Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022? #SchweizerBuchpreis 22/10

Am Sonntag, den 20. November, kurz vor Mittag, ist es soweit; die Preisträgerin oder Preisträger des Schweizer Buchpreises 2022 wird im Theater Basel bekanntgegeben. Kameras, Blitzlichter, Blumensträusse, Enttäuschung da, Freude dort.

Ich gebe Alex Capus recht, Schreiben ist keine Olympische Disziplin. Schreiben ist Kunst. Und Kunst lässt sich höchstens mit Verkaufszahlen vergleichen, was aber nichts mit der Kunst selber zu tun hat, höchstens mit der Fähigkeit anderer oder jener, sich dementsprechend zu verkaufen. Ich gebe Alex Capus auch recht, dass AutorInnen nicht zu Zirkuspferden degradiert werden dürfen und sollen, die vorgeführt werden; ein Leitpferd mit hübschem Kopfschmuck und vier Begleitpferden, die das eine einrahmen. Dass es bei der Preisverleihung einen solchen Moment gibt, der nie ohne eine kleiner oder grösser werdende Peinlichkeit auskommt, streite ich auch gar nicht ab.

Aber bei einem Buchpreis wird auch nicht das wirklich beste Buch des Jahres ausgezeichnet. Wie sollte ein solches auch bestimmt werden. Schon die Frage, ob es ein solches überhaupt gibt, kann zumindest ich mit einem unmissverständlichen Nein beantworten. Das beste Buch? Da liest eine fünfköpfige Jury das, was von den Verlagen eingesandt wird. Sie lesen und geben dem einen Buch mehr Gewicht als den anderen, bis fünf Bücher nach einer Ausscheidung zurückbleiben. Aus der Politik wissen wir, dass am Schluss eines Prozesses der Kompromiss, der grösstmögliche gemeinsame Nenner präsentiert wird. Das ist auch hier so, auch wenn sich die diesjährige Jury sehr mutig gezeigt hat und alles andere als eine „Einheitssuppe“ präsentierte.

Thomas Hürlimann, Kim de l’Horizon, Lioba Happel, Simon Froehling und Thomas Röthlisberger


Das beste Buch des Jahres? Es ist wohl eher so, dass sich eine Jury auf ein Buch einigen konnte, auf das man einen extragrossen Scheinwerfer richten will. Der Schweizer Buchpreis ist vom Schweizerischen BuchhändlerInnenverein organisiert und mitfinanziert. Verkaufstechnische Überlegungen stehen im Vordergrund. Der Buchpreis ist eine PR-Aktion. Wie viel Bedeutung man diesem Preis zugestehen will, sei jedem selbst überlassen.

Viele Künstler, SchriftstellerInnen leben nicht allein vom Verkauf ihrer Kunst, ihrer Bücher. In der Schweiz mag es ein Dutzend AutorInnen geben, die das schaffen. Es braucht Lesungen, Stipendien, Förderbeiträge – und Preise. Preise generieren Aufmerksamkeit. Zu hoffen ist, dass alle Nominierten von solcher Aufmerksamkeit profitieren, auch Kim de l’Horizon, der in den letzten Monaten peinlich viel Unsinn über sich ergehen lassen musste.

Ich glaube, dass sich die Bücher von Thomas Hürlimann und Kim de l’Horizon in der Pole-Position die Nase vorn haben. Die Jury wird in jedem Fall mit der Bekanntgabe des Schweizer Buchpreises ein Statement abgeben. Sei es ein Statement für Tradition oder eines für Aufbruch. Grosse Preise, auch wenn der Schweizer Buchpreis im Ausland nur mässig wahrgenommen wird, sind immer Statement. Selbst die Vergabe des diesjährigen Nobelpreises für Literatur an die französische Altmeisterin Annie Ernaux kann als Statement verstanden werden. Mit «Das Ereignis» schrieb sie einen Roman über (oder gegen) staatlich kriminalisierte Abtreibung. Über die infernalische Einsamkeit einer jungen Frau im Kampf für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wenn man sieht, was in den USA oder auch in europäischen Ländern geschieht, ist diese Wahl mit Sicherheit auch ein Stück weit Signal.

Mein Siegerbuch ist «Blutbuch» von Kim de l’Horizon. Sollte Kim de l’Horizon am Schluss der Preisvergabe nicht im Blitzlichtregen auf der Bühne stehen wird, ist Kim de l’Horizons Buch mein Buch.
Weil es sich traut, weil es mutig ist.
Weil es dermassen vielschichtig, verflochten und klug ist.
Weil es mich ohne Arroganz zu lehren weiss.
Weil es mich überrascht und aus den Socken haut.
Weil Kim de l’Horizon sprachlich derart viele Register ziehen kann.
Weil die Diskussionen über dieses Buch und aus diesem Buch nicht enden werden.
Weil mich die Tatsache, dass «Blutbuch» ein Debütroman ist, verblüfft.

Und die anderen vier Bücher? Mein Kompliment an die Jury, denn die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat es in sich. Fünf literarische Würfe, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Bücher, deren Lektüre sich lohnt, die es mir aber, weil sie mehr als blosse Unterhaltung sein wollen, nicht immer leicht machten.

«Blutbuch» von Kim de l’Horizon
«Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann
«Steine zählen» von Thomas Röthlisberger
«Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel 
«Dürrst» von Simon Froehling

Gallus Frei

Illustrationen © leafrei.com

«Ein verinnerlichtes Buch» Meinrad Inglin in der orte-Literaturzeitschrift

Rechtzeitig zum 50. Todestag des Schriftstellers Meinrad Inglin finden nicht nur verschiedene Gedenkanlässe statt und gab sich die Meinrad Inglin-Stiftung ein neues Gesicht, es erscheint im appenzelleschen Schwellbrunn auch eine neue Ausgabe der Literaturzeitschrift orte, die sich ganz dem grossen Schweizer Autor widmet. Meinrad Inglin ist eine Entdeckung wert!

 

zur Literaturzeitschrift orte

Beitragsbilder mit freundlicher Genehmigung der Meinrad Inglin-Stiftung

Das 54. analoge Literaturblatt ist versandfertig!

«Die sind aber auch wirklich wunderschön gemacht, war auch einmal Teil davon und sehr begeistert!» Jürgen Bauer

«… und dann schwimmt vor Jahresende noch so eine zauberisches Literaturpost in meine Wohnung . Das ist wirklich eine Besonderheit! Vielen lieben Dank» Katharina J. Ferner

«Gibt’s denn sowas noch? Handgeschriebene, gezeichnete Buchempfehlungen. Dochdoch, die gibt’s bei literaturblatt.ch!» Joachim B. Schmidt

«Lieber Schweizer Initiator des Literaturblattes, dass es so etwas Schönes und liebevoll Gestaltetes wie das analoge Literaturblatt noch gibt, begeistert mich. Als ich das Literaturblatt sah, war es um mich geschehen. Ich freue mich sehr und denke, die Zusendungen werden Jahreshighlights sein.» Birgitta Nicola, Buchhändlerin und Illustratorin

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben:
Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH16 8137 3000 0038 6475 8
SWIFT-BIC: RAIFCH22

Wer muss es sein? #SchweizerBuchpreis 20/10

Wenn der Schweizer Buchpreis vergeben sein wird, ist eigentlich alles vorbei. Die Spannung weg, die Prognosen, die Diskussionen darüber, wer und welches Buch ihn verdienen würde. Ob wie vorletztes Jahr der schon mehrfach Nominierte den Preis verdiene, ob der oder die Unbekannte einen solchen Preis „wert“ sei. Dieses Jahr ist kein Erstling darunter, dafür Autorinnen und Autoren, die in der Art ihres Schreibens nicht unterschiedlicher sein könnten.

Aber vielleicht doch nicht, doch nicht vorbei? Wenn die Vergabe meiner Genugtuung entspricht, dann werde ich sagen: «Habs doch gewusst», dann ist es vielleicht eine Spur Erleichterung. Wenn die Vergabe mein Unverständnis erntet, dann werde ich noch eine Weile über die verpasste Chance den Kopf schütteln. Jene verpasste Chance, die sich mit der Nominierung dieser fünf Bücher vorsichtig in den Vordergrund zu schieben wagte. Bestimmt nicht, weil dann die immer gleichen Diskussionen wieder aufflammen, die bei einem solch „singularen“ Preis in der Literaturlandschaft Schweiz unvermeidbar sind. Schaffte man es, das Buch und nicht die Autorin oder den Autor dahinter zu prämieren, kein Lebenswerk, sondern dieses eine Buch, das das beste sein soll und es doch niemals ist, höchstens in den Augen und Ohren der fünf Jurymitglieder?

Alles an diesem Preis ist subjektiv, nur die Preissumme nicht.

Als Tomas Tranströmer 2011, vier Jahre vor seinem Tod den Nobelpreis für Literatur erhielt, war er längst nicht der erste Schriftsteller, der für seine Lyrik, seine Gedichte mit der höchsten literarischen Auszeichnung geehrt wurde. Aber als sein Name mit dem Preis in mein Bewusstsein drang und ich seine Gedichte zu lesen begann, war es gleichermassen Offenbarung wie Beschämung, denn erst mit Tomas Tranströmer begann ich wieder Gedichte zu lesen, lagen wieder regelmässig Gedichtbände auf meinem Nachttischchen und steckten solche in der Tasche auf meinen Reisen. Und als Jan Wagner 2015 mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“ den Preis der Leipziger Buchmesse gewann und hernach seinen Gedichtband zum Bestseller machte, schienen Gedichte ganz langsam aus ihrem Randdasein in Buchhandlungen und Festivals zu treten, vielleicht erst recht mit dem Paukenschlag in diesem Jahr, als das Nobelpreiskomitee eine für viele (mich eingeschlossen) unbekannte Autorin auf den Literaturthron setzte: Die Amerikanerin Louise Glück.

Wie lange muss es dauern, bis wenigstens unter den nominierten Büchern einmal ein Gedichtband erscheint? Wo steht geschrieben, dass es ein Erzählband sein muss? Ganz sachte brach diese Grenze zweimal. Als Ilma Rakusa schon im zweiten Jahr seit der Lancierung des Schweizer Buchpreises mit „Mehr Meer“ (Erinnerungspassagen) den Buchpreis gewann und 2012, als Peter von Matt mit seinem „Das Kalb vor der Gotthardpost“ (Essays) Preis und Blumen entgegennahm. Die Gedichtlandschaft in der Schweiz ist reich, Perlen gibt es viele, man muss sie nicht suchen.

Gäbe es in der Vergabe des Schweizer Buchpreises Logik, die es aber gar nicht geben darf, dann müsste der Preis eher an eine Frau vergeben werden und an ein Buch, das sich von der Romanform möglichst weit zu entfernen wagt. So prognostiziere ich eine einzige Möglichkeit; Dorothee Elmiger mit „Aus der Zuckerfabrik“. Nicht weil Anna Stern den Preis mit „das alles hier, jetzt.“ nicht verdient hätte, ganz im Gegenteil. Aber weil sich Dorothee Elmiger mit ihrem Buch traut. Sie traut sich, zu verunsichern. Sie will keinen Hunger stillen. Sie will nichts zu Ende bringen. Sie experimentiert mit dem Text, mit ihrem Schreiben, ihrem Forschen, vielleicht sogar mit meiner Reaktion als Leser. „Aus der Zuckerfabrik“ reisst aus der Form, verabschiedet sich aus aller Starre, jedem sicheren Rezept.

Sie muss es sein!

Wenn Hygiene stinkt.

Vor allem Im Sommer stank es im Werkraum des Schulhauses Kirchstrasse. Man dachte, es liege an der Belüftung, am Untergrund oder sonst irgend welchen Leichen im Keller. Aber ganz im Gegenteil: Was stank, diente einst der vorbildhaften Hygiene. 1909 richtete man in den Mauern des heutigen Werkraums 20 Schulbrausen ein. In einer Zeit, als Wohnungen im Normalfall kein Bad anzubieten hatten und man seine Waschungen am „Schüttstein“ in der Küche vollzog, als es auch in wachsenden, prosperierenden Dörfern wie Amriswil öffentliche Bäder gab und Körperhygiene weit weg von dem war, was man heute darunter versteht.
In Zeiten, in denen viele täglich duschen, Turnhallenduchen süsslich in Deowolken dampfen, in denen sich Lehrkräfte in gewissen Zeiten die Hände nach der Begrüssung mit Alkohol desinfizieren und man mit aller Selbstverständlichkeit in den Klassenzimmern kollektiv die Zähne putzt, spürt man mit einem Mal, wie weit weg die Zeiten der Grossmütter und Grossväter sind.
Grund für den Gestank war eine Ablaufleitung und ein Schacht, den man nicht versiegelte, unmittelbar unter dem Boden. Also vielleicht noch immer ein bisschen von dem Dreck, den die Kinder vor 100 Jahren mit Kernseife und Schweiss hinunterspülten.

Wer will anstossen? 400 Beiträge auf literaturblatt.ch

Lesen selbst ist einsames Tun. Noch viel mehr, wenn es an dem Ort still und ruhig ist, alles andere Tun eine Atempause einlegt. Aber weil mein Lesen mehr sein soll als nur die Salbung meiner Seele, das Glätten innerer Wallung, das stille Aufreissen oder einfach gute Unterhaltung, geniesse ich es, wenn in Gesprächen, Briefwechseln, dem Austausch das Buch zum Medium wird. Wie bei einer Seance. Wenn der Tisch zu beben beginnt, wenn durch das Medium die Welt dahinter zu Wort kommt.

Nachdem ich eine Rezension online gesetzt hatte, ging es nicht lange, bis auf diese eine Reaktion anklopfte. Eine jener Reaktionen für die sich all das lohnt, wofür man auf schmächtigem Pferd und lottrigen Harnisch für die Literatur ins Feld zieht:

„Lieber Herr Frei-Tomic!

Vielen herzlichen Dank für die sehr schöne Besprechung, über die ich mich sehr gefreut habe! Sie ist auch die allererste Reaktion aus der Schweiz. Sie werden lachen, denn zu dieser Passage — «Andrea Scrima ist eine Meisterin des Sehens, vermag mit ihrer feinen Wahrnehmung Oberflächen aufzubrechen, dahinter liegende Schichten freizulegen. Genau das Gegenteilige von dem, was in der Malerei sehr oft passiert.» — muss ich sagen, das ich ungefähr genauso gemalt habe, darunterliegende Schichten freizulegen, mit anderen Worten, Ihre Beschreibung des Buches könnte genauso eine Beschreibung meiner Kunst sein. Ich grüße Sie herzlich aus Berlin. Andrea Scrima“

Nun mache ich mir mein grösstes Geschenk selber. Ich lade zusammen mit den Musikern Christian Berger (Saiteninstrumente) und Dominic Doppler fünf junge Autorinnen nach St. Gallen ins Theater 111 ein. Dort werden sie aus ihren Büchern vorlesen und die Musiker in die Lesung eingefügt, die musikalischen Bilder dazu malen.

