Herta Müller «Der Beamte sagte», Hanser

Romane erzählen Geschichten, manchmal auch mehr. Gedichte malen Bilder, manchmal mehr. Essays erklären, aber auch sie wollen manchmal mehr. Herta Müller will vielleicht gar nicht so viel, weder eine Geschichte erzählen noch die Welt erklären. Aber weil sie mit ihren Collagengedichten seit einem Jahrzehnt eine ganz eigene Ausdrucksart gefunden hat, war es nur eine Frage der Zeit, bis ihr durchaus ernst zu nehmendes Spiel bis in die Prosa wirkt.

Herta Müller schnipselt und klebt. Es gibt Fotos von ihr während ihrer Arbeit. Sie sitzt an einem Tisch, der übersät ist mit Wörtern und Wortfragmenten, kleinen farbigen Textbausteinen, mit denen sie bisher Lyrik und Kurzprosa zusammen mit kleinen Illustrationen zu eigentlichen Wortbildern zusammenfügte. Eine Technik, die ein wenig an Droh- und Erpresserbriefe erinnert, als sich Kriminelle noch die Zeit nahmen, aus Zeitungen Wörter zu schneiden und sie zu Texten zusammenzukleben. Was damals Angst und Schrecken auslöste, tut bei Herta Müller das genaue Gegenteil. Allein das Wissen, dass da jemand Text mit aller Akribie, Geduld und Muse so lange ordnet, arrangiert und platziert, macht das Lesen Herta Müllers Textseiten zu einer eigentlichen Meditation. Man wird ihnen nicht gerecht, wenn man einfach über sie hinwegliest, ihnen nicht jene Zuwendung schenkt, mit der die Autorin die Bilder erschuf.

Herta Müller «Das Beamte sagte», Hanser, 2021, 164 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-446-27082-4

Herta Müller erzählt von jemandem, der vorgeladen wird. Zuerst beim Beamten A, dann beim Beamten B, einem Herrn Fröhlich und schlussendlich bei einem Beamten in den oberen Etagen. Man wirft ihr fehlendes Heimatgefühl vor, heisst sie eine Staatsfeindin. Die Beamten führen Gespräche, Gespräche, die aneinander vorbeiführen. Sie, die Angeklagte, hält sich auf in dem Gebäudekomplex, dem Lager mit Kantine, nicht eingesperrt, manchmal auch in einem Café in der Stadt, begegnet Menschen, einem leeren Vogelkäfig und immer wieder einem Vogel mit Silberkragen. Doch, Herta Müller erzählt eine Geschichte. Aber sie breitet die Geschichte nicht aus, will keine Klarheit schaffen, nicht einmal Ordnung, obwohl die Schnipsel selbst doch so einen ordentlichen Eindruck machen. Aber vielleicht ist das das HertaMüller’sche. Wenn Ordnung gemacht werden kann, dann höchstens in die Form, aber nicht im Inhalt, der einem stets die Erklärung schuldig bleibt.

Ich habe Herta Müllers Buch ganz langsam gelesen. Einzelne Seiten wie Gebetstafeln vor mir auf dem Schreibtisch liegen lassen. Manches scheint sich erst mit vielfachem Lesen zu erschliessen, vieles bleibt nur eine Ahnung. Das Skurrile, Absurde wendet sich. Manchmal weht es den lichten Vorhang vor dem Hintergrund für einen kleinen Moment. Und manchmal geben mir einzelne Seiten einen Stoss. Schon der erste Satz der Erzählung (keine Satzzeichen!) Ist Programm für das ganze Buch: „Manchmal hab ich mich vermisst.“ Ein Satz, der mich mitnimmt. Ein Satz, der mich für einen langen Moment tief in mich zurückwirft. Oder: „Gegen Abend schob sich eine schrecklich müde körperwarme Ferne über unser Haus. Dann kam ein Wind und zog das letzte Hemd aus.“ Oder noch viel mehr!

Ein rätselhaftes, geheimnisvolles, zauberhaftes, wunderschönes Buch! Ein bisschen grösser als „normale“ Bücher, dickes Papier und so geklebt, dass man es offen auf einem Tisch liegen lassen kann, was sein muss, um es wirken lassen zu können. Eine Kostbarkeit!


Herta Müller
, 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Ihr Werk erscheint bei Hanser. Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet und ist die Literaturnobelpreisträgerin 2009.

Beitragsbilder © Laurence Chaperon

«Weil Groll am Scheideweg schön ist», Lubna 2012–2021

Erster Brief an Ivna
4. Januar 2021, Montag,

5. Februar 2012, Sonntag,

Nein, einen Moment …

Immer wieder verrät mich die Erinnerung …

Damit das Bild genauer wird: Das ist passiert an allen Tagen und es ist los, und wird immer wieder passieren, vielleicht in anderen zehn Jahren Krieg, und es ist: ein Gefühl.

Ein Gefühl, das aus dem Darm kommt und durch den Magen geht,
übt Druck auf das Zwerchfell aus und bildet Kurzatmigkeit.

Der Brustkorb wird flach wie eine Plastiktüte ohne Luft (Vakuumbeutel).

Alles wird eng, auch das Feld der leichten leuchtenden Schmetterlinge (biolumineszierende Insekten) erstickt, das Feld, das Vergnügen ausstrahlt und in Liebessituationen den Magen kitzelt.

Vom Arsch wird der Befehl erteilt, das Denken und die Logik vom Kopf zu nehmen, und alles wird zusammengedrückt und geschrumpft, so dass das Blut im Gehirn langsamer zirkuliert und der Körper zusammenbricht und auf die Erde prallt.

Der Strom der Tränen schliesst sich diesem Karneval des Schmerzes an und drückt seine Meinung darüber aus, was passiert und fliesst und fliesst.

Die Diagnose lautete: «Abwesenheit der Logik».

Also, liebe Ivna, der Groll am Scheideweg ist schön.

Die Liebe zum Aufbruch, die Anziehungskraft zum Bleiben

Zweiter Brief an Ivna

03.2020

Ich öffnete meinen roten Koffer, dreissig Kilo schwer. Er war voller Spielzeug und sehr kleiner Dinge. Es gab keine Bücher, keine Kleidung, nur Bilder und Details …
Ja, die Details … Wie oft am Tag sterben wir wegen der Details?

Details: Gerüche, Augenblicke, Staub auf den glänzenden Schuhen,

dunkle Flecken auf weissen Oberflächen folgen Löchern in den schönen, teuren Markensocken, und wir folgen rechten Winkeln und Dreiecken in den Badezimmerfliesen.

Diese Details gehören zu bestimmten Orten, Orten, die, wenn sie von ihren Details ausgeschlossen werden, fremd sind.

Am 03.03.2020 fing ich an, den Koffer auszupacken.

Er war voll mit kleinen Plastiksoldaten aus Russland. Mein Onkel brachte sie uns mit, als er dort war, und ich weiss nicht, was es bedeuten soll, uns Soldaten zu schenken.

Im Koffer gibt es eine Tasse, in die wir Buntstifte und Bleistifte gesteckt haben

Es gibt einen Glaskuh-Salzstreuer

Es gibt Notizbücher mit Gedichten voller vulgärer Liebe

Es gibt Seifenblasen

Es gibt Stühle und Holztische und Cafés

Es gibt Männer, die von der Liebe und der Religion zerstört wurden

Es gibt die Langeweile des Freitags

Er gibt und gibt und gibt.

Meine liebe Ivna, all diese Details haben ihren Platz in unserem Haus in Syrien. In meiner neuen Wohnung habe ich versucht, einen Platz für sie zu bauen, und bin gescheitert, der Platz hat sich nicht dem Wunsch der Erinnerungen gebeugt.
Also legte ich mich in den Koffer hinein und stülpte ihn wie eine schmutzige Socke um, deren Reinigung tausend Umdrehungen in der Waschmaschine erfordert.

Die Zerbrechlichkeit der Details beherrschte mich so, dass ich gehen wollte, aber die Schwerkraft zwingt mich, hier zu bleiben.

Liebe Ivna: Das Schreiben ist manchmal eine Alternative zur Psychotherapie.

Wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart

13. August 2021, Europa
Liebe Lubna,
kürzlich wurde ich gefragt, ob mein Name ein Tippfehler sei.

Namen sind Lose, las ich einst und schreibe es nach, schreibe es fort, in diese lose Lücke hinein. Begegnungen sind ebenfalls Lose, wenn sie bleiben, füllen sie etwas auf. Manchmal eine Lücke, von der wir davor nichts wussten, die wir nicht in uns ahnten. Doch ist der neue Mensch da, ist die Begegnung eine Kette, die bleibt, fragen wir uns nach dem Davor und wollen die fehlende Zeit, die nicht die gemeinsame war, so schnell es geht nachholen. Das ist Beziehung. Unerwartete Sehnsucht nach gemeinsamer Geschichte. Beziehung ist Erzählung.

Namen sind Lose, so auch der Ortsname unserer Geburtsstadt, der Grossmuttername, verdeckt durch die Heirat mit einem Mann, der Strassenname des Elternhauses, der Name des ersten Kusses, der Name der ersten Beleidigung, die wir erfahren – und schliesslich auch der Stadtname, der heute unseren Wohnort benennt und unsere Begegnung mitschreibt.

Liebe Lubna,
deine fünf Buchstaben und meine vier, rätselhaft verschlungen, freundschaftlich tanzen sie durch Gassen, die von ihnen davor nicht gehört haben. Wir verbinden uns mit Strassennamen, die uns nun auch umgeben, die ohne unsere Geschichten lange standen und nun in Erwartung dieser zuhören.
Liebe Lubna, wenn wir sprechen, sprechen wir Gegenwart. Du und ich auch. Nicht gleich, eher anders, manchmal unerwartet ähnlich, nur manchmal, doch gegenwärtig zusammen. Findest Du das auch?
Unsere Geschichten schwingen und verästeln sich, umschlingen andere Buchstaben, Worte, die wir suchen, die wir finden.
Manchmal fragen sie uns: Ist das ein Tippfehler?
Und wir sagen, klar und ehrlich: Nein.
Nein, das ist unsere Sicht- und Hörweise, das ist unser Geschmack, unsere Mundbewegung in dieser Sprache, das ist unser Rhythmus, so tanzen wir in diesen Strassen – das ist unsere Verbindung, in der wir Gegenwart mit schaffen. In der wir Raum schaffen, ihn vergrössern, in dem wir alle leben. So hören und fühlen wir.
Und wir fragen euch: Kommt ihr dazu?
Und wir bitten euch, höflich, aber ebenso klar und ehrlich, uns neue Fragen zu stellen.
Herzliche Grüsse

Deine Ivna

Lubna Abou Kheir studierte dramatisches Schreiben an der Hochschule in Damaskus. Seit 2016 lebt sie als Autorin, Theaterwissenschaftlerin und Schauspielerin in Zürich. Als Theaterautorin debütierte sie in der Schweiz mit dem Stück «Damaszener Café» im Theater Tuchlaube in Aarau. Seitdem folgten weitere Engagements u. a. in der Kaserne Basel und am Theater Neumarkt in Zürich.

Ivna Žic, 1986 in Zagreb geboren, aufgewachsen in Zürich, studierte Angewandte Theaterwissenschaft, Schauspielregie und Szenisches Schreiben in Gießen, Hamburg und Graz. Seit 2011 arbeitet sie als freie Autorin, Dozentin und Regisseurin u. a. am Berliner Maxim Gorki Theater, Schauspielhaus Wien, Luzerner Theater, Theater Neumarkt, Schauspiel Essen, Theater St. Gallen und bei uniT. Žic erhielt für ihre Texte eine Vielzahl von Stipendien und Preisen. Für ihren Debütroman «Die Nachkommende» wurde sie 2019 sowohl für den Österreichischen Buchpreis als auch für den Schweizer Buchpreis nominiert. 2020 erhielt sie den renommierten Anna Seghers-Preis. Žic lebt in Zürich und Wien.

Der Verein «Weiter Schreiben Schweiz» will Autor:innen, die aus Kriegs- und Krisengebieten in die Schweiz fliehen mussten und in ihren Heimatländern nicht mehr veröffentlichen können, das Weiterschreiben in der Schweiz ermöglichen, sie mit der Schweizer Literaturszene vernetzen und den öffentlichen Diskurs für diese Stimmen öffnen.

Das Projekt verbindet dafür Exil- und in der Schweiz etablierte Autor:innen in Tandems. Die Exil-Autor:innen veröffentlichen literarische Texte in der Originalsprache und auf Deutsch auf www.weiterschreiben-schweiz.jetzt und präsentieren ihr Werk auf Lesungen im ganzen Land. Das Projekt startete in der deutschsprachigen Schweiz, 2022 und 2023 folgen dann die französisch- und die italienischsprachige Schweiz.

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Max Annas «Der Hochsitz», Rowohlt

Manchmal werde ich für meine Weigerung, Krimis zu lesen, bestraft. Obwohl man mit der Gattungsbezeichnung „Krimi“ im Fall von Max Annas Büchern wohl nicht gerecht wird. „Der Hochsitz“ ist eine Gesellschaftsanalyse der späten Siebziger, stierem Spiessbürgertum und der allgegenwärtigen Angst vor dem Bösen, die nicht nur bei den Nachbarn oder weit weg stattfinden kann.

Frühlingsferien 1978 in einem kleinen Nest in der Eifel, nahe an der Grenze zu Luxemburg. Sanne und Ulrich sind elf und haben Zeit, unendlich viel Zeit. Wenn sie nicht auf „ihrem Hochsitz“ über ihrem Dorf sitzen, dann streifen sie durch den Ort, auch mal in den kleinen Laden von Trines, die sie Hanukas klauen lässt, in denen immer ein Bildchen von der kommenden Fussballweltmeisterschaft in Argentinien steckt. Die Jungs im Dorf bekommen sogar mehr Taschengeld, um ihre Alben mit den Fussballern zu füllen. Sanne und Ulrike klauen sie und kleben sie oben auf ihrem Hochsitz in ein getarntes Heft. Voll wird es nicht werden, schon gar nicht in diesen Frühlingsferien. Und weil es neben Ronnie Worm, Rudi Kargos, Harald Konopka, Hansi Müller, Rainer Bonhof und Karl-Heinz Rummenigge noch Platz hat, kleben sie auf die leeren Stellen die ausgeschnittenen Gesichter vom RAF-Fahndungsplakat, das sie ebenfalls geklaut haben. Aber es sind nicht nur die Gesichter der Fussballer und Terroristen, die in diesem Frühling die sonst tote Zeit füllen.

Max Annas «Der Hochsitz» Rowohlt, 2021, 272 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-498-00208-4

Im Nachbarort passiert ein Banküberfall und eines Nachts, Ulrike übernachtet bei Sanne, beobachten die beiden Mädchen in einer durchquatschten Nacht auf der Strasse vor dem Haus, wie ein Mann von seinem Motorrad kippt und eine Gestalt in Mantel und Hut mit einem Gewehr den am Boden liegenden exekutiert. Aber Sanne und Ulrike bleiben auf dem hocken, was sie gesehen haben und erzählen wollen, denn niemand glaubt ihnen, nicht einmal die Mütter, die Väter schon gar nicht. Wer glaubt schon kleinen Mädchen. Zudem fährt seit ein Paar Tagen ein übergrosser Cadillac durch die Dörfer an der Grenze. Betont langsam und immer wieder an Orten Pause machend, an dem das unpassende Gefährt gesehen werden muss. Ein Mann, der im Fond sitzt, lässt sich von Hof zu Hof chauffieren und bietet den Besitzern für Haus und Grund Summen, die träumen lassen, die einen von einer rosigen Zukunft, die anderen über die Gründe, warum der Mann noch nicht auftauchte oder dem einen viel mehr bieten sollte als ihnen.

Es kocht im Dorf, in dem sonst nie etwas passiert. In dem jede und jeder jede und jeden kennt, ausser die Hinzugezogenen. In einem Dorf, in dem  alle fast allen alles zutrauen. Der verrückten Gaby Teichert, die schon seit Jahren allein im Haus am Bach lebt und immer wieder mal nur in Mantel und Schlapfen an den Füssen zum Bach geht, um sich platt Gesicht voran ins kniehohe Wasser zu schmeissen. Vor Jahren fuhr ihr einziger Sohn ohne zu bremsen gegen einen Baum und der Mann weg. Aber ganz bestimmt die Peters vom Petershof. Die drei Brüder, von denen der jüngste Peter heisst, die aber auf dem Hof schon lange nichts mehr auf die Reihe bringen, es zuerst mit Zigarettenschmuggel versuchten, um dann später härteres Zeug über die Grenze zu bringen. Und als man wegen des Banküberfalls den langhaarigen Lehrling, der noch nicht lange frisch im Dorf wohnt und den jungen Frauen den Kopf verdreht, festnimmt, wo doch Sanne und Ulrike in einer Scheune ganz deutlich sahen, dass dieser sich mit ganz anderen Dingen leidenschaftlich beschäftigte, ist für die beiden Mädchen klar, dass die den Geheimnissen im Dorf auf die Spur kommen wollen. Auf ihre Art und Weise. Denn elfjährige Mädchen sieht man nicht.

Max Annas ist einer, der in seiner Hexerküche sitzt und mit List und grenzenlosem Vergnügen an den vielen kleinen Feuern werkelt, über denen die giftig explosiven Tinkturen köcheln, von denen ich als stiller Betrachter nie weiss, wann ihre schlummernde Gewalt ausbricht. Max Annas experimentiert mit den Untiefen menschlichen Seins in einem Dorf „am Ende der Welt“. In diesem kleinen Dorf in der Eifel, in dem jedes fremde Auto wie ein Eindringling wahrgenommen wird, hat Max Annas Lunten ausgelegt, verschlungen und versteckt, die alle gleichzeitig brennen, von denen ich als Leser genau weiss, dass irgendwo Dynamitstangen liegen, die zu explodieren drohen. „Der Hochsitz“ ist ein literarischer Flickenteppich, der sich vor meinen Augen zusammenwebt, der mich atemlos und fasziniert lesen lässt, weil der Roman viel mehr ist, als ein „Krimi“ aus Sicht des Ermittlers.

Wenn ich nun eines sicher weiss: Es gibt noch mehr von Max Annas!

Interview:

Obwohl ich noch nie in der Eifel war, bin ich es literarisch immer wieder. Erst mit den Romanen von Norbert Scheuer, den ich sehr verehre und nun mit Ihnen. War es einfach die nahe Grenze zu Luxemburg? Der ideale Kontext? Maximale Provinz? Oder doch eigene Erfahrungen, waren sie doch 1978 wenig älter als die beiden Mädchen Sanne und Ulrike?
In dem (fast) nicht genannten Dorf, in dem die meisten Kapitel spielen, ist meine Partnerin aufgewachsen. Die Kapitel, die sich mit den Fussballsammelbildern zur WM in Argentinien beschäftigen, und die Episode mit dem geklauten RAF-Fahndungsplakat sind dokumentarisch. Das ist der Auslöser gewesen für den Roman. Und die Geographie, die Geschichte und die Leute der Gegend hab ich natürlich sehr ernst genommen. Aber Sie haben Recht, ich bin damals nicht viel älter gewesen als die beiden Protagonistinnen. Vieles im Binnenleben der Familie Klein stammt also aus meinem eigenen Aufwachsen, aus der Erinnerung an meine Jugend in Köln, an meine Familie. Politisch, denke ich, waren sich viele Dialoge jener Zeit sehr ähnlich. Das konnte schon mal so wirken wie eine Fortsetzung der Moderationen des ZDF-Magazins unter Gerhard Löwenthal.

Sie bauen ein ganzes Dorf. Ein paar alt eingesessene Bauernfamilien, gescheiterte und gestandene, Zugezogene, Verschrobene, Verschlossene, Verrückte, Versteckte, ein Polizist, ein paar Grenzer und mittendrin zwei Mädchen. Sie erzählen aus allen möglichen Perspektiven. Wie bauen sie eine solche Geschichte? Wächst das nach und nach oder folgt die Geschichte einem Plan?
Tastend. Oder: Sowohl als auch. Ich baue eine solche Geschichte langsam und schreibend. So wie jeder neue Roman ein neues Vorgehen und einen neuen Plan braucht, so gibt es sicher Gemeinsamkeiten hinter den individuellen Plänen. Ein ganz und gar durchgeplotteter Roman, der alle Kapitel schon kennt, erscheint mir für den Schreibprozess nicht interessant. Ich muss mich mit den Figuren suchend im Terrain bewegen, mit ihnen im Dialog stehen. Vor allem mit den wichtigsten Figuren. Aber es gibt stets auch andere Fixpunkte. Bei «Der Hochsitz» war vom Beginn des Schreibens an klar, dass ich mich auf diesen doppelten Showdown zu bewegen würde.

Es ist die grosse Geschichte die fasziniert, ebenso die Kulisse, in der sie spielt. Aber auch die vielen kleinen Geschichten, sei es die Geschichte einer Mutter, die Mann und Sohn verliert, jeden Halt und irgendwie auch den Verstand. Oder die Minigeschichten wie die der beiden Mädchen, wie sie im Hochsitz Fussballerbildchen neben Fahndungsfotos von RAF-Terroristen kleben. Mussten Sie sich zusammenreissen, um sich nicht zu verlieren?
Die ganze Geschichte ist nur so gut wie deren einzelne Teile. Das Wunderbare an ihnen ist nun, das sie gar nicht ohne einander existieren können. Alles geschieht neben- und über- und gegen- und miteinander. Die Erzählebenen kreuzen sich, widersprechen sich, belauern sich beinah. Was ich in der inneren Stimme nicht erfahre, lerne ich dann durch die äußere Betrachtung. Drei Kapitel später. Der Prozess selbst, das Schreiben: Aufregend.

Damals hatten Kinder, wenn sie ihre Aufgaben in Haus oder Hof hinter sich hatten, Freiheiten, die Kinder heute gar nicht mehr kennen. Ihre Geschichte hätte so in der Gegenwart gar nicht spielen können, wo Eltern ihre Kinder mit dem Auto von der Schule abholen, Kinder in ein eigentliches Freizeitprogramm gepresst werden, um sie ja nicht auf „dumme Gedanken“ kommen zu lassen, in den Ferien in Kurse, ein Camp oder in ein Ferienressort mit Unterhaltungsmaschinerie. Die gute, alte Zeit?
Sicher ist «Der Hochsitz» ein Buch über das Erinnern. Hier und da möglicherweise ein Reflex auf die rechte Forderung, es möge alles so bleiben, wie es ist. Dann schauen wir doch einmal darauf, wie es gewesen ist. Werfen wir einen Blick in die Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland in der zeitlichen Mitte ihrer Existenz, der relativ kurzen sozialdemokratischen Phase. Und atmen wir also die Luft der guten alten Zeit. – Auf der anderen Seite war es für mich interessant, nach zwei Büchern, die in der DDR spielen, den Blick auf Westdeutschland zu justieren. Herauszufinden, wie sich mit dem Schreiben über das andere Deutschland der Blick aufs Eigene entwickelt.

Und auf der anderen Seite begegnet man in ihrem Roman all jenen, die durch die Zeit, durch die Maschen fallen. Denen, die es nicht schaffen, ob privat oder geschäftlich, in der Beziehung oder vor dem Spiegel. Ist Schreiben auch ein Mittel des Trosts?
Trost, natürlich, immer. Für den Autor. Er speist sich aus der Gewissheit, dieser Zeit lebend entkommen zu sein, lebend und lebendig. Vielleicht fehlt mir im Blick auf diese Zeit die Fähigkeit, jene zu sehen, die nicht durch die Maschen fallen. Liegts am Autor? Aufgewachsen in der Arbeiterklasse, prekär. Gut möglich. Liegts an der Zeit? An den falschen Versprechen, die samt und sonders bald wieder gebrochen werden sollten. Die Sicherheit, die soziale. Das Teilen. Das gesellschaftliche Miteinander. Alles gelogen. Alles aufgehoben.

Eine Figur in ihrem Roman erinnert ein bisschen an Dürrenmatts alte Dame. Ein Mann mit Geschichte kurvt in einem gemieteten Cadillac mit Chauffeur durch die Gegend und täuscht Kaufabsichten bei einer ganzen Reihe von Höfen vor. Was wie eine Einkaufstour ohne sichtbare Strategie aussieht, hetzt das Dorf, Nachbarn gegeneinander auf. Neid, Missgunst artet in Gewalt aus. Zufall?
Den Dürrenmatt kenne ich am besten über den Umweg via Senegal. Djibril Diop-Mambetys Verfilmung HYÈNES von 1992 war mir ein Fixpunkt in der Beschäftigung mit dem Kino des afrikanischen Kontinents. Aber der Stoff hat als Vorlage eigentlich keine Rolle gespielt. Das liegt an dem Fokus auf dem Chauffeur, der diese Erzählebene zieht. Der Mann, über den er uns erzählt, bleibt für uns im Undeutlichen, weil es der Chauffeur selbst ist, der nicht versteht. Ich bauchte hier einen Vermittler, der nichts zu vermitteln hat. Einen, der Augen hat, aber nicht sieht. Und damit gewiss nicht allein steht.

Müssen Sie Briefe aus der Eifel fürchten?
Tweets vielleicht? Grimmiges Gezwitscher aus der Eifel? Ich habe meine Premierenlesung in der Eifel gehabt, in Hillesheim, das ist ein paar Mal zehn Kilometer vom Schauplatz des Romans entfernt, da war alles ganz friedlich und freundlich. «Der Hochsitz» ist ja auch kein Schlüsselroman über die Eifel. Er nutzt das dort eigene, um darüber hinaus zu schauen. Dorf, Grenze, sich verändernde Strukturen, Mädchenleben im Aufbruch. Aber ich nehm die Briefe gern in Empfang. Furchtlos.

Max Annas, geboren 1963, arbeitete lange als Journalist, lebte in Südafrika und wurde für seine Romane «Die Farm» (2014), «Die Mauer» (2016), «Finsterwalde» (2018) und «Morduntersuchungskommission» (2019) sowie zuletzt «Morduntersuchungskommission: Der Fall Melchior Nikolai» (2020) fünfmal mit dem Deutschen Krimipreis ausgezeichnet. Bei Rowohlt erschien ausserdem «Illegal» (2017).

Beitragsbild © Max Annas

Alem Grabovac «Das achte Kind», Hanser

Alem Grabovac ergründet in seinem Debüt „Das achte Kind“ die Geheimnisse seiner Familien. Seiner Familien? Alem wächst als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Zwischen zwei Welten, zwei Familien, eine Kindheit und Jugend lang mit dem Mythos eines unglücklich verstorbenen Vaters.

Alem Grabovac erzählt die Geschichte von Alem Grabovac, nennt dessen Geburtsmoment auf die Minute genau am 2. Januar 1974 um 17.13 Uhr. Damit gibt Alem Grabovac seinem Roman jene dokumentarische Note, die die Diskussion um Fiktion oder Realität vorwegnimmt. Vielleicht ist das auch Alem Grabovac Art an seine Lebensgeschichten heranzugehen, weil Alem Grabovac Journalist ist, den Fakten verbunden. Ob dem Roman diese Nähe gut tut, lässt sich schwer beurteilen. Zumindest ist die Sprache seines Romans eine ebenso dokumentarische, weniger eine literarische. Alem Grabovac zeichnet auf. Da ist in nur ganz wenigen Szenen, dann wenn über dem Dokumentarischen die Emotion heller zu leuchten beginnt, jenes Momentum erkennbar, wo die Sprache über die Szenerie hinauswächst. Aber das tut dem Buch keinen Abbruch. Vielleicht hätte man „Das achte Kind“ nicht als Roman deklarieren müssen. Aber eine blosse Reportage ist das Buch dann doch bei weitem nicht.

Alem Grabovac «Das achte Kind», hanserblau, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26796-1

Was diese Geschichte eines Mannes, der in zwei Familien gross und sozialisiert wurde, in einer kroatisch-bosnischen Familie, die gegen Armut und versteinerte Strukturen zu kämpfen hatte und einer urdeutschen, die hinter der Rechtschaffenheit den Alp einer braunen Gesinnung zu verbergen hatte, ausmacht, sind seine Gegensätze, die Kontraste, die Grund genug hätten sein können, ein Leben scheitern zu lassen. Alems Mutter Smilja heiratet einen Säufer und Kleinkriminellen. Und weil sie das Geld der Familie einbringen muss, ganztags arbeitet und ihrem Mann den kleinen Sohn nicht anvertrauen kann, gibt sie den kleinen Alem in die Pflegefamilie Behrens, als achtes und letztes Kind. Zuerst nur an den Wochentagen und als die Situation zwischen Smilja und ihrem Mann, Alems Vater immer und immer länger mehr eskaliert, dann nur noch in den langen Sommerferien, wo Alem gegen seinen Willen die Tage an der Seite seiner Mutter durchstehen muss. Männliche Gewalt, Saufexsesse, Lügen und permanente Angst prägen Alems Leben mit seiner Mutter. Aber auch das Leben in der Pflegefamilie leidet unter einem Alp, denn Robert, der Vater, der meistens in seiner Kammer sitzt und für Motorradmagazine schreibt, ist alles andere als zurückhaltend, wenn es darum geht, seiner Sympathie für braune Gesinnung und Verehrung für die nationalsozialistische Vergangenheit Luft zu machen. Was Alem als Knabe bewundert, Roberts Liebe für Panzer, Robert vernarbtes Loch an dessen Schulter, Roberts «glorreiche» Vergangenheit als Soldat bei der Wehrmacht wird mehr zu einer übel riechenden Schlangengrube, der sich Alem immer weniger entziehen kann.

Und doch ist „Das achte Kind“ nicht einfach eine Milieugeschichte nach dem Muster „Ein Mann will nach oben“. So wie die Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien nach dem Tod Titos auseinanderbricht, der einstige Vielvölkerstaat, den Tito zum Musterstaat erklärte und in den Jahren 1991 bis 1999 in einen wirren Krieg versinkt, so kämpfen Familien und Ehen an den steinernen Strukturen einer männerdominierten Gesellschaft. Und so wie sich die Gesellschaft in den 80ern und 90ern in Deutschland das Mäntelchen der Rechtschaffenheit und des immerwährenden Fortschritts jeden Abend zufrieden einbürstet, so tief verborgen sitzt die Lüge und die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Alem wächst in genau diesen Kräften auf, in Kräften, die die einen zerreissen und den anderen alles abfordern, um nicht unterzugehen.

„Das achte Kind“ ist eine offene und direkte Analyse einer Gegenwart, die allzu leicht verborgen bleibt.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

 

Beitragsbild © Paula Winkler

56. Literaturblatt – «Liebe Freundinnen und Freunde»

Ich habe vor mehr als zehn Jahren mit den «analogen Literaturblättern» begonnen, weil ich nicht nur ein paar gute Buchtitel auf einem Zettel notieren wollte, sondern, weil ich meine Empfehlungen zu einer Mission werden lassen wollte. Weil ich mit meinen Literaturblättern allen Autor:innen, allen Schriftsteller:innen und Dichter:innen meinen Respekt zollen will. Weil Literatur Sprache gewordene Sorgfalt ist, die Mission, den Menschen die Welt öffnen zu wollen, auch in Richtungen, die unbequem sind.

Mittlerweile abonniert ein schönes Schärchen meine von Hand, mit Kugelschreiber gezeichneten und geschriebenen Literaturblätter, einige schon seit Beginn dieses Unternehmens. Dafür bin ich dankbar, das macht mich stolz.

Aber diese Literaturblätter sind neben meinen Einkünften als Moderator und Veranstalter die einzige Geldquelle in Sachen Literatur. Mein Schreiben für die Literatur sonst bringt kaum etwas ein. Das ist nicht weiter schlimm. Aber was mit die Abonnent:innen der Literaturblätter mit ihrer finanziellen Abgeltung ermöglichen, fliesst auf ein Konto, das mir die Freiheit gibt, mich weiterhin grenzenlos und manchmal auch erfrischend hemmungslos auf meiner Mission der Literaturvermittlung weiterzubewegen. Wer das Literaturblatt abonniert, unterstützt meine beiden Webseiten literaturblatt.ch und gegenzauber.literaturblatt.ch, mein Engagement weit über das Zeichnen, Schreiben und Gestalten hinaus.

10 Literaturblätter, die sich auf mindestens zwei Jahre verteilen, kosten Sie 50 Franken oder Euro. Mit diesem Beitrag unterstützen Sie nicht nur mich, sondern den ganzen Literaturbetrieb. In einer Zeit, in der dieser immer mehr vom Engagement einzelner abhängig ist, seit Corona erst recht. In einer Zeit, in denen es in den offiziellen Medien immer weniger Platz für die Literatur gibt, in der die Auseinandersetzung mir ihr immer fadenscheiniger wird.

„Literarische Blogger und -innen gibt es zuhauf, auch wenn kaum mal einer oder eine ein Buch aus dem Verlag hier hinten am Horizont in die Hände bekommt. Macht nix, Hauptsache Long John Silver liest unsere Preziosen. Nun ist es so, dass auch die Welt der Blogs eine der Superlative ist und wen wundert es, dass die Suche nach dem Besten, Schönsten und Weitvernetztesten im Gange ist. Mir persönlich ist nur einer bekannt; ein wenig verrückt ist er, – wie könnte ich ihn sonst kennen –, publiziert er doch seine immer eigenwillig geschriebenen Buchrezensionen – davon kann man sich jederzeit selbst überzeugen – nicht nur auf seinem Blog, sondern schreibt diese zusätzlich und von Hand mit Kugelschreiber wie in ein (B)Logbuch, druckt das Ganze auch noch auf Papier und verschickt diese Flaschenpost, die LITERATURBLATT heisst, per Post, mit Briefmarke und allem, was dazu gehört.“ Ricco Bilger, Verleger

Unterstützen Sie LITERATURBLATT hier.

Vielen, vielen Dank!
Und herzliche Grüsse
Gallus Frei-Tomic

PS Lesen hilft immer!

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser

Es ist vier Jahre her, seitdem Ruth ihren Mann Ludwig durch einen tragischen Skiunfall verloren hatte. Aber statt sich auf ein neues Leben zu fokussieren, erschüttern anonyme Nachrichten ihr Leben. Obwohl sie sich mit aller Kraft gegen den Kontrollverlust stemmt, werden aus den hereintropfenden Nachrichten überhohe Wellen, die ihr Leben zu kippen drohen.

Mit der Wasserfolter können Menschen durch stetig auf den Körper tropfendes Wasser um den Verstand gebracht werden. Jeder einzelne Tropfen ist ein Nichts. Das permanente Tropfen allerdings reisst am Verstand.

Ruth hat sich nach dem Tod ihres Mannes in ihrem neuen Leben eingerichtet, zumindest einigermassen, denn der Schmerz sitzt noch immer tief. Sie lebt in einem kleinen Holzhaus, das sie einst zusammen mit Ludwig baute. Zwei ihrer drei Kinder führen ein eigens Leben. Und der Jüngste, auch wenn er in der Schule nicht sein Möglichstes tut, schickt sich immer deutlicher an, ein eigenes Leben führen zu wollen. Ruth ist erfolgreich in ihrer Arbeit, zufrieden mit ihrem „Alleinsein“, an dem sie gar nichts ändern will. Eine Ruhe, die nicht leicht zu erreichen war, denn Ruth hatte nach dem Tod ihres Mannes feststellen müssen, dass Ludwig nicht der war, für den sie ihn ein Leben lang hielt, zumindest was seine Treue betraf. Ludwig führte ein Nebenleben, von dem Ruth erst beim Aufräumen seiner Hinterlassenschaft erfahren musste. Ein Stachel, der ihr nicht einfach nur Schmerzen bereitete. Er verunmöglichte jene Trauer, mit der sie sich gerne von ihrem Mann verabschiedet hätte.

Doris Knecht «Die Nachricht», Hanser Berlin, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-27103-6

Und als mit einem Mal, wie aus dem Nichts, Nachrichten über Social Media in ihr Dasein eindringen, Nachrichteten, die von Mal zu Mal verletzender und zerstörerischer werden, Nachrichten, die nicht nur an sie gelangen, sondern an alle, die zu ihrem Umfeld gehören, bis zu ihren Arbeitgebern, bröckeln all jene Sicherheiten, auf denen Ruth ihr neues Leben einzurichten versuchte. Es sind Nachrichten, die nicht nur sie und ihren verstorbenen Mann beschmutzen. Es sind Nachrichten, die sich in der Brutalität ihrer Sprache ins Unterbewusstsein schleichen und dort zu steuern beginnen – nicht nur bei ihr, sondern aus Ruths Sicht auch in den Leben um sie herum, hinein bis in ihre Arbeit. Ein zerstörerisches Tropfen, gepaart mit der dauernden Frage, wer der Verfasser oder die Verfasserin dieser Nachrichten sein könnte. Bis hin zu Verdächtigungen, die sie an sich selbst zweifeln lassen, die ihre Familie, ihre Freundschaften belasten. Nachrichten, die zu einem immerwährenden Alp werden.

Wie wenig braucht es, dass ein Leben in Schieflache gerät. Wie verletzend können Wörter und Sätze sein, selbst wenn sie mit der Wahrheit rein gar nichts zu tun haben. Wie einsam kann man sich fühlen, wenn man sich nicht zu wehren weiss, wenn sich Dinge in ein Leben einmischen, die nicht zu beeinflussen sind. So sehr wie Krebs Ruths Freund von innen zerfrisst, sich unaufhaltsam an seine Zerstörung macht, so kann das zersetzende Gift von Unwahrheit und Beleidigung das Denken und Handeln zerfressen. „Die Nachricht“ offenbart diesen Zersetzungsprozess, den Sog, den diese Zersetzung auszulösen vermag. Ebenso eindrücklich beschreibt Doris Knecht unterschwellig aber auch jene Kraft, mit der man sich diesem Zersetzungsprozess entgegenstellen kann, auch wenn er damit nicht aufgehalten werden kann.

Klar liest man den Roman mit der Spannung, wer wohl der Verfasser dieser Nachrichten ist und was  die Gründe dafür sein könnten. Aber die eigentliche Spannung des Romans liegt ganz woanders: Ich will wissen, wie es Ruth schafft. Ich will sie siegen sehen. Ich will, dass sie ihr Leben zurück bekommt. „Die Nachricht“ dringt tief ein. Nicht nur, weil es Doris Knecht meisterlich versteht, die Spannung hochzuhalten, sondern weil ich weiss, dass das, was Ruth geschieht, auch mir passieren könnte, jetzt.

Interview

Obwohl es für Ruth immer klarer wird, wer der Verfasser dieser „Nachrichten“ sein könnte, bleibt jene Person eigentlich ein Gespenst, unfassbar. So wie anonyme Verfasser:innen von irgendwelchen Texten immer Geister sind. Wir leben im Zeitalter der Geister. Inhalte sind wichtiger als ihre Verifizierung, als ihre Verfasser:innen. Alles wird kommentiert, behauptet, erfunden. Gleichzeitig steigt das Bewusstsein, dass Wahrheit subjektive Wahrnehmung ist. Ruth ist diesem Geist lange hilflos ausgeliefert, eine ganze Welt den Fake-News. Müssen wir kapitulieren?
Es ist jedenfalls sehr schwer, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Bzw: sich gegen einen unfassbaren, anonymen Stalker zu wehren, braucht Fokussierung und eine Menge Energie, die einem dann woanders fehlt. Und meistens bringt es am Ende nichts, man verliert also. Ruth wird das bald klar, und sie wählt einen anderen Weg: Sich zu stärken gegen solche Angriffe, weniger verwundbar zu werden, das abperlen zu lassen. Allerdings: Das führt auch dazu, dass viele Frauen verstummen und sich unsichtbar machen, um nicht zum Ziel von Angriffen zu werden.

Warum schaffen wir das „einfache Leben“ nicht mehr? Ruth will doch eigentlich nur den Frieden mit sich selbst und der Welt. Ist unser Leben derart kompliziert geworden, dass wir uns nicht mehr auf die wesentlichen Dinge konzentrieren können?
Es wird immer schwieriger, sich nicht ablenken zu lassen, wenn man nicht auf die Bequemlichkeiten des Internets, der digitalen Kommunikation, der sozialen Medien verzichten möchte. Da tun sich halt Welten auf, auch Wissens-Welten, in denen man sich gut verlieren kann. Das Problem ist: Wenn man darauf verzichtet, wird das Leben vielleicht ruhiger, konzentrierter, fokussierter, aber einfacher wird es nicht.

Es gibt in ihrem Buch, das eigentlich auch ein Liebesroman ist und ein Roman einer „Ernüchterung“ ist, ein ganzes Kapitel, dass sich wie eine Liebeserklärung liest. „Ludwig war ein kräftiger Mann…“ (S. 69). Ein Text wie eine Hymne. Ein Kapitel, dass deutlich macht, wie tief der Stachel der Enttäuschung sitzt und wie sehr sich das Ganze „entzündet“ hat. Pumpen wir Begriffe wie „Liebe“, „Familie“, „Ehe“ nicht zu sehr auf?
Unsere Gesellschaft macht Liebesglück, eine gelungene, funktionierende Ehe oder Beziehung, ein harmonisches Familienidyll leider noch immer zu einem Massstab eines erfolgreichen Daseins. Das schafft einen Erwartungsdruck auf Frauen und Männer, die für sich andere Existenzformen gewählt haben, der sich mitunter schwer abschütteln lässt.

Ruth steigert sich in das Rätsel dieser Nachrichten hinein. Das Fundament ihres Lebens scheint zu zerbröseln. Der Grat über den menschlichen Abgründen wird immer schmaler. Gibt Ihnen das Schreiben Halt, weil es ordnet? 
Tatsächlich ja. Man beschäftigt sich ja jahrelang mit dem Thema und den Figuren eines Romans, und mit diesem Thema habe ich mich besonders lange auseinandergesetzt. Daraus eine Geschichte zu machen, sie aufzuschreiben, sie für andere fühlbar zu machen, schafft ein gute Distanz, aus der sich auch komplizierte, schwierige Dinge klarer sehen lassen.

Am Schluss ihres Romans könnte das Wörtchen „Ende“ nicht stehen. Ich mag Geschichten, die nicht „zu Ende“ erzählt sind, weil keine Geschichte ein Ende hat, meist nicht einmal einen Anfang. Hätte die Geschichte im Prozess des Schreibens auch einen anderen Verlauf nehmen können oder war der Plan von Beginn weg festgelegt?
Ganz zu Beginn habe ich noch die Möglichkeit eines Rache-Exzesses erwogen, aus dem das Opfer als strahlende Siegerin hervorgeht. Mir war dann gleich klar, wie utopisch und märchenhaft das wäre. Ich wollte eine realistische Geschichte mit einem realistischen Ausgang erzählen, und das Match Feminismus gegen Patriarchat wird halt leider so gut wie immer vom Patriarchat gewonnen. Viele finden das Ende unbefriedigend, aber genau so ist das Leben nun mal.

Doris Knecht laust aus «Die Nachricht» am 5. November um 19.30 Uhr in der Kantonsbibliothek Frauenfeld. Reservationen bei der Organisatorin Marianne Sax (saxbooks.ch).

Doris Knecht, geboren in Vorarlberg, ist Kolumnistin (u.a. beim Falter und den Vorarlberger Nachrichten) und Schriftstellerin. Ihr erster Roman, Gruber geht (2011), war für den Deutschen Buchpreis nominiert und wurde fürs Kino verfilmt. Zuletzt erschienen «Besser» (2013), «Wald» (2015), «Alles über Beziehungen» (2017) und «weg» (2019). Sie erhielt den Literaturpreis der Stiftung Ravensburger und den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Doris Knecht lebt mit Familie und Freunden in Wien und im Waldviertel.
 
 
Beitragsbild © Heribert Corn

Michael Hugentobler «Feuerland» #SchweizerBuchpreis 21/9

Was passiert, wenn sich Wissenschaftler:innen als Hüter eines oder des Grals verstehen? Was passiert mit ihnen, wenn sie feststellen müssen, dass ihre Gegenwart den Schatz, von dem sie wissen, nicht zu schützen weiss? Ein Buch wird zum letzten Tor einer untergehenden Welt. Michael Hugentobler nimmt mich mit und gewährt mir einen Blick auf das sich schliessende Tor.

Michael Hugentobler war 13 Jahre auf einer Weltreise unterwegs, auch in Südamerika, in Patagonien, in Feuerland, jenem Gebiet am südlichsten Zipfel des Kontinents, das man bei seiner Entdeckung für unbesiedelt hielt, das aber von nomadisch lebenden Indianern bewohnt wurde, unter andern auch von den Yámana. Aber von diesen Völkern ist fast nichts geblieben. Kolonialisierung, eingeschleppte Krankheiten, Goldrausch und Christianisierungsversuche setzten den Völkern derart zu, dass von den ehemaligen Wassernomaden fast nichts mehr geblieben ist.

«Wörterbuch und Grammatik der Sprache der Yámana», auf dessen Umschlag man den Namen des Verfassers Thomas Biedres zu löschen versuchte.
Foto © Michael Hugentobler

Auf Michael Hugentoblers Reise durch dieses Land erfuhr er von der Geschichte eines argentinisch-britischen Missionars und seiner Leidenschaft für die Sprache der Yámana. Thomas Bridges wurde Zeit seines Lebens ein akribischer Erforscher der Sprache jener Ureinwohner und verfasste über Jahrzehnte ein Wörterbuch, das nicht einfach übersetzte, sondern die Wörter der Yámana in den Zusammenhang ihres Daseins schrieb. So wurde aus der Wörtersammlung das eigentliche Vermächtnis eines Volkes, dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu verschwinden drohte. Thomas Bridges war aber nicht einfach ein fanatischer Sammler. Dieser Missionar wurde zum letzten Kämpfer dieses Volkes, wenn auch immer unter kolonialistischen Vorzeichen. Er gewann vom damaligen argentinischen Staatspräsidenten gar Landrechte, die er für die überlebenden Yámana-Indianer sichern wollte. Sein Wörterbuch, in dem er auf über 1000 Seiten mehr als 32000 Yámana-Wörter sammelte, trug er zeitlebens mit sich herum. Wie einen Schatz.

Michael Hugentobler «Feuerland», dtv, 2021, 224 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-423-28269-7

Schon gezeichnet von einer Krankheit starb Thomas Bridges auf einer seiner Reisen. Sein Wörterbuch gelangte in die Hände eines „erfolglosen Polarforschers“, der mit dem Buch seine Chance witterte, in den Olymp der Unsterblichen aufgenommen zu werden. Aber das Buch schien im Besitz dieses Mannes kein Glück zu bringen, bis es 1912 in London in die Hände des deutschen Völkerkundlers Ferdinand Hestermann fiel, dem sofort klar war, welchen Schatz er durch einen puren Zufall zu fassen bekam.

Ferdinand Hestermann spürte genau, dass in den Wirren des Krieges und zwei Jahrzehnte später in den Schatten des sich anbahnenden Tausendjährigen Reichs all jene Schriften und Bücher in Gefahr sind, die nicht dem wachsenden völkischen Bewusstsein des Nazis entsprachen. So wie damals Thomas Bridges machte sich Ferdinand Hestermann auf in einen Kampf. Diesmal ganz und gar nicht für ein Volk, schon gar nicht für das deutsche, sondern für die Wissenschaft, das Wissen, die Schätze, die sich über die Jahrhunderte in Bibliotheken ansammelten, die sich die Nationalsozialisten aber einverleiben wollten, um sie, wenn nötig, zu vernichten, so wie alles, dass ihnen nicht dienlich oder entartet erschien.

Michael Hugentobler erzählt die Geschichte nicht einfach chronologisch. Es stellt auch nicht den Anspruch, Historie nachzuerzählen, auch wenn ich als Leser bei meinen Verifikationen auf überraschend viele Fakten stosse. Es sind die beiden Männer, Thomas Bridges und Ferdinand Hestermann, die nicht nur aus heeren Gefühlen und purer Nächstenliebe zu Hütern eines Schatzes werden. Michael Hugentobler verwebt die beiden Männer und ihre Besessenheit miteinander. Er führt vor Augen, wie gross die Gefahr wird, wenn Wissen instrumentalisiert werden soll, sei es zum eigenen Nutzen oder im Dienst einer Ideologie. Was den Roman von Michael Hugentobler aber zu einem wirklichen Lesevergnügen macht, ist sein Detailreichtum, seine Buntheit, die kräftigen Farben, mit denen der Schriftsteller malt. Ich staune darüber, was der Autor alles mit in seinen Roman einpackt. Als hätte er sich nicht bloss unmittelbar an der Seite seiner beiden Protagonisten bewegt, als hätte er den Geist jenes Buches in jenen Augenblicken, als er es bei einem Besuch in der British Library in Händen hielt, in sich aufgesogen.

tūwunaiella — eine Wutrede beenden; zu bellen aufhören, linganāna — sich auf eine Wiese benehmen, dass sich die andere Person verpflichtet fühlt, ein Geschenk zu überreichen, māmihlāpinatapai — einander tief in die Augen schauen, wobei beide hoffen, der andere würde einen Vorschlag unterbreiten, der allgemein erwünscht ist, aber bislang noch nicht ausgesprochen wurde…

Michael Hugentobler offenbart das Geheimnis, wenn man für einen kurzen Augenblick im Licht einer untergehenden Sonne, einer verschwindenden Welt steht.

Mein Fazit: Der Roman hätte den Preis verdient. Der Autor hätte den Preis verdient!

Michael Hugentobler wurde 1975 in Zürich geboren. Nach dem Abschluss der Schule in Amerika und in der Schweiz arbeitete er zunächst als Postbote und ging auf eine 13 Jahre währende Weltreise. Heute arbeitet er als freischaffender Journalist für verschiedene Zeitungen und Magazine, etwa ›Neue Zürcher Zeitung‹, ›Die Zeit‹, ›Tages-Anzeiger‹ und ›Das Magazin‹. Er lebt mit seiner Familie in Aarau in der Schweiz. Sein Debütroman «Louis oder Der Ritt auf der Schildkröte» erschien 2018.

«Der alte Mann im Nebel» auf der Plattform Gegenzauber

Webseite des Autors

Beitragsillustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, #SchweizerBuchpreis 21/8

Wer geht schon ohne Grund auf einen Polizeiposten. Auch der Mann in Thomas Duartes Roman „Was der Fall ist“ nicht, auch wenn er niemanden und auch nicht sich selbst anzeigen will. Aber manchmal werden Polizeiposten auch zu Beichtstühlen – in Ermangelung einer Alternative. Thomas Duartes Roman ist ein kafkaesker Stich in die Tiefen menschlichen Seins.

Eigentlich ist es seine Stadt, sein Sommer, seine Nacht. Aber das was er tut, ist mitten in der Nacht nicht einfach ein Spaziergang, um Klarheit und etwas Abstand in sein Leben zu bringen. Es regnet, er ist nass bis auf die Haut. Scheinbar rein zufällig kommt er an einem Polizeiposten vorbei, von dem er gar nicht wusste, dass es ihn in seiner Stadt gibt. Und weil er klitschnass ist, durstig und ein Gegenüber braucht, geht er durch die beiden Glastüren zum einzigen Polizisten an einem fast leeren Schreibtisch, der Nachtwache im Posten hält. 

Beide brauchen sie ein Gegenüber, der nasse Mann, um Ordnung in ein Leben zu bringen, das aus den Fugen geraten ist und der Polizist, weil ihm eine Aufgabe in einer sonst ereignislosen Nacht gegeben ist. Der nasse Mann ist vertrieben worden. Vertrieben von seinem eigentlichen Zuhause, seiner Aufgabe, seiner Arbeit, von seiner Chefin, von Franz und Mira, der Frau, die längst viel mehr ist als nur die Putzfrau, die einmal wöchentlich bei ihm im Büro sauber macht. Denn er arbeitet nicht nur in seinem Büro. Er lebt dort. Tagsüber an seinem Schreibtisch, seiner Aufgabe, nachts in dem kleinen, fensterlosen Kabuff hinter seinem Schreibtisch, in dem eine schmale Pritsche steht. Er ist Buchhalter und „Exekutivperson“ in einer Stiftung, die finanzielle Unterstützung an Gesuchsteller auf der ganzen Welt gewährt, die in Notlage geraten sind, an Leute, die auf der Flucht sind, gezwungen werden, für einen Hungerlohn Drecksarbeit zu verrichten, für Menschen, die sich für ihr Recht zur Wehr setzen wollen. Er nimmt Gesuche entgegen, bearbeitet sie, nimmt Kontakt mit Gewährsleuten auf und legt die Gesuche seiner Chefin und Franz, dem Inhaber der Stiftung, vor. Franz residiert einige Etagen weiter oben in seinem vermüllten und zugestellten Büro. Auch er lebt mehr als er dort arbeitet und schreibt an seinem „Buch über den Zustand der Welt“. Franz ist der Mann mit dem nötigen Kapital, Geld, das nicht nach den Regeln von Rendite und Investition eingesetzt werden soll.

Thomas Duarte «Was der Fall ist», Lenos, 2021, 301 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-016-5

Aber nach der ordentlichen Jahresversammlung des Stiftungsrates hat man dem Buchhalter das Vertrauen entzogen, ihn seines Postens, seines Lebens entzogen, aus seiner ganz engen Welt katapultiert, die er immer mehr nach seiner Fasson zurechtgeschrieben hatte, denn so gefärbt die Wahrnehmung eines jeden Gesuchsstellers (inkl.*) ist, so sehr gab er den Gesuchen bei seiner Endformulierung eine Färbung. Und weil Mira, die Putzfrau, immer mehr zu einer Gefährtin wurde, die im Kabuff hinter dem Büro die schmale Bettstatt mit ihm und gegenseitiger Leidenschaft teilte, weil später noch ein weiterer Ayslsuchender dazukam, weil Bilanzen ganz offensichtlich nicht mehr zum Stimmen gebracht werden konnten, endete die sonst zur Routine gewordene Jahresversammlung im Desaster, auch deshalb, weil selbst Reihen von säuberlich aufgereihten Ordnern das Chaos nicht mehr verbergen konnten.

Zwei Männer eine ganze Nacht lang auf einem Polizeiposten. Der eine erzählt, der andere tippt mehr oder weniger sein Protokoll in den Rechner auf dem sonst blanken Tisch. Der Roman switcht vom Erzählen auf dem Polizeiposten und dem Gespräch zwischen dem Buchhalter und Franz, seinem Chef. Sie färben beide ihre Wahrheit, der eine in seinen Berichten, seinen bearbeiteten Gesuchen, der andere in seinem Lebensprojekt, seinem „Buch über den Zustand der Welt“.

Wer bei seinem Lesestoff den Untertitel „Nach einer wahren Begebenheit“ braucht, ist mit diesem Buch schlecht bedient. „Was der Fall ist“ ist auch weder Krimi noch Enthüllungsgeschichte. Thomas Duarte taucht in eine skurrile Welt, die sich wie die Stiftung selbst nicht an geltende Regeln hält. Das ist äusserst erfrischend, aber auch gleichermassen verunsichernd. Aber weil Thomas Duarte sein Erzählen so selbstverständlich und gekonnt präsentiert, weil sich der Humor des Erzählers nicht an Pointen orientiert, sondern in allem Duartes spezieller Sound unterlegt ist, weil „Was der Fall ist“ nicht zuletzt eine gesellschaftliche Kritik an der Unsinnigkeit geltender Regeln ist, wird dieser Roman zu einem echten Leseabenteuer!

Fazit: Man muss schon eine gehörige Portion Mut besitzen, um sich von den gewohnten Lesepfaden entfernen zu wollen, will man die Qualitäten dieses Debüts erkennen. Aber weil ihn der Charta des Preises steht: um …“herausragenden Büchern grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu verschaffen…“, gebe ich der Perle wenig Chancen, weil die breite „Öffentlichkeit“ solche Bücher gar nicht will.

«… Unaufgeregt und mit feiner Ironie entlarvt Thomas Duartes Text Gemeinplätze und bringt vorgefasste Sichtweisen ins Wanken. Dabei reflektiert er nicht nur das Erzählen und Rezipieren von Geschichten, er porträtiert auch mit frohgemuter Verzweiflung die Absurdität der Lebens- und Arbeitsbedingungen in unserer kapitalistischen Konsumgesellschaft…»
(Zitat aus der Jurybedründung zum Studer/Ganz-Preis 2020)

Thomas Duarte, geboren 1967, aufgewachsen bei Basel. Er studierte Geschichte und Philosophie und arbeitete nach Aufgabe des Studiums zuerst als Tramchauffeur, dann als kaufmännischer Angestellter und Sachbearbeiter. Später Studium der Kulturwissenschaften und der Literaturwissenschaft. «Was der Fall ist» wurde 2020 mit dem Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte Debüt ausgezeichnet. Thomas Duarte lebt in Bern.

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Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, #SchweizerBuchpreis 21/6

„Grösser als du“ ist mit ‹Geschichten› untertitelt. Aber wie schafft es ein „Geschichten-Buch“ in die Shortlist des Schweizer Buchpreises? Veronika Sutter Buch ist alles andere als harmlos. Weder inhaltlich noch sprachlich. Wie gut, dass es auch in der dritten Reihe leuchtet, blitzt und funkelt! 

Geschichten bekam ich von meiner Mutter vorgelesen, wenn ich krank war. Wahrscheinlich glaubte meine Mutter an deren heilende Wirkung. Selbst ich glaube an die heilende Wirkung von Literatur, auch wenn Veronika Sutters Geschichten so gar nichts gemein haben mit den Geschichten, die immer ein gutes Ende hatten, wenn meine Mutter sich an mein Bett setzte und vorlas. Veronikas Geschichten sind alles andere als Geschichtchen. Und ob sie heilsam waren, zumindest für mich, weiss ich nicht, denn sie lösten einiges aus, nicht zuletzt eine ganze Portion Wut.

„Grosser als du“ sind 16 Erzählungen (Geschichten als Bezeichnung ist zu harmlos!) die alle zwischen den Jahren 1991 und 2019 spielen, zwischen den beiden grossen Frauenstreiks. 1991 nahmen Hunderttausende an jenem Streik teil, der für viele, nicht bloss für Frauen, zu einer Zäsur wurde, war es doch erst 20 Jahre her, seit die Männer in der Schweiz über das Frauenstimmrecht abstimmten und noch immer ein Drittel dieser Männer dafür gewesen wäre, es besser beim Alten zu lassen. 20 Jahre, in denen wohl das Frauenstimmrecht funktionierte, aber von gleichen Rechten keine Rede sein konnte. Dass damals Hunderttausende auf die Strasse gingen, nicht nur in Zürich, machte vielen Mut, nicht zuletzt jenen, die in ihrer eigenen Geschichte noch weit davon entfernt waren, sich auf Augenhöhe mit der Männerwelt zu behaupten. Frausein muss immer noch Selbstbehauptung sein, auch wenn es mittlerweile, ein halbes Jahrhundert später, Männer gibt, die sich von der Wucht der Weiblichkeit überrumpelt und bedroht fühlen.

Veronika Sutter «Grösser als du» Geschichten, edition 8, 2021, 192 Seiten, CHF 22.80, ISBN 978-3-85990-421-7

In Veronika Sutters Buch sind aber nicht 16 lose Erzählungen aneinadergefügt, die alle irgendwie mit den beiden Streiks, mit Frauenschicksalen zu tun haben. Wer zu lesen beginnt, merkt nach und nach, dass die Erzählungen miteinander verknotet sind, dass es Momentaufnahmen im Leben von Gloria, Karo und Helen oder Aldo und Walter sind, die miteinander verwoben sind. Momentaufnahmen, die zeigen, wie weit Frauen und Männer bis in die Gegenwart voneinander entfernt sind, wie tief Verletzungen sind und wie sehr sich Menschen hinter ihrem Schweigen, hinter Fassaden und ihren ungestillten Sehnsüchten verstecken.

Was bleibt, wenn man nach einer Flucht aus einer übergriffigen Beziehungen, in die man fast bewusstlos hineinrutschte? Was passiert, wenn sich perfekte Missverständnisse wie Druckwellen ausbreiten? Wenn sich fremde Welten für einen Augenblick nicht wirklich begegnen, dafür sich umso mehr in diesem einen Moment abstossen? Wenn der Tod so kalt wird wie die Gurkensuppe, in der das Gesicht der Mutter liegt. Wenn sich Syphillis in die Seele frisst. Wenn die Enkelin Gloria am Sterbebett ihrer Grossmutter Annie sitzt und sich abhängen lassen muss von der Urgewalt ihrer Junkiemutter Selma.

Veronika Sutters Bilder, die Szenerien ihrer Geschichte gehen unter die Haut, lösen Emotionen aus, bei mir im ersten Teil des Buches sogar Wut. Männer sind fast ausnahmslos Monster, trunkene Schläger, blinde Grobiane. Ich mache der Autorin keinen Vorwurf. Mein Problem, ich bin ein Mann. Und weil Veronika Sutter in ihrer Brotarbeit wohl immer wieder mit Schicksalen, Frauenschicksalen konfrontiert wird und es unbestreitbar wichtig ist, dass man(n) darüber schreibt, sind Erzählungen wie diese von Veronika Sutter Notwendigkeit, wenn man(n) sich nicht vor Tatsachen und Schicksalen verschliessen will.

Aber auch sprachlich ist Veronika Sutters Buch eine Kostbarkeit, auch wenn sich Helvetismen in den Text eingeschlichen haben, für die mir Erklärungen fehlen. 

Fazit: „Grösser als du“ hat die grosse Bühne verdient. Nicht nur, weil das Buch mit wichtigen Themen der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit aufrüttelt, sondern weil das Buch klug konstruiert und die Dramatik des Buches Lesern in die Knochen fährt!

Veronika Sutter, 1958 geboren und im Sihltal aufgewachsen, arbeitete Veronika Sutter als Buchhändlerin, Kulturveranstalterin und Journalistin. Seit dem Studium in Kommunikationsmanagement ist sie in der Öffentlichkeitsarbeit für Non-Profit-Organisationen tätig. Sie engagierte sich im Vorstand der Stiftung Frauenhaus Zürich und bei Greenpeace. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich. «Grösser als du» ist ihr erstes Buch.

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Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams» #SchweizerBuchpreis 21/5

Vielleicht ist es die Sehnsucht des Menschen nach der perfekten Maschine, der perfekten Hilfskraft, des perfekten, bedürnislosen Dienens. Ganz sicher ist er der Reiz des Machbaren, Erschaffer:in zu werden. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist eine Geschichte in der Geschichte in der Geschichte. Ein Roman, der den menschlichen Code zu knacken versucht, jenes Geheimnis, das uns zu Menschen macht.

Schon in ihrem letzten Roman „Knochenlieder“ spielte Martina Clavadetscher derart gekonnt und verblüffend mit ihrer Sprache, ihrem Sound, ihrer Konstruktion, ihrem ganz eigenen Instrumentarium, dass sie für mehr als „nur“ den Schweizer Buchpreis nominiert wurde. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die grosse Schwester ihres letzten Romans. Formal ähnlich gestaltet (im Flatter- nicht im Blocksatz), manchmal fast an Lyrik erinnernd, über weite Strecken geschrieben, als wäre die Autorin monologisierend auf einer schwarzen Bühne im Scheinwerferlicht, das Szenario in den Köpfen der Zuhörer:innen aufsteigen lassend. „Die Erfindung des Ungehorsams“ geht aber noch einen Schritt weiter, steht „Knochenlieder“ in nichts nach, überflügelt ihn.

„Ihr Leben verläuft nach Plan.“

Martina Clavadetscher will nicht einfach eine spannende Geschichte erzählen. Sie erzeugt während des Lesens das Bewusstsein, wie schmal der Grat zwischen Realität und Künstlichkeit ist, wie nah wir uns in unserer Gegenwart einer bedrohlich werdenden Zukunft nähern, wohin uns unsere Fantasielosigkeit gepaart mit Profitdenken führen kann, wie klein der Unterschied ist zwischen Menschlichkeit und Automatismus. Dabei rankt sich ihre Sprache in Sphären, die in der deutschsprachigen Literatur nur selten anzutreffen sind. Ihre Sprache, ihr Erzählen ist alles andere als künstlich und schafft einen erstaunlichen Kontrast zum fast blutleeren Geschehen in der Geschichte.

„Gesetzmässigkeiten tarnen sich bloss mit Willkür, damit das Logische nach aussen unlogisch wirkt.“

Martina Clavadetscher «Die Erfindung des Ungehorsams», Unionsverlag, 2021, 288 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-293-00565-5

Iris lebt irgendwo in Manhattan in einem Penthouse. Sie erwartet Gäste, wartet mit Ungeduld. Es wird eine kleine Party sein, wie immer und jedes Mal, mit Godwin und Wollstone, zwei älteren Damen. Iris hat den Part der Erzählenden, während die Gäste lauschen. Iris erzählt aus dem Leben von Ada, Ada Lovelace, die es wirklich gab, die vor mehr als 200 Jahren in England lebte und die Tochter jenes berühmt, berüchtigten englische Dichters Lord Byron (1788–1824) war, den sie aber nie kennen lernte. Von ihrer gestrengen Mutter (im Buch Übermutter) erbte sie das überdurchschnittliche Geschick mit Zahlen, das sie schon in jungen Jahren mit dem Mathematiker Charles Babbage zusammen brachte, der eine Differenzmaschine entwickelte, etwas, das sich als Vorläufer der heutigen Computer entpuppte. Ada, einst ein kränkliches Kind, von der Mutter überbehütet, um es aus dem langen Schatten ihres unseligen Vaters zu zerren, entwickelte mit Charles Babbage die Idee einer Maschine, die weit mehr kann, als jene Spielmaschinen, mit denen man damals ein Publikum zu faszinieren vermochte.

In „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist die Geschichte eingebetet in jene der „Halbschwester“ Ling, die an einem andern Irgendwo irgendwann Arbeiterin in einer Produktionsstätte für Sexpuppen ist, alle identisch konzipiert nach dem Vorbild einer Schauspielerin, einer Fanny Lee, die die Hauptdarstellerin eines Film ist, den Ling längst zu ihrem Lebensbegleiter gemacht hat, den sie immer wieder in ihren dämmrigen Feierabenden sieht, nach Tagen, die zwischen Fabrik und Wohnsilo immer gleich aussehen. Lings Arbeit in der Fabrik ist es, die Körper nach dem Guss nach Silikonresten zu untersuchen, bevor sie noch ohne Kopf an einen Haken gehängt werden, um in einer nächsten Halle mit dem Haupt versehen zu werden, einem Modul, das interaktiv auf einen zukünftigen Besitzer regieren soll.

„Ling, das Programm hat gelernt zu lügen.“

Ling ist einsam. Bis sie einen der kopflosen Körper mit nach Hause nimmt, bis sie Jon B., einen der Wachmänner der Sexpuppenfabrik bei sich zuhause einlässt, bis der Wunsch nach Gemeinschaft aus den Treffen in Lings Wohnung Konspiration werden lassen und ein Wagnis daraus entstehen soll.

Martina Clavadetscher verwebt die verschachtelten Erzählstränge aber so, dass ich als Leser nie den Überblick verliere, gewisse Details und Feinheiten aber doch nur bei ganz genauer Lektüre zum Vorschein kommen. So wie etwa das Detail, dass hinter den Namen Godwin und Wollstone die Mutter der Schriftstellerin Mary Shelley, der Schöpferin Frankensteins, Mary Wollstonecraft-Godwin verbirgt. Frankenstein, ein Diener, ein Geschöpf aus der Hand eines Menschen, abgekoppelt von einer natürlichen Ordnung.

„Das Unzähmbare lebt. Es keimt. Und bringt etwas ganz Eigenständiges hervor.“

Martina Clavadetscher gelang mit ihrem Roman „Die Erfindung des Ungehorsams“ Erstaunliches und Verblüffendes! Der Roman bietet genau das, was sich Leser:innen wünschen, die mehr als nur unterhalten werden wollen. „Die Erfindung des Ungehorsams“ ist vielschichtig, vieldeutig und poetisch zugleich!

Mein Fazit: Wenn Mut gewinnt, dann sie!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin, Dramatikerin und Radio-Kolumnistin. Ihr Prosadebüt «Sammler» erschien 2014. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. Mit ihrem Theaterstück «Umständliche Rettung» gewann sie 2016 den Essener Autorenpreis und war im selben Jahr für den Heidelberger Stückemarkt nominiert. Für «Knochenlieder» erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung und wurde 2017 für den Schweizer Buchpreis nominiert.
Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Rezension und Interview zu «Knochenlieder» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbilder © Ingo Höhn