Alem Grabovac «Das achte Kind», Hanser

Alem Grabovac ergründet in seinem Debüt „Das achte Kind“ die Geheimnisse seiner Familien. Seiner Familien? Alem wächst als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Zwischen zwei Welten, zwei Familien, eine Kindheit und Jugend lang mit dem Mythos eines unglücklich verstorbenen Vaters.

Alem Grabovac erzählt die Geschichte von Alem Grabovac, nennt dessen Geburtsmoment auf die Minute genau am 2. Januar 1974 um 17.13 Uhr. Damit gibt Alem Grabovac seinem Roman jene dokumentarische Note, die die Diskussion um Fiktion oder Realität vorwegnimmt. Vielleicht ist das auch Alem Grabovac Art an seine Lebensgeschichten heranzugehen, weil Alem Grabovac Journalist ist, den Fakten verbunden. Ob dem Roman diese Nähe gut tut, lässt sich schwer beurteilen. Zumindest ist die Sprache seines Romans eine ebenso dokumentarische, weniger eine literarische. Alem Grabovac zeichnet auf. Da ist in nur ganz wenigen Szenen, dann wenn über dem Dokumentarischen die Emotion heller zu leuchten beginnt, jenes Momentum erkennbar, wo die Sprache über die Szenerie hinauswächst. Aber das tut dem Buch keinen Abbruch. Vielleicht hätte man „Das achte Kind“ nicht als Roman deklarieren müssen. Aber eine blosse Reportage ist das Buch dann doch bei weitem nicht.

Alem Grabovac «Das achte Kind», hanserblau, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26796-1

Was diese Geschichte eines Mannes, der in zwei Familien gross und sozialisiert wurde, in einer kroatisch-bosnischen Familie, die gegen Armut und versteinerte Strukturen zu kämpfen hatte und einer urdeutschen, die hinter der Rechtschaffenheit den Alp einer braunen Gesinnung zu verbergen hatte, ausmacht, sind seine Gegensätze, die Kontraste, die Grund genug hätten sein können, ein Leben scheitern zu lassen. Alems Mutter Smilja heiratet einen Säufer und Kleinkriminellen. Und weil sie das Geld der Familie einbringen muss, ganztags arbeitet und ihrem Mann den kleinen Sohn nicht anvertrauen kann, gibt sie den kleinen Alem in die Pflegefamilie Behrens, als achtes und letztes Kind. Zuerst nur an den Wochentagen und als die Situation zwischen Smilja und ihrem Mann, Alems Vater immer und immer länger mehr eskaliert, dann nur noch in den langen Sommerferien, wo Alem gegen seinen Willen die Tage an der Seite seiner Mutter durchstehen muss. Männliche Gewalt, Saufexsesse, Lügen und permanente Angst prägen Alems Leben mit seiner Mutter. Aber auch das Leben in der Pflegefamilie leidet unter einem Alp, denn Robert, der Vater, der meistens in seiner Kammer sitzt und für Motorradmagazine schreibt, ist alles andere als zurückhaltend, wenn es darum geht, seiner Sympathie für braune Gesinnung und Verehrung für die nationalsozialistische Vergangenheit Luft zu machen. Was Alem als Knabe bewundert, Roberts Liebe für Panzer, Robert vernarbtes Loch an dessen Schulter, Roberts «glorreiche» Vergangenheit als Soldat bei der Wehrmacht wird mehr zu einer übel riechenden Schlangengrube, der sich Alem immer weniger entziehen kann.

Und doch ist „Das achte Kind“ nicht einfach eine Milieugeschichte nach dem Muster „Ein Mann will nach oben“. So wie die Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien nach dem Tod Titos auseinanderbricht, der einstige Vielvölkerstaat, den Tito zum Musterstaat erklärte und in den Jahren 1991 bis 1999 in einen wirren Krieg versinkt, so kämpfen Familien und Ehen an den steinernen Strukturen einer männerdominierten Gesellschaft. Und so wie sich die Gesellschaft in den 80ern und 90ern in Deutschland das Mäntelchen der Rechtschaffenheit und des immerwährenden Fortschritts jeden Abend zufrieden einbürstet, so tief verborgen sitzt die Lüge und die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Alem wächst in genau diesen Kräften auf, in Kräften, die die einen zerreissen und den anderen alles abfordern, um nicht unterzugehen.

„Das achte Kind“ ist eine offene und direkte Analyse einer Gegenwart, die allzu leicht verborgen bleibt.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

 

Beitragsbild © Paula Winkler