Wie sehr ich mich auf ein volles Theater 111 freue. Reservationen sind von Vorteil! Infos unter www.theater111.ch!

Auf bald!

Alte Schule

Ich war in Eile und ziemlich durch den Wind. Und zuhause würde ich an der Reihe sein, für das Nachtessen zu sorgen. «Und bitte nicht einfach den Inhalt des Kühlschranks auf den Esszimmertisch stellen.» Das kam auf dem Nachhauseweg zu Fuss der Fischstand auf dem amriswiler Marktplatz gerade recht. Frischen Fisch und noch ein geräuchertes Stück Lachs. Zwanzig Franken. Ich kramte in den Jackentaschen, in den Hosentaschen, mit wachsender Beunruhigung auch noch in meiner Mappe, zwischen Mäppchen, Heften und Griffelschachtel. Aber da war nichts, nur die Blicke des Mannes hinter der Ladentheke und der Frau mit Kinderwagen hinter mir.

«Ich muss passen. Meine Brieftasche ist nicht dort, wo sie sein sollte.» «Macht nichts. Nehmen sie den Fisch mit und zahlen sie nächste Woche.» «Müssen sie nichts notieren? Meinen Namen und den Betrag?» «Brauche ich nicht. Ich bin ein Mann alter Schule. Ich schau den Leuten in die Augen und weiss, ob ich mein Geld später bekomme. Bei ihnen passt’s.»

veröffentlicht in der Thurgauer Zeitung, am 5. April, 2018

Das 40. Literaturblatt ist auf dem Weg zu Dir!

«Lieber Gallus, seit einiger Zeit erhalte ich von dir das persönlich geschriebene Literaturblatt und habe es bis vor ganz kurzem nicht so richtig geschätzt, was ab sofort anders geworden ist. Deshalb: vielen Dank und Bewunderung für deinen Einsatz für unsere Literatur.»

«Ihre Literaturblätter sind sehr beeindruckend! Ich habe sie auf Ihrer Webseite gesehen; schon in diesem kleinen Format entfalten sie eine eigene Wirkung.» Melinda Nadj Abonji

«Danke Ihnen auch herzlich für das Literaturblatt, das angekommen ist. Ich finde das wirklich sehr schön mit den handschriftlichen Kritiken, und es zeigt Ihre Hingabe und Wertschätzung für die Literatur. Vielen Dank und bis bald. Herzliche Grüße, Carmen Stephan»

«Lieber Herr Frei, ich habe ihr wunderbares, einzigartiges Literaturblatt erst vor Kurzem entdeckt und bin begeistert von ihrer Leidenschaft und Kreativität für die Literatur. Ich liebe es zu lesen und bin immer wieder dankbar für Buchbesprechungen, die mir die Entscheidungen in der Buchhandlung erleichtern. Arja Lobsiger»

«Lieber Herr Frei-Tomic, vielen Dank für das Literaturblatt aus Papier! Ist es alles mit Handschrift? Sehr schön und elegant. Viele Grüsse aus Lausanne, Marie-Jeanne Urech»

«Ist da! Tausend Dank! Sehr schön! Lydia Daher»

Gallus Frei-Tomic „Der Angriff“

Ich laufe täglich meine Runde. Eine halbe Stunde und es reicht, um meinen Bauch im Griff zu haben und nicht allzu alt auszusehen, wenn ich mit meinen Neffen zu den Boxerhandschuhen greife. Es ist immer die gleiche Runde, die ich an guten Tagen fast wie in Trance laufe. Aber wenn ich mein rotes Laufshirt anziehe – und nur dann – dann ist an Trance nicht zu denken. Vor zwei Wochen geschah es zum ersten Mal. Ich lief und urplötzlich, wie aus dem Nichts, hörte ich ein dumpfes Flattern über mir. Ein Luftzug streifte meine Glatze. Ich lief weiter, bis es kurz danach wieder geschah, diesmal deutlicher, begleitet von einem grossen Schatten auf der Strasse. Ich blieb stehen und drehte mich um. Ein Bussard entfernte sich und landete auf einem Ast eines Apfelbaumes. Seither ist an Trance nicht mehr zu denken, erst recht nicht im roten Laufshirt. Ich bin als Läufer zur Bedrohung geworden. Irgendwo rechts oder links in den Bäumen wird der Bussard sein Nest mit den Jungen haben. Warum allerdings nur dann, wenn ich mein rotes Laufshirt trage, bleibt ein Rätsel. Längst nicht das einzige.

Hornkäse oder Ringelschwanzwurst

Mögen Sie Emmentaler? Bündnerfleisch? Thurgados? Muss der Name eines Produkts Art und Herkunft bezeichnen? Beim Käse reicht schon der Name und man schmeckt den Käse mit Löchern auf der Zunge. Beim Bündnerfleisch ist man sich schon nicht mehr so sicher, da nicht alles Bündnerfleisch aus Graubünden kommen soll, manchmal nicht einmal aus der Schweiz. Beim Tilsiter wird’s noch schwieriger. Tilsit ist eine Stadt in Russland.
Auf einer Tafel vor dem Käseladen in Amriswil prangt das Angebot „Hornkäse“. Schon klar; der Käse ist aus Milch von behornten Kühen, weder mit Hornpulver eingerieben noch im hohlen Horn gelagert. Wie wärs mit Freiluftpoulet? Erd-Erdbeeren? Hornbeaf? Vielleicht überlassen verödete Kühe ihre Milch lieber den hoffentlich nicht gehörnten Bauern. Vielleicht schmeckt die Milch von nicht amputierten, mit Brennstab präparierten Kühen besser, voller, abgerundeter. Vielleicht ist die Kuh mit Horn stolzer, ganzer, glücklicher als jene, die man narkotisiert (oder auch nicht) enthornte. Oder vielleicht spricht Hornkäse auch ganz einfach für den Bauern, dem die Kuh wichtiger ist als Stalloptimierung. Da gäbs doch noch mehr; Ringelschwanzwurst, Realerdbeerjogurt, Frischluftundfreilandchickennugets.

Geschmacklos

Männergesellschaften tragen manchmal witzige Blüten. Eine Männergesellschaft ist es auch, wenn ich an einem Sonntagmorgen mit meinem Sohn in Lindau im Frühstücksraum eines kleinen Hotels sitze. Und in Männergesellschaften blühen Wahrnehmungen und Feststellungen, die nur im Treibhaus einer solchen gedeihen können.

Das Tischchen zwischen uns war klein, kaum genug Platz für das, was wir vom Buffet zu unserem Tischchen getragen hatten. Und in der Mitte, auf einem kleinen Stück Stoff lag da noch ein längliches Tablett, Salz- und Pfefferstreuer, einem Zuckerglas und einem weiteren Gefäss, das aussah wie eine stehenden Glühbirne. Oben in der Fassung war ein kleines Loch, darin eine durchsichtige Flüssigkeit, bis unter die Metallfassung eingefüllt. Als mein Sohn ein weiteres Mal am Buffet nachschöpft, nehme ich das Glühbirnengefäss in die Hand und schnuppere an der kleinen Öffnung. Kein Geruch, keine Farbe, nichts. als mein Sohn zurückkam und sich setzte, weihte ich ihn in meine Zweifel ein. Er nahm das Gefäss wie ich in die Hand, kippte den Inhalt auf seinen Finger und schmeckt an diesem. Nichts, er zuckte die Schultern.

Keine Minute später tauchte eine der beiden schwarz gekleideten Hotelangestellten auf mit einem Strauss kleiner Rosen und verteilte auf jeden Tisch eine in die Glühbirnenvasen. Manchmal ist das Leben einfacher als die Gedanken, die man(n) sich darum macht.

Kackkugeln und Rosinen

Oh doch, manchmal schon. Warum sehe ich keine Heuschrecken mehr? Höre ihr Zirpen nicht mehr? Warum scheinen Spatzen immer öfter kopflos ins Fenster unseres Wohnzimmers zu fliegen? Warum sehe ich am Himmel immer seltener jene Wolken, die ich als Kind malte, Häufchenwolken? Warum immer häufiger Wolkenfelder, die kein Hollywoodanimator bedrohlicher hinkriegen könnte? Warum kotzt die Katze der Nachbarn immer in unsern Garten? Wovon leben sie Stechmücken in unserem dunklen Keller? Rosinenpicker gab es schon immer. Aber warum immer mehr Kackkugelfinder? Solche, die es sich zur Profession machen «aufzudecken», sei das dahinter noch so dünn.

Heiss und kalt

Draussen heiss, drinnen kühl, im Zug dem See entgegen, Richtung Romanshorn. Meine Frau und ich fanden zwei Sitzplätze, sie im Abteil gegenüber, ich neben einem nicht mehr jungen, vollkommen schwarz gekleideten Mann mit Totenkopf auf dem T-shirt und einer ganzen Reihe Piercings um den Mund. Als sich ein ganzes Rudel Kontrolleure durch den Zug pflügte, nahm der Mann neben mir die grossen Kopfhörer von den Ohren und begann in den Taschen seiner Hose zu kramen. Ein immer noch lautes Gekreisch apokalyptischer Soundkaskaden malträtiere meine linke Seite, während mein Blick an einer jungen Frau ein Abteil weiter hängen blieb. Sie war weiss und rosa gekleidet, jung, um die zwanzig, mit streng zum Dutt gekämmtem Haar, blauen Augen und fast weisser Haut. Sie betete, hielt demonstrativ ein kleines Büchlein wie ein Schutzschild gegen die Welt um sie herum, murmelte mit offensichtlichem Lippenbekenntnis und liess den Blick zwischen Büchlein und Publikum hin- und herschweifen. Auf dem Büchlein prangte die Mutter Gottes und in den Händen streifte sie Perlen ihres Rosenkranzes über den Zeigefinger. Mir lief der Schweiss heiss und kalt an den Seiten hinab.

Ich weiss nicht, woran es liegt.

Ich weiss nicht, woran es liegt. Denke ich länger nach, verlieren Ahnungen und Vermutungen an Kontur. Vor ein paar Wochen stand ich mit schlechtem Gewissen an einer Selbstbezahlstation im Supermarkt mit einer Flasche Wein. Weil ich mit der einen Flasche Wein nicht endlos lange anstehen wollte. Weil ich sonst immer bei Frau Muff anstehe, auch dann, wenn die Schlangen daneben weniger lang, die Gespräche an der Kasse kürzer sind. Weil Frau Muff, die Kassiererin, meinen Namen kennt, von der ich weiss, dass sie von Neapel kommt und die mir im richtigen Moment „Schöne Ferien“ wünscht. Ich hielt die eine Flasche Wein, die nicht im Kühlschrank fehlen darf, schon am Hals Richtung Station, als ich von einem Mann energisch beiseite geschoben wurde. Der Mann in Pantoffeln stellte sich zwischen mich und den jungen Verkäufer bei den Selbstbezahlstationen und begann zu schimpfen, als hätte jener junge Mann ihm die Schuhe geklaut. Es sei eine unzumutbare Sauerei, doch bloss eine von den Krawattenetagen inszenierte Sparmassnahme auf Kosten der Alten, Behinderten und Eingeschränkten. Eine verdammte Lügengeschichte von wegen Service. Er lasse sich diesen Stuss nicht länger bieten. Der Mann spuckte während der Verbalattacke mitten im vollen Supermarkt. Der junge Mann mit Namensschild und Krawatte (!) hatte keine Chance, nicht eine kleine Lücke Zeit im Gekeiffe seines Angreifers, schaute nur umher, hilflos mit gequälter Freundlichkeit. Kaum war das Donnerwetter zu Ende, drehte sich der alte Mann um und verliess eklatanter Ungerechtigkeit.
Letzthin im Zug machten zwei Kontrolleure ihre Arbeit; ein Mann mit Pferdeschwanzfrisur und eine ältere Frau mit Brille, die mich an meine Lehrerin erinnerte. Im Abteil mir gegenüber sass eine Frau, die, seit sie den Zug bestiegen hatte, unruhig auf ihrem Platz sass, in ihren Taschen kramte, leise vor sich hermurmelte und mich strafend ins Visier nahm, als sich unsere Blicke trafen. Als die Uniformierten mir den Rücken zudrehten und bei der Frau freundlich nach der Fahrkarte fragten, erklärte die Frau schon ziemlich laut und entnervt, sie habe dafür kein Geld, schon gar nicht, weil die Fahrkarten eh viel zu teuer, unerschwinglich seien. Und als die Kontrolleurin dann aber doch mit Nachdruck auf einen gültigen Fahrschein bestand, brach der Damm vor Beschimpfungen und Beleidigungen vollends. Erst recht, als der Mann mit Pferdeschwanzfrisur ihren Ausweis verlangte und gleich danach mit dem Telefon um Verstärkung bat. Dreckspack, Scheisszug und Affentheater waren die schwächeren Kraftbrocken, die die Frau mit Gift und Galle durch den Wagon schrie. Sie keifte und zeterte, als hätten die beiden ihr Geld gestohlen, tat es in einer Lautstärke, die alles andere im Zug verstummen liess. Entweder schaute man weg oder zuckte schon mal das Handy, um bereit zu sein, die Community teilhaben zu lassen am theatralen Spektakel im Zug.
Oder vor ein paar Wochen; Meine Frau und ich sassen abends beide im Wohnzimmer und lasen, als wir durch die geschlossenen Fenster Schreie und wilde Flüche hörten. Eine Männer- und eine Frauenstimme überschlugen sich in Heftigkeit und intimen Grobheiten. Es blitzte und krachte verbal, was das Zeug hielt. Selbst der Verkehr auf der Strasse pausierte für die Dauer dieser Schlacht. Die verunsicherten Blicke meiner Frau und mir kreuzten sich. Ich stand auf, öffnete die Tür zum Sitzplatz und lauschte dem Krach. Für einmal kein Drama am Bildschirm, kein Zerfleischen auf Papier. Die beiden hassten und beschimpften sich in Grund und Boden. Dann knallte eine Autotür, Reifen drehten durch und jemand raste hinter der Hecke vorbei. Mit einem Mal war es ruhiger als sonst. Bis die Vögel wieder zu singen begannen.

Ob Ausdruck von Dichtestress, den es in Japan bei viel mehr Menschendichte nicht zu geben scheint. Ob Ausdruck mangelnder Erziehung, verbaler Verwahrlosung, wie mein Nachbar weiss. Ob es immer schwieriger wird, den Druck an irgendeiner Stelle, einem Ort ablassen zu können. Ob es immer unzumutbarer wird, Emotionen angesichts aller latenter Aggression im Zaun zu halten. Ob Unzufriedenheit, Ohnmachtsgefühle und Endzeitängste immer drückender werden. Ob logische Konsequenz, wenn Wut, Zorn und Frust gar Teil eines politischen Programms werden können, man damit über dem grossen Teich gar Präsident werden oder auf den philippinischen Inseln endlich rigoros aufräumen kann.

Es gibt Raucherzonen, denn Rauchen ist ungesund. Und Nichtraucher sollen vor allfälligen Schäden geschützt werden. In Deutschland werden solche Zonen auf Bahnhöfen mit gelben Linien markiert. Warum keine Zornzonen, denn geschluckte Wut- und Zornausbrüche sind ungesund. Und Friedliebende sollten vor unkontrollierten Druckwellen geschützt werden. Muss man sich in Kirchen retten?
Ich weiss nicht, woran es liegt.

Titelfoto: Jan Kaeser

„Voll Schub, mein Mechaniker!“, eine Geschichte für 10 bis 12jährige

Ich hatte Lust, mit meinen Schülerinnen und Schülern eine Geschichte zum Thema «Fliegen» zu schreiben. Eine Geschichte für 10 bis 12jährige. Hier meine Geschichte:

Es war Nacht. Ich konnte schon wieder nicht schlafen. Es waren die Geräusche von oben, irgendwo aus den Wohnungen über uns. Manchmal klopfte es, Maschinen sirrten, das Ritsch-ratsch einer Säge.
Am nächsten Morgen erzählte ich meiner Mutter davon. Aber meine Mutter meinte wie schon oft, ich hätte nur geträumt. Und wenn die Sache mit meinem Schlaf nicht besser werde, müsse man vielleicht zum Arzt. Sie habe von all dem Rumoren von oben nichts mitbekommen. Trösten oder beruhigen konnte das nicht.
In der Schule schlief ich fast ein. Paul, mein Banknachbar, zwickt mich während der Deutschstunde. Dort mussten wir einen Aufsatz schreiben und ich schlief dabei fast ein. Irgend so eine dumme Geschichte zum Thema Fliegen. Keine Ahnung, wie Lehrer auf solche Ideen kommen. Wie soll ich schreiben, wenn ich meine Augenlider kaum mehr aufbringe? Neben Paul fasste ich einen Plan. Ich würde in der kommenden Nacht herausfinden, woher die Geräusche kommen, warum und wer mir meinen Schlag raubte.
In der darauffolgenden Nacht war es wieder so weit. Ich schlief ein wie ein Stein und wachte nach Mitternacht wieder auf. Jemand schlug Nägel ein. Ich war mir ganz sicher. Ich stieg aus dem Bett und schlich zum Schlafzimmer meiner Eltern. Vater und Mutter schnarchten im Takt. Das hörte man sogar durch die Tür. Wild entschlossen ging ich ins Treppenhaus. Über uns gibt es noch eine Etage mit zwei Wohnungen und darüber den Dachstock. Links wohnen zwei junge Studentinnen, die ich bloss vom Sehen kenne. Und rechts Herr Winkler, ein alter, pensionierter Mann, der mir manchmal half, mein Fahrrad zu flicken. Ein patenter Alter. Alle im Haus nannten ihn bloss Opa Winkler.
An der Tür zu den Studentinnen war es still. Aber als ich mein Ohr an die Tür von Opa Winkler legte, hörte ich jemanden schimpfen und das Geräusch einer Säge. Ich klopfte. Ich klopfte noch einmal. Wieder nichts. Ich drückte die Klinke und trat in Opa Winklers Wohnung. Etwas, was ich sonst niemals getan hätte. Aber heute Nacht war alles anders.
In Opa Winklers Wohnung herrschte ein heilloses Durcheinander. Überall stapelten sich Dinge; Papier, Zeitungsbündel, Karton, Holz, Fahrräder, Maschinen, Haushaltgeräte, Mikrowellen, Bügelbretter, ein Trampolin mit einem Loch mittendrin, Stoffballen und allerlei Plastikeimer. Es waren regelrechte Türme. Bloss ein schmaler Pfad führte durch das Gewirr von ab- und hingestellten Dingen. Erst jetzt wurde mir klar; Ich war noch nie in Opa Winklers Wohnung gewesen.
In einem Raum, der wahrscheinlich einmal das Wohnzimmer gewesen war, stand zwischen all dem Gerümpel, dem Schrott und den nutzlosen Dingen eine Leiter, die in eine Luke in der Decke führte. Dort oben musste Opa Winkler sein. Er sprach laut und hantierte etwas.
Ich bahnte mir einen Weg durch all das Gewirr, fasste die Leiter und stieg hinauf. Als ich oben meinen Kopf durch die Luke strecken konnte, sah ich etwas, was mir beinahe den Atem nahm. Es war nicht Opa Winkler in Arbeitsmontur und einer Stirnlampe, die mich blendete. Da oben sah es aus, wie in einer riesigen Werkstatt und mitten drin stand etwas, was tatsächlich wie eine Flugmaschine aussah. Opa Winkler hatte eben noch an einem der Flügel hantiert, hielt etwas wie Stoff in der Hand, hatte einen Stift hinter dem Ohr und zwei schwarze Nägel zwischen den Lippen.
„Opa Winkler?“, sagte ich vorsichtig.
„Was tust du hier mitten in der Nacht? Und wie kommst du hier herauf? War die Tür nicht verschlossen?“
Nach einer Weile sassen wir beide vor seiner Flugmaschine und schwiegen. Ich hatte ihm erzählt, er mir auch. Davon, wie vor Jahren seine Frau gestorben sei, wie schwierig es sei, keine Aufgabe mehr zu haben, den ganzen Tag nur auf den nächsten zu warten und dass er nun endlich den Traum vom Fliegen wahr machen wolle. „Irgendwann mache ich die grosse Dachluke hier oben auf und dann fliege ich weg. Irgendwo hin, nur weit, weit weg.“ Danach schwieg Opa Winkler und machte sich wieder an den Flügel seiner Maschine. „Willst du mir helfen?“
So wurde ich Opa Winklers erster Mechaniker. Zum Glück verlegte er wegen mir die meisten seiner Arbeitseinsätze auf die freien Nachmittage und Abende. Ich schlief wieder besser und wenn ich Mama und Papa sagte, ich ginge wieder zu Opa Winkler basteln, schien alles bestens zu sein. Papa und Mama waren froh, hatte ich in Opa Winkler ein Kindermädchen gefunden.
An einem Sonntag im Mai klopfte mir Opa Winkler auf die Schulter und verkündete: „Gallus, morgen Sonntag ist Jungfernflug. Morgen probieren wir aus, ob es fliegt.“
An Schlaf war in der Nacht zuvor nicht zu denken, obwohl keine Mucks von oben zu hören war. Früh morgens schlich ich mich aus meinem Zimmer in die Küche, strich ein paar Brote, packte einen Apfel ein und eine Flasche mit Wasser. Ich war unsäglich aufgeregt. Oben, bei Opa Winkler, war die Wohnungstür offen. Opa Winkler trug einen ledernen Helm, der uralt aussah und drückte mir einen alten, zerkratzten Mofahelm in die Hände. Das Flugzeug schien zu strahlen in der Morgensonne. Ein Doppeldecker mit kleiner Kabine, einem Motor, der einmal einem Rasenmäher gehört hatte und ein mit bunten Tüchern bespannter Rumpf und Flügel. Das Ding sah herrlich abenteuerlich aus. Nur würde es fliegen? Würde es nicht schon nach der ersten Kurve auf dem Parkplatz vor dem Haus notlanden müssen. Ich hatte schlottrige Knie. Aber Opa Winkler spürte das: „Nur Mut, mein erster Offizier. Die Kiste wird schon fliegen. Ich bin kein Anfänger.“
Opa Winkler schickte mich ins Cockpit. Wir hatten ausgemacht, dass ich vorne sitzen würde, weil Opa Winkler auch von hinten über mich hinaussehen würde. Er ging zu einem roten Schalter an einem der Estrichbalken, zwinkerte mir zu und drückte den Knopf. Es gab einen lauten Ruck und ein Teil des Hausdachs schob sich ganz langsam zur Seite. Opa Winkler rannte zum Motor, gab dem Propeller Schwung und schrie in den Motorenlärm: „Und jetzt gib Gas, mein erster Mechaniker!“ Opa Winkler hatte mit mir in den vergangenen Wochen immer wieder durchgesprochen, was meine Aufgaben wären. Ich war schrecklich aufgeregt.
Opa Winkler riss die Stopper unter den Rädern weg und schwang sich ins Cockpit. Der Motor dröhnte und aus der Luke im Boden schauten die Köpfe von Mutter und Vater. Ihre Gesichter waren schreckverzerrt, ihre Münder weit offen. Der Flieger setzte sich in Bewegung, fuhr auf die Dachöffnung zu. Mir wurde schlecht. Ich vergass zu atmen. Dann plötzlich sackten wir ab. Wir befanden uns im freien Fall. „Voll Schub, mein Mechaniker!“, schrie Opa Winkler hinter mir. Und wie durch ein Wunder hob die Maschine kurz vor dem Boden die Nase und drehte elegant ab Richtung Fussballplatz. Es war ein herrliches Gefühl. Ich jauchzte laut in meinem Helm, was mit Sicherheit niemand hörte. Unter mir sah ich Leute, die stehen blieben und zu uns hinauf schauten. Einige winkten, während sie immer kleiner wurden. Wir flogen! Wir zwei, Opa Winkler und ich. Es war wie ein Rausch! Opa Winkler klopfte von hinten auf meine Schulter. Ich war der glücklichste und stolzeste Mensch auf der ganzen Welt.
Und dann? Das Geschrei in der Stadt war unglaublich. Für die einen waren Opa Winkler und ich Helden. Die Studentinnen aus der Wohnung neben Opa Winkler organisierten sogar eine richtige Party. Andere hingegen schüttelten den Kopf. Opa Winkler bekam eine fette Busse. Aber weil die Studentinnen halfen, all die Dinge aus der Wohnung, die man noch brauchen konnte, auf einem Flohmarkt draussen auf dem Parkplatz zu verkaufen, war selbst die Busse nur noch ein halbes Problem. Das Beste aber war, dass wir, Opa Winkler und ich, auf dem Sportflugplatz vor der Stadt eine Werkstatt und einen Platz in einer Flugzeughalle bekamen. Irgendwann kam nämlich das Fernsehen. Und von da weg wollte jeder uns zu seinen Freunden machen.

Titelfoto: Sandra Kottonau