht in einem endlos scheinenden Chaos zu versinken. Dabei will sie nur das eine; ihren Platz in einer Familie, die sie trägt und eine Perspektive für ihren grossen Traum. Antonia möchte Filmregisseurin werden. 

Aber wer Filmregisseurin werden will, braucht das Gymnasium, gute Noten, Lehrpersonen, die daran glauben und, wenn es den Papa nur als Erinnerung gibt, wenigstens eine Mutter, die mitträgt. Aber Angi hat ganz anderes im Kopf, als die fürsorgliche Mutter zu spielen, weder für Antonia noch für ihre beiden Schwestern, schon gar nicht für ihre kleine Schwester Pippa. Antonias Mutter ist eine notorische Leugnerin und Lügnerin, die alles nach ihrer Fasson drückt, die Vergangenheit und wenn nötig auch die Zukunft. Sie ist von sich als Künstlerin überzeugt, wenn nicht an Resultaten gemessen, dann ganz sicher als Lebenskünstlerin. Dass sich ihre Kinder nach der Pflichtschulzeit aus den Fängen des Staates lösen sollen, ist Maxime. Und seit Charlie, der Neue, in der Familie mitmischt, ist der Gang durch die Zeit erst recht hochexplosiv.

Irgendwann sitzt Antonia auf dem Dach einer alten Ziegelei, restlos verzweifelt, von ihren Ängsten umzingelt. Mit fast fünfzehn erwartet die Welt einen Plan. Aber selbst wenn man einen solchen hat und man noch eine Ewigkeit von der Volljährigkeit entfernt den Kampf ganz alleine ausfechten soll, braucht man Beistand, Zuneigung, ganz wörtlich verstanden. Michèle Minelli beschreibt einen Kampf, den Kampf mit jenen Ängsten, die einem zu lähmen drohen, die einem in Situationen zu treiben vermögen, die keinen gangbaren Ausweg mehr andeuten. Antonia merkt, dass sie ausbrechen muss. Dass dieser Ausbruch nicht ohne Konsequenzen bleiben kann. Dass es ein Kampf um viel mehr ist, als eine geregelte Ausbildung und einen festen Platz in der Welt.

Interview

Erwachsene bilden sich sehr oft ein, dass ihre Probleme viel die schwergewichtigeren seien als die von Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt darum, weil viele vergessen und verdrängen, was sie einst so sehr beschäftigte, weil sich der Mantel der Verklärung über die Kindheit legt, je älter man wird. Probleme, die die Existenz bedrohen, können nie miteinander verglichen werden. Warum tun wir es doch?

Das aktuellste Problem ist immer das schwerste. Das gilt bei Erwachsenen wie bei Kindern oder Jugendlichen gleich. Aber nicht nur neue Probleme stellen uns vor Rätsel, auch Probleme, die andauern. Und so geht es Antonia in dieser Geschichte: Zu ihrem andauernden Problem – der Lernfeindlichkeit in ihrem Elternhaus – gesellen sich neue Probleme dazu. Bis es ihr zu viel wird. Weshalb wir Probleme miteinander vergleichen, weiss ich nicht sicher. Meine Vermutung ist, dass in einem ernsthaften Vergleich der Versuch liegen könnte, eine Art Ordnung zu schaffen. Und was in einer irgendwie gearteten Ordnung seinen Platz findet, lässt sich bestimmt auch lösen; Ordnung ist der erste verheissungsvolle Schritt zur Lösung hin. Wenn da aber nur Chaos ist, wie bei Antonia, schwindet der Glaube an Lösung.

Was muss man sich als Schriftstellerin oder Schriftsteller bewahren, um mit Büchern wie dem deinigen so punktgenau den Nerv der Zeit zu treffen, zumal dein Blick aus deinem Arbeitszimmer alles bietet, was es zur Idealisierung braucht?

Um Antonias Geschichte schreiben zu können, musste ich mir die Erlaubnis geben, den Kontakt zu meinem eigenen Lebensgefühl als Jugendliche wieder aufzunehmen. Es war gewissermassen eine Tür, die ich aufgestossen habe, zurück zu einer jugendlichen Intensität des Fühlens. Dieses jugendliche Fühlen war bei mir geprägt von Impulsivität und einem unbedingten Drang, mein Leben zu gestalten. Wenn ich heute in einem von mir gestalteten Leben angekommen bin, birgt das auch die Gefahr der Verklärung – und die führt immer in Kraftlosigkeit. Insofern muss ich mir als Schriftstellerin meine Ambiguitätstoleranz bewahren, auch mir selber gegenüber – und diese ständig weiterentwickeln.

Warum hat es Kinder- und Jugendliteratur so schwer, sich neben der Erwachsenenliteratur zu etablieren, zu emanzipieren? Müssten wir nicht aufhören, in Kategorien zu denken, weil gute Literatur sich nicht vom Adressaten unterscheidet?

Frauenfelder Woche März 2021

Die Ansprüche, die von aussen an Kinder- und Jugendliteratur gestellt werden, sind immens. Es scheint, als haben viele scheinbar gescheite Erwachsene einst ein Korsett geschnürt, in das die Literatur für junge Menschen unbedingt zu passen habe. Sie muss pädagogisch wertvoll sein, eine Lehre oder Moral vermitteln, politisch korrekt sein, sprachlich gut aber nicht zu schwierig sein … – alles antiquierte Vorstellungen, denen ich mich in ihrem totalitären Anspruch nicht unterwerfen mag. Die Frage könnte man also auch so stellen: Warum haben es Kinder und Jugendliche so schwer, sich neben Erwachsenen zu etablieren und zu emanzipieren? 

Dein Roman ist eine latente Familientragödie; drei Töchter, eine alleinerziehende Mutter, ein mehr oder weniger übergriffiger Liebhaber der Mutter, Schule, die mehr fordert als fördert – und alles gekoppelt mit viel Angst. Eine Kindheit lang versucht man die Kinder vor aller Angst zu bewahren, um sie dann als Jugendliche mit ihren Ängsten vielfach alleine zu lassen. Wäre Angst an sich nicht ein guter Schutzmechanismus?

Angst ist eine überlebenswichtige Gefährtin. Aber sie darf nicht zur Anführerin werden und ausschliesslich allein entscheiden. Gegen sie zu kämpfen wäre falsch. Sie als Teil eines inneren Teams wahrzunehmen, ihr ein Mitspracherecht und eine Zuhörfähigkeit zu geben, würde schon viel helfen. Die Angst der Eltern, von den Problemen der Kinder überwältigt zu werden, braucht ebenso ihren Platz wie das Zutrauen, es gemeinsam zu schaffen und das Vertrauen, dass die Kinder ihre Schritte, wenn selbstgewählt, auch verkraften.

Antonia kann sich in keinem Moment auf ihre Mutter verlassen. Antonia sagt über ihre Mutter: „Sie lügt, sie betrügt, und sie verschluckt die Wahrheit wie ein schwarzes Loch die Sterne.“ Sie hasst ihre Mutter. Ist dann der Kampf nicht aussichtslos? Wenn man immer wieder beschwört, wie wichtig die Familie sei – gibt es einen Weg zurück? 

Ich glaube nicht, dass Antonia ihre Mutter hasst, aber sie hasst das, was die Mutter tut: Lügen. In den wenigen Momenten, in denen sich Antonias Mutter selbst schutzlos zeigt, finden die beiden zu einer unmittelbaren Nähe zu einander. Diese Nähe und das Verständnis füreinander ist wie ein Raum, der immer da ist, der aber leer bleibt, wenn sich die beiden nicht trauen, sich gewissermassen nackt zu zeigen, eben so, wie sie sind: unvollkommen, ängstlich, suchend – und dem Anderen im Innersten eben doch das Beste wünschend.

Gab es in unmittelbarer Vergangenheit ein Buch, das dich nicht losgelassen hat? Und warum?

Ich lese sehr viel und meist zwei Bücher parallel. Ein fast physisches Erlebnis boten mir die Geschichten von Clarice Lispectors Erzählband «Aber es wird regnen» (Penguin), und in seiner erzählerischer Konsequenz gefangen nahm mich «Die Parade» von Dave Eggers (Kiwi). Und ein freies, umwerfendes und psychologisch ehrliches Kinderbuch ist für mich «Betti Kettenhemd»,  von Albert Wendt (Jungbrunnen) – ein Buch, das ich am liebsten immer bei mir tragen wollte.

Michèle Minelli wurde 1968 in Zürich geboren und arbeitete zuerst als Filmschaffende, später als freie Schriftstellerin. Sie schreibt Romane, Sachbücher und probiert gerne verschiedene Textformen aus. Mit vierzig absolvierte sie das Eidgenössische Diplom als Ausbildungsleiterin und unterrichtet seither regelmäßig „Kreatives Schreiben“ und andere Themen in literarischen Lehrgängen.

Bei lector books erscheint fast zeitgleich Michèle Minelli Roman «Kapitulation»: Fünf kunstschaffende Frauen, die einst überzeugt waren, dass sie alles erreichen können, wenn sie nur wollen. Heute sind sie auf dem Boden der Realität angekommen: Sie können, sie wollen, sie werden übersehen und gehen vergessen. Bei einem Wiedersehen nach 18 Jahren loten die fünf ihre Möglichkeiten aus, reden über verpasste Chancen, lachen und trinken. Bis in dieser entspannten Runde die Idee aufkommt, einen Flashmob zu veranstalten, bei dem sich alle Frauen in Luft auflösen. Was vier der Frauen wieder vergessen, nimmt eine von ihnen todernst.
Buchtaufe mit «Kapitulation» (und einem Seitenblick auf «Chaos im Kopf») im Literaturhaus Thurgau am 29. April 2021! Moderation: Gallus Frei

Rezension zu «Passiert es heute? Passiert es jetzt?» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Anne Bürgisser

David Signer „Dead End“, lector books

David Signer schont mich nicht. Jede seiner acht Erzählungen ist ein Sinkflug in unbekannte Tiefen. Entgleisungen, die nicht aufzuhalten sind. Derart authentisch geschrieben, dass nie die Frage auftaucht, ob es möglich wäre. Der Erzählband „Dead End“ ist eine literarische Achterbahn, mit erstaunlichem Zug geschrieben, sprachlicher Hochgenuss, wahrhaft mitreissend!

Wenn im Frühling die Liste der Eingeladenen zu den Solothurner Literaturtagen erscheint, liest als erstes die blanke Neugier, welche Namen einem im vergangenen Lesejahr entgangen sind. (Und jedes Jahr auch die Überraschung darüber, dass erwartete Namen ausbleiben.) Bei David Signers gewichtigem Erzählband „Dead End“ gelang die Leseüberraschung total. Da schreibt eine unverbrauchte Stimme mit Leidenschaft und grossem Können. Da bricht eine untypische Schweizer Stimme ins Grossräumige auf, auch wenn sich Schauplätze im Bekannten verorten lassen. Da versteht es einer, mit einer ungeheuren Sogwirkung Extremsituationen zu beschreiben, die sich wie Alpträume anfühlen.

Christian Hartmann erhält einen Brief von einer Anwaltskanzlei aus Spanien. Man bittet ihn nach Valencia, um dort sein Erbe anzutreten. Eine Kassette, über deren Inhalt man keine Angaben machen könne, die man aber persönlich abzuholen habe gegen eine Kaution in fünfstelliger Höhe. Christian Hartmann ist mit Recht vorsichtig. Weiss er doch, wie gerne sich mit der Sehnsucht und Gier des Menschen krumme Geschäfte machen lassen. Mit aller Vorsicht und Skepsis nimmt er Kontakt auf und fliegt dann doch nach Spanien, immer mit dem sicheren Gefühl, das Heft sicher in der Hand zu haben, die Zügel jederzeit herumreissen zu können, sich nicht einwickeln zu lassen. Aber ich als Leser ahne es, leide mit bis zum bitteren Ende.

Mirko und Fred fahren nach Berlin. Sie wollen abtauchen in eine lange Kette angesagter Clubs, allen voran das Berghain, ein mächtiger Koloss mitten in Berlin, abtauchen mit Hilfe von Ecstasy und Koks, tief in die Unterwelt des Menschen, vorbei an Figuren und Fratzen, die an eine Geisterbahn erinnern. So tief und so plausibel, dass man sich beim Lesen die Augen reibt, erst recht ein Landei wie ich. Fred auf der Suche nach einem Mädchen – eine Geschichte, eine Stimme, die es so, wie sie in seiner Erinnerung feixt, hineinzieht in diese krasse Welt der Extreme.

Arthur, der vierzigjährige Soziologe, eine Mischung aus ewigem Student und Yuppie, nie wirklich in der universitären Hierarchie durchgestartet, in seiner Beziehung und seinem Beruf dauernd auf der Kippe zwischen Genügen und Ungenügen, verfängt sich in den Wirren von Widersprüchen. Ein anonymer Anruf denunziert ihn bei seiner Frau, er habe eine Freundin, treffe sich mit ihr, belüge sie. In seinen hilflosen Versuchen der Rechtfertigung verheddert er sich immer mehr und immer tiefer, bis sich die Schlingen so fest zusammenziehen, dass der Fall unweigerlich, unaufhaltsam, unvermeidlich wird.

David Signer bewegt sich in seinen Erzählungen dort, wo niemand hingeraten will. In einer Sprache, die mich überrascht und überzeugt. In einer Leichtigkeit, die mich mehr an angelsächsische Literatur erinnert, als an sonst mehr nach innen gerichtete deutsche Literatur. Erfrischend, vielversprechend!

Und wenn man sich akustisch noch mehr in die Geschichten vertiefen will, bietet der Salis Verlag auf deiner Webseite den entsprechenden Soundtrack!

David Signer liest an den 40. Literaturtagen in Solothurn vom 11. bis 13. Mai. Ich freue mich sehr auf diesen Auftritt. Literatur mit Sound und Groove!

David Signer, geboren 1964, ist promovierter Ethnologe. Er ist Autor des zum Standardwerk gewordenen Buches „Die Ökonomie der Hexerei oder Warum es in Afrika keine Wolkenkratzer gibt“ über die Auswirkungen der Hexerei auf die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas. Der Bild- und Textband „Grüezi – Seltsames aus dem Heidiland“, in Zusammenarbeit mit Andri Pol, erschien 2006, seine Romane „Keine Chance in Mori“ und „Die nackten Inseln“ 2007 und 2010 bei Salis. David Signer ist Afrika-Korrespondent der NZZ und lebt in Dakar.

Titelfoto: Sandra Kottonau