Martina Clavadetscher «Knochenlieder», edition bücherlese

Martina Clavadetschers neues Buch «Knochenlieder» ist ein Buch der Sonderklasse. Ein Buch, das ich nach der letzten Seite sofort noch einmal zu lesen beginne, weil ich mir möglichst wenig entgehen lassen will. Ein Buch wie ein Monolith; geheimnisvoll, auffällig, sich von allem anderen absetzend. Ein Buch, das gelesen werden muss und dem ich von Herzen die ihm gebührende Aufmerksamkeit wünsche.

In einer Zeit in der Zukunft, in der die Welt nur noch im Ausnahmezustand zusammenzuhalten ist, lebt eine kleine Gruppe Menschen in einem Dorf am Hang. Mehr eine Kleinstsiedlung von Aussteigern, vier Wohnhäuser, Familie Blau, Familie Weiss, Rot und Grün. Ein Versuch im Kleinen, sich dem Grossen nicht ergeben zu müssen.

Vier Familien aus einer Zeit, in der sie noch andere Namen trugen, auch auf Papier und Pässen. Aber weil die eine Familie dann auch noch die Fensterläden rot bemalte, wurden aus den Farben Namen. Die alten Namen blieben Relikte aus der Vergangenheit, einer endgültig verlorenen Zeit. Während draussen in Städten, auf dem ganzen Kontinent, die Welt zerfällt, versuchen die vier Familien Gemeinschaft aufrecht zu erhalten und von dem zu leben, was Natur und Arbeit hergeben. Vier Familien mit Grundsätzen, hinter denen aber die Angst und der Wille zum Überleben überwiegen. Alles von aussen, selbst Medizin und Medikamente, bedroht das Zusammenleben, schlägt Keile in die wacklige Gemeinschaft. Bis sich eines Tages doch der Nachwuchs einstellt. Aber die Stachel von Misstrauen und Unterstellung sind längst tief in die kleine Gemeinschaft eingedrungen. Und als die Geburt der kleinen Rosa Grün gefeiert werden soll, eskaliert der schwelende Konflikt. Jakob schlägt zu und die Gemeinschaft zerbricht. Im zweiten Teil macht sich Pippa, die Tochter von Rosa Grün mit dem Amulett ihrer Mutter am Brustbein auf die Suche nach ihrer Mutter. Eine schnelle Fahrt auf dem Motorrad durch eine Welt wie im ersten grossen Science Fiction von Ridley Scott «Blade Runner» .

Kein Roman wie üblichen, kein Theater auf Papier, keine Lyrik und doch traumwandler-, alptraumwandlerisch. Martina Clavadetscher schreibt und dichtet, als hätte sie nie etwas anderes getan. Ihr Buch, das sich auf dem Umschlag Roman nennt, erzählt, singt, spricht, denkt, lockt und zieht mich in einen Sog, von dem ich als passionierter Leser bei jedem Buch mit Erwartung hoffe. Schon auf den ersten Seiten verspricht Martina Clavadetscher viel und schenkt im Verlaufe des Buches noch viel mehr, erst recht auf den letzten Seiten. Sie erzählt von einer nicht fremden Zeit in der Zukunft, die fast alles genommen hat, in der die letzten Reste Freiheit den Menschen leben lassen und Hoffnung fast ausschliesslich gegen innen gerichtet ist. Martina Clavadetschers Roman ist eine Offenbarung. Nicht nur weil er Stellung zur Gegenwart nimmt, sondern weil er sich Wörtern und einer Spache bedient, in der die Poesie keinen Platz zu haben scheint, als späche sie nur noch aus Wörtern und Sätzen. Wie Martina Clavadetscher in einem einzigen Satz ein grosses Bild entstehen lassen kann, wie trotz der Knappheit der Sätze Bilder in Cinemascope erzeugt werden; lange Einstellungen, kaum Bewegung mit maximalem Effekt, ist grosse Kunst. Während des Lesens streiche ich mir Passagen an, die ich später noch einmal lesen will, nicht des Inhalts, sondern der Musik wegen. Ein phantastisches Buch, ein phantastisch gutes Buch, das man nach der letzten Seite noch leicht betäubt in Händen hält, schon geschlossen, den Nachglanz geniessend. «Knochenlieder» ist ein Buch darüber, was bleibt, wenn nichts mehr ist, wie es einmal war. Auch ein Buch über Familie, die Sehnsucht nach einem Ort, wo man hingehört. Dass Martina Clavadetscher Theatermacherin ist, spürt man dem Text an, hört man, versteht man. Sie gibt nur das Nötigste vor, zwingt den Leser, das Geschehen aufzufüllen, zwingt ihn mitzugehen, mitzudenken.

Wer Mut hat, wird belohnt, auch die Jury des Schweizer Buchpreises 2017!

Ein Interview mit Matina Clavadetscher:

Ihr Roman spielt in einer düsteren Zukunft, einer Zukunft, die in der Gegenwart längst begonnen hat. Dystopien scheinen Hochkonjunktur zu haben. Und doch ist die Zukunft in ihrem Roman nicht einfach Kulisse. Wollen sie warnen, aufrütteln oder ist ihr Blick in die Zukunft Programm?
Der Blick in die Zukunft, in die nahe Zukunft, wenn man so will, ist insofern Programm bzw. Absicht, als dass ich damit gewisse gesellschaftliche, politische und technische Tendenzen weitertreiben konnte – ich konnte in eine Extreme schreiben, die beklemmt und aufrüttelt. Trotzdem scheint diese zugespitzte Sicht nachvollziehbar, in gewissen Momenten sogar vorstellbar. Und doch: selbst in einer dystopischen Zukunft bleiben ganz ursprüngliche (archaische) Ängste und Sehnsüchte erhalten – Menschlichkeit überdauert und trotzt den Umständen.

Beim Lesen ihres Romans staune ich ob der Sprache, ihrer Sicherheit und der Fähigkeit, selbst mit Wörtern und Satzfetzen aus der Computerwelt Poesie zu erzeugen. Rührt ihre Selbstverständlichkeit mit Sprache den richtigen Ton zu finden aus dem Theater, dem laut gesprochenen Wort?
Ich wollte mir sprachlich und formal für einmal keine unnötigen Grenzen setzen. Deswegen mäandriert der Roman durch das Lyrische, das Prosaische und – in den szenischen Dialogen – gar durch die Dramatik. Das laut gesprochene Wort war bei der Überarbeitung enorm wichtig – um Klang und Rhythmik zu prüfen, habe ich den Roman etliche Male laut gelesen. Gut möglich, dass ich durch meine Arbeit mit Theatertexten keine Furcht vor der sprachlichen Umsetzung ins unmittelbar Reale habe. 

Die Form ihres Romans ist eine aussergewöhnliche. Wer beim Kauf am Büchertisch die Seiten am Daumen springen lässt, wird merken, dass ihr Roman ein unübliches Gesicht hat. Zugegeben, es macht das Lesen einfacher, hilft, die Geschichte zu strukturieren. Andere Autoren schreiben ohne Punkt und Komma in Blocksatz und scheinen alles verhindern zu wollen, was mir als Leser hilft. Ihr Text lädt ein zum Rezitieren. War diese Form schon zu Beginn des Schreibens klar?
Diese Form schien von Anfang an die einzig richtige zu sein. Ich habe den gesamten Roman in einer ersten Fassung von Hand geschrieben – das Physische der Handschrift hat hierbei sicher seinen Teil dazu beigetragen. Ich erkannte, dass diese Mischform (Lyrik, Prosa, Dramatik) einen ganz eigenen Reiz besitzt: Sie erzeugt Tempo, lässt formale und inhaltliche Spielereien zu, sie ermöglicht Leichtigkeit und zugleich die Betonung des Inhalts durch die Form.
Und nicht zuletzt hat das Schreiben auf diese Weise unfassbaren Spass gemacht.

Während des Lesens waren kurze Momente der «Besinnung» unausweichlich, Gedanken darüber, wo in der Gegenwart die Zeichen «ihrer» Zukunft zu finden sind. Das ist nicht schwer angesichts der Aktualität. Sind sie Optimistin?
Mein Optimismus schwankt wöchentlich. Und obwohl es sein mag, dass «Knochenlieder» ein düsterer Roman geworden ist, sehe ich durchaus auch die wichtigen Lichtblicke darin: die Hoffung, die Liebe, die Sehnsucht nach Freiheit, die unablässig gesucht wird. Grundsätzlich bleibt mein Glaube an das Gute im Menschen – egal wie kitschig das klingen mag – sehr eisern.  

Ihr Roman ist auch ein Buch über Heimat, darüber, wonach sich Menschen sehnen, nach Familie, einem Ort, der Sicherheit schenkt. Wo ist ihre «Heimat»? Ist es das Schreiben?
Schön, dass sie das Thema «Heimat“ dem Roman entzwirbelt haben. Tatsächlich sind gefühlte Orte wie „innen“ und „aussen“ (gefangen und frei – sicher und unsicher) in jedem der Teile ganz wesentlich verankert. (Wobei das vermeindlich „schlechte“ nie wie geglaubt von aussen kommt, sondern stets von innen und aus den eigenen Reihen.) Was meine Heimat betrifft: Im Schreiben fühle ich mich sehr zu Hause. Es beruhigt mich. Meistens. Meine erschriebenen Welten sind mir Urlaubsorte, Spielwiesen und Höllen zugleich.

Liebe Martina Clavadetscher, vielen Dank für die aufschlussreichen Antworten!
Haben sie vielen Dank für die spannenden Fragen!

Martina Clavadetscher, geboren 1979, studierte Germanistik, Linguistik und Philosophie an der Universität Fribourg. Seit 2009 arbeitet sie als Autorin und Dramatikerin sowie als Radiokolumnistin. Ihr Prosadebüt Sammler erschien 2014 im Verlag Martin Wallimann. Für die Spielzeit 2013/2014 war sie Hausautorin am Luzerner Theater. 2016 wurde sie für das Theaterstück Umständliche Rettung mit dem Essener Autorenpreis ausgezeichnet, für das Manuskript Knochenlieder erhielt sie 2016 den Preis der Marianne und Curt Dienemann-Stiftung. Martina Clavadetscher lebt in der Schweiz.

Martina Clavadetschers Webseite

Titelbild: Sandra Kottonau