Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was geschieht», Verbrecher

Der Physiker Lew Mischenko wird während der Stalin-Ära für 14 Jahre in einen  sowjetrussischen Gulag verbannt, ein Straf- und Arbeitslager im kalten Norden Russlands, weg von seiner Frau, weg von seinem Leben. Jahrzehnte später fährt Lew zusammen mit dem Historiker Alexander noch einmal mit dem Zug an den Ort verlorenen Lebens.

In sowjetrussischen Gulags starben über 4 Millionen Menschen an Erschöpfung, Krankheiten, Unterernährung oder den Folgen sadistischer Strafen. Bereits in den 70ern machte Alexander Solschenizyn mit Büchern auf das permanente Massaker in diesen Lagern aufmerksam. Was Stalin als Notwendigkeit in seinem Machtapparat zur Waffe gegen das eigene Volk machte, ist bis heute eine offene Wunde in der gemarterten russischen Seele. Obwohl „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“ und später „Archipel Gulag“ vom Alexander Solschenizyn millionenfach gelesen wurden und der Autor nicht zuletzt für seinen Kampf gegen Unrecht 1970 den Nobelpreis bekam, ist die Tatsache, dass ein ganzes Volk im tödlichen Würgegriff eines totalitären Machtapparats war, fast vergessen. Was in der Gegenwart passiert, müsste deutlich genug sein, dass Staaten, die sich eine einzig richtige Farbe auf ihr Banner schreiben, noch immer alle nach dem gleichen Prinzip funktionieren. Folge davon war nicht zuletzt die faktische Auflösung der Menschenrechtsorganisation Memorial Ende 2021. Das Nicht-Erinnern-Wollen wird zur staatlichen Maxime. Und wenn man sich erinnern will, dann an ein geschöntes, verklärtes Zerrbild der Vergangenheit.
Nicht nur in Russland, auch in vielen anderen Staaten, nimmt man Menschen wegen Nichtigkeiten ihre Freiheit, reagiert man mit aller Härte gegen nicht uniformiertes Tun und Denken.

Lew, Tochter Anastasija (stehend), Swetlana und der Hund Primus. (Bild: Viktor Funk)

Der Schriftsteller Viktor Funk ist Historiker mit sowjetrussischen Wurzeln. In „Wir verstehen nicht, was geschieht“ erzählt der Autor die Geschichte des Physikers Lew Mischenko, den er in Moskau besucht. Lew ist alt und wohnt mit seinem ebenfalls alt gewordenen Hund allein in einer kleinen Wohnung. Seine Frau Swetlana, mit der er fast sein ganzes Leben teilte, wenn auch über ein Jahrzehnt unfreiwillig über tausende von Kilometern voneinander getrennt, musste Lew zu Grabe tragen. Was ihm geblieben ist, sind seine Erinnerungen, Swetlanas Briefe, ein paar zerfledderte Bücher aus seiner Zeit im Lager – und der Hund. Im Roman heisst der Historiker Alexander. Wohl darum, um dem Erzählen jene Distanz geben zu können, um sich nicht in Emotionen zu verlieren. 

Viktor Funk «Wir verstehen nicht, was passiert», Verbrecher, 2022, 156 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-95732-536-5

Alexander will jene Menschen interviewen, die den Gulag überlebten. Was gab jenen Menschen, die über Jahre und Jahrzehnte in diesen Lagern aller Menschenwürde beraubt wurden, Hoffnung? Was gab ihnen Kraft, den inneren Kampf aufzunehmen? Wie konnte eine Liebe wie jene zwischen Lew im Lager und seiner Frau Swetlana in Moskau die Zeit der ungewissen Trennung überstehen? Wie kann ein Leben danach funktionieren? Lew empfängt den Historiker in seiner Wohnung, beginnt zu erzählen, etwas, das vielen mit einer Gulag-Vergangenheit auch nach Jahrzehnten schwer fällt.

Doch während der Tage in Moskau bittet Lew den jungen Historiker, ihn nach Petschora zu begleiten, eine Reise zu unternehmen an jenen Ort, der ihm ein grosses Stück seines Lebens nahm, auf eine Reise zurück in die Vergangenheit. Gleichsam überrumpelt wie neugierig geworden treten die beiden die lange Reise in den Norden mit dem Zug an, eine Reise weit weg und ganz nah, eine Reise durch die Gegenwart in die Vergangenheit, eine Reise an einen Ort, von dem Lew gar nie richtig weggekommen ist, eine Reise an einen Ort, an dem viele einen langsamen Tod erleiden mussten und der Physiker Lew nur deshalb überlebte, weil seine Fähigkeiten gefragt waren und Freundschaften hinter den Stacheldrähten ihn am Leben hielten.

„Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist der Reisebericht eines Historikers in eine eisig kalte Vergangenheit. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Liebesgeschichte zwischen Swetlana und Lew, die allem trotzte. Und „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist die Geschichte einer zarten Freundschaft zwischen einem jungen suchenden Historiker und einem alten Physiker, der in seinem Leben gefunden hat, wonach andere ewig suchen. „Wir verstehen nicht, was geschieht“ ist unsäglich zärtlich geschrieben und von erschütternder Aktualität. Da versucht jemand zu verstehen, was geschieht, im Kleinen und im Grossen.

Das ehemalige Lagergefängnis des Petschor-Lager (Bild: Viktor Funk).

Viktor Funk, geboren 1978 in der Sowjetunion (Kasachstan), kam als Elfjähriger 1990 nach Deutschland. Er ging in Wolfsburg zur Schule, studierte später in Hannover Geschichte, Politik und Soziologie. Seine Magisterarbeit in Geschichte beschäftigte sich mit dem Vergleich mündlicher und schriftlicher Erinnerungen von Gulag-Überlebenden. Viktor Funk arbeitet als Politikredakteur mit dem Schwerpunkt Russland bei der Frankfurter Rundschau. Sein erster Roman «Mein Leben in Deutschland begann mit einem Stück Bienenstich» erschien 2017. Er lebt in Frankfurt am Main.

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Illustration © leafrei.com

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8 – «Literatur am Tisch»!

Ich mag eigenartige Bücher. Der zweite Roman nach „Leo war mein erster“ reizte meine Neugier fast bis zur letzten Seite aus. Was will mir ein Roman sagen mit einem Lenz in roten Jeans, Black und Red, zwei aufreizend gekleideten Begleiterinnen und einem orangen Lamborghini mit angehängtem Wohnwagen? Regula Wenger verpackt die Frage nach dem Sinn in einen schrägen Roadtrip.

Lenz ist 45 Jahre alt. Die Betonung liegt auf den drei betonschweren Buchstaben ALT. Von Frühlingsdüften keine Spur mehr. Lenz Leben ist in der Tristesse parkiert, auf einem sperrigen Gamersessel und reichlich Bier in Griffnähe. Selbst seine Kinder und seine Frau schaffen es nicht, das parkierte Leben wieder in Fahrt zu bringen, dieses im Schlick festgefahrene Auslaufmodell. Lenz hat das Aufschieben längst zu seinem Programm erklärt, seine Träume beerdigt, nicht aber seine Frau und seine Freunde. 

Es ist, als ob der Zwist mit seinem Freund Finn, der die beiden vor einem Jahr im Streit auseinanderbrachte, etwas in Lenz blockiert hätte, was kein Rütteln und Schütteln mehr in Fahrt brachte. Finn und er waren beste Freunde. Bis Finn sein halbes Bier im Streit stehen lassen musste, weil Lenz ihn aus seinem Haus jagte. Lenz ist mit leckem Tank parkiert. Nicht nur seine Frau, auch seine Freunde wissen, dass Lenz nur mit List aus seiner Lethargie zu katapultieren ist. Deshalb legen sie alle zusammen und schenken ihm einen Tripp mit jenem Auto, das als Modell auf seinem Regal steht, zusammen mit zwei Frauen, die aus Teufels Küche entsprungen scheinen: Black und Red.

Regula Wenger «Lamborghini Görlz», edition 8, 2022, 240 Seiten, CHF 25.00, ISBN 978-3-85990-464-4

Auch wenn der Tripp nicht jener ist, den sich Lenz zu Beginn erhofft, denn die beiden Frauen lassen ihn aus versicherungstechnischen Gründen nicht ans Steuer und setzen ihn, weil ihm die Beine auf dem schmalen Rücksitz (auch der Lamborghini ist nicht genau der, der auf dem Regal unter Staub begraben liegt) einschlafen, in den engen kleinen Wohnwagen, der doch eigentlich nichts am Heck eines Sportwagens verloren hat. Auch die beiden Frauen halten sich in dieser Woche streng an einen Fahrplan, zaubern einen Gutschein nach dem andern aus ihren engen Ausschnitten und konfrontieren Lenz mit einer ganzen Reihe von skurrilen Situationen, als wäre Don Quichotte für einmal nicht mit einem lahmen Gaul unterwegs.

Regula Wengers wilde Geschichte erinnert an Fellini, David Linch und ein wenig Heinz Rühmann. Auch ihr zweiter Roman hat in der Schweizer Literaturszene kaum Verwandte. Als ob Regula Wenger einen Ton treffen würde, Bilder evozieren kann, die an Leichtigkeit, Heiterkeit, subtilem Humor ihres- und seinesgleichen suchen. Zugegeben; der Roman verunsichert, nicht nur inhaltlich, weil er sich wie ein Rätsel liest, sondern auch in seiner Konstruktion. Denn es braucht die sieben Tage Schöpfung, um dem „armen“ Lenz zu zeigen, wie er zurück ins Paradies findet. „Lamborghini Görlz“ ist eine köstliche Parabel mit viel Witz und einem übervollen Mass an Schrägem. So viel, dass der sperrige Wohnwagen den schnittigen Lamborghini manchmal zu überholen droht. „Lamborghini Görlz“ ist der quicklebendige Beweis dafür, dass sich Literatur nicht zwangsweise in Selbstzerfleischung und raumgreifender Ernsthaftigkeit suhlen muss.

Vielleicht ist „Lamborghini Görlz“ auch ein modernes Märchen, von einem Mann, den man wie Hans im Glück auf eine lange Reise schicken muss.

Regula Wenger wuchs im Laufental im Kanton Baselland auf (früher Bern). Heute lebt sie mit ihrer Familie in Basel. Sie arbeitet als freie Journalistin, Autorin und Texterin, veröffentlichte Kolumnen und Kurzgeschichten. Ihr Romandebüt «Leo war mein erster» ist im Waldgut Verlag, der 2021 seine Geschäftstätigkeit eingestellt hat, in vier Auflagen erschienen. Neu ist es bei edition 8 erhältlich.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Roland Schmid

Literaturhaus Thurgau Gottlieben: Sonntag, 4. Dezember 2022, 11 Uhr: Ein AutorInnen-Kollektiv stellt junge Texte zur Diskussion.

Schreiben ist das eine. Wenn Texte einem Publikum „ausgesetzt“ werden, beginnen sich diese zu verselbstständigen. 10 AutorInnen aus der Schweiz sind Dieter Boller, Gianna Olinda Cadonau, Marc Gallus, Corina Heinzmann, Rebecca Holzer, Agnes Weber, Alessandro Weiler, Stefan Wenger-Ledermann, Pascal Witschi und Katharina Wüthrich lesen aus ihren Texten und diskutieren über ihr Schreiben.

Moderation Gallus Frei

Wer sich mit Textproben aus dem Schaffen einiger AutorInnen auseinandersetzen möchte, hier eine Auswahl an Textanfängen, die auf der «Plattform Gegenzauber» in ganzer Länge gelesen werden können.

Hier kann man sich im Literaturhaus anmelden.

Dieter Boller «Akzentfrei
»:

Schön schwer ist sie, dachte Emmelius. Das um Aronja gelegte Tuch leuchtete. So hell, dass er sich Sorgen machte. Der Weg vom Pfarrhaus auf die Anhöhe war zum Glück nicht weit.
Er hatte sich gut überlegt, wo er sie betten wollte. Das nördliche Feld war erst zur Hälfte belegt. Allesamt Diesjährige. Der Bereich eignete sich nicht. Noch waren die Tränen der Angehörigen nicht getrocknet. Kamen die Trauernden wöchentlich, wenn nicht sogar täglich vorbei. Beäugten minutenlang den Stein, die Blumen, die Kerzen. Jede noch so kleine Veränderung hätten sie sofort bemerkt.
Die vergessenen Seelen lagen im Westsektor. Auf den Schiefersteinplatten, die zu den Gräbern führten, war Moos gewachsen. Ihre Körper waren nicht mehr. Dem Erdboden gleich. Zersetzt. Vom sauren, sandigen Obwaldner Boden… (weiterlesen)

Corina Heizmann «Schaukelstuhl»:

Letzten Sommer wollte ich meinen Schaukelstuhl anmalen, Zitronengelb. Stundenlang bin ich durch den Heimwerkerladen gelaufen auf der Suche nach dem richtigen Farbton. Ein helles, frisches Gelb, einen Hauch vor der Grenze zum Grünstich, hell aber nicht grell. Ein sommerliches Statement Piece für meinen Balkon, auf dem ich kluge Bücher über Kapitalismus lesen und frische Ingwerlimonade trinken würde, deren Rezept ich auf dem Pinterest-Profil einer übermotivierten Agglo-Mutter gefunden hatte.
Es ist nun zum zweiten Mal wieder August und der Schaukelstuhl steht immer noch in der Ecke meines Lagerzimmers. Das dritte Zimmer meiner Wohnung, in das ich alles hineinstelle, von dem ich nicht weiss, wohin damit.
Manchmal leg ich mich dazu und schau, wie die Staubpartikel in den Sonnenstrahlen fliegen… (weiterlesen)

Agnes Weber «Der längste Gang»:

Heute Abend ist es so weit. Mary und ich sind bei Rita zum Essen eingeladen. Sie hat den Termin aus unklaren Gründen mehrere Male verschoben. Rita wohnt abgelegen in einem kleinen Dorf, in einem der wenigen Mehrfamilienhäuser neben den Bauernhöfen. Draussen ist es kalt, die Welt erstarrt im Schnee. Mary steuert das Auto vorsichtig. Ich wische die beschlagenen Vorderscheiben mit einem Lappen.

Rita empfängt uns herzlich und führt uns in die geräumige, warme Stube. Nach der Vorspeise verzieht sie sich, um den Hauptgang fertig zu kochen. Ein Mann tritt in die Wohnung, grüsst flüchtig, geht in die Küche. Ich weiss nicht, wer er ist; vielleicht Ritas Freund. Die Vorbereitung des Hauptgangs scheint viel Zeit zu brauchen. Es dauert und dauert. Mary und ich nehmen es kaum wahr, wir sind ganz in unser Gespräch vertieft. Plötzlich schrecken wir auf… (weiterlesen)

Stefan Wenger-Ledermann «was engt mich ein – was macht mich weit»:

I Erde / Schöpfung
was engt mich ein
was macht mich weit
ein stiller See
einsamer Grat
auch bei Regen
kleiner Frosch
Weinbergschnecke
Moos und Gras
der Duft
von Leben

II Innenraum
es engt mich ein
ein dunkler Traum
ein enger Raum
manch Schuldgefühl
und innerlich Gewühl
mal Kindsgeschrei
und ausgeleerter Brei
dann tiefe Trauer
Herzensmauer… (weiterlesen)

Pascal Witschi «wie das ewige Meer»:

«Nach mir wird ein Nächster kommen, der dich lieben wird wie seinen Sohn, und er wird von Neuem Licht entzünden, von Neuem Gottes Wort verkünden», schmatzte der Vater mit Pomadelippen vorne auf dem Podium des Saales. Das Echo klatschte durch das Kirchenschiff, verklebte beide Ohren Adams, der den Vater von unten in den Schatten stellte. Ihm in den verloschenen Greisenaugen leuchtete, den Geruch verbrannter Erde in der Nase und erleuchtet durch vier kolossale Kirchenfenster, vier farbgewaltige Bleiglasheilige, deren komplexes Spiel von Farben auf dem fremdländischen Teint kurzerhand verloren ging.
«Ich brauch kein austauschbares Wort von einem austauschbaren Gott aus dem Munde eines austauschbaren Vaters! Ich brauch allein mich selber!», bellte er, im Rücken das Foyer, zu dem die Tür noch offen stand. Es zog… (weiterlesen)

Kurzbiographien der lesenden Autorinnen und Autoren

Dieter Boller, geboren 1980 in Zürich, studierte Publizistik und Psychologie an der Universität Zürich. Nach seinem Master arbeitete er zwölf Jahre als Werbetexter in verschiedenen Schweizer Agenturen. 2019 hat er sich als freier Texter, Konzepter und Autor selbständig gemacht. Wenn er gerade keine Werbetexte textet, textet er Werbetexte wie diesen hier. Und schreibt Kurzgeschichten. Dieter Boller lebt mit seiner Frau und seinen zwei Söhnen in Zürich.

Gianna Olinda Cadonau schreibt Gedichte und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Bisher erschienen zwei Gedichtbände beim Verlag editionmevinapuorger, Zürich, „Ultim’ura da la not / Letzte Stunde der Nacht“ (2016) und „pajais in uondas / wiegendes Land“ (2020). Ersterer wurde mit dem Förderpreis Terra Nova der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Ausserdem leitet sie die Kulturabteilung der Lia Rumantscha. Die Lyrikerin lebt mit ihrem Mann und dem gemeinsamen Sohn in Chur. 2022 Studer/Ganz-Preis für das beste unveröffentlichte deutschsprachige Prosadebüt «Feuerlilie».

Marc Philippe Gallus, geboren 1958 in Bettlach (SO) ist stolzer Vater einer erwachsenen Tochter. Beruflich widmete er sich bis zum 30. Lebensjahr der Haute Cuisine. Diverse Weiterbildungen führten ihn zu seiner zweiten Karriere. Über zwanzig Jahre führte er sein Unternehmen im Bildungsbereich. Mit sechzig Jahren zog er sich aus dem Arbeitsleben zurück. Die frei gewordene Zeit widmet er dem kreativen Schreiben. Zurzeit nimmt er am Diplomlehrgang ‹Literarisches Schreiben› an der SAL Zürich teil. Seine Texte entstehen zuhause, im Zürcher Oberland, mit Blick auf die Berge und den Pfäffikersee, wo er zusammen mit seiner Partnerin lebt.

Corina Heinzmann, 1990 in Zürich geboren, arbeitet als Journalistin und schreibt beruflich fürs Hören. Während der Arbeit steht sie am Mikrofon, privat läuft sie hunderte Kilometer mit dem Rucksack durch Europa. Sie verlässt das Haus nie ohne Notizbuch und schreibt am liebsten Kurzgeschichten. Corina Heinzmann lebt in Zürich, liebt Hunde und hasst Deadlines. Sie ist fasziniert von menschlichen Abgründen und liest bei einem neuen Buch zuerst den letzten Satz.

Aufgewachsen ist Rebecca Holzer im östlichen Berner Oberland. Der räumlichen Einschränkung der dortigen Gestirne zum Trotz hat sie Wirtschaft und Politikwissenschaft in Luzern und Fribourg studiert. Nach einigen Jahren Reisen, Praktika im In- und Ausland und einem Einsatz mit der Schweizer Armee im Kosovo ist sie in ihre Heimat zurückgekehrt. Heute lebt sie dort mit Partner und Kind. Sie führt unter anderem während der politischen Sessionen und Kommissionssitzungen in Bundesbern Protokoll und verfasst Reden für Politiker:innen.

Agnes Weber, geboren 1951 in Aarau, las und schrieb als Jugendliche viel. Nach ihrer Erstausbildung arbeitete sie als Sekundarlehrerin. Lebte insgesamt sieben Jahre im Ausland. Engagiert(e) sich politisch für eine bessere Welt. Studierte Bildungswissenschaften. Leitete in der eigenen Firma Projekte im Bildungsbereich. Publizierte ein Fachbuch. Ist heute noch in der Hochschuldidaktik tätig im In- und Ausland. «Das Fest» ist ein Auszug aus ihrem ersten literarischen Werk. Sie lebt mit ihrem Partner in Zürich.

Alessandro Weiler ist 1993 in Zürich geboren. Er wuchs mit Fantasy-Büchern, Games, Anime und Mangas auf. Seither zeigt er ein Interesse an missverstandenen Charakteren, die weder klar gut noch böse sind. Mit zunehmendem Alter faszinierten ihn die Fantasy-Geschichten, die viel Reales in sich trugen – mit Themen wie Gewalt, tiefen Bindungen, Liebe und Sex. Das führte zur Kreation seines eigenen Charakters und um diesen herum entsteht eine scheinbar unendliche Geschichte.

Stefan Wenger-Ledermann *1985. Als Jugendlicher hat er die Lust und Leidenschaft des Tagebuchschreibens entdeckt. Mit den Jahren kamen lyrische Texte, Gebete und Kurzgeschichten hinzu. 2021 gab er sich einen Ruck und damit seiner grossen Leidenschaft Raum: er besuchte den Lehrgang «Literarisches Schreiben» an der SAL in Zürich. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter, die er an zwei Wochentagen betreut. 2013-2021 Tätigkeit als Gemeindepfarrer (ref.). Ab 2023 tätig als Klinikseelsorger sowie Weiterbildung in Seelsorge.

Pascal Witschi ist ein Schweizer Autor. Der Berner mit Jahrgang 1989 schreibt seit seiner Jugend Prosa wie auch Lyrik und studierte an der Schule für Angewandte Linguistik in Zürich Literarisches Schreiben, ehe er sich der Natur- und Wildnispädagogik zuwandte. Er veröffentlichte zwei illustrierte Gedichtzyklen, namentlich «Gode Graubund» (2019) sowie «Das Märchen von Anao und Aloe» (2020), und arbeitet gegenwärtig an seinem Erstlingsroman.

Katharina Wüthrich schreibt seit vielen Jahren in kurzen Formaten als Teil ihrer spartenübergreifenden künstlerischen Arbeit. Ursprünglich vom Tanz und der Performance herkommend gestaltet sie Bilder, Objekte, Installationen, die sie mit ihren Texten erweitert. Sie ist Mitglied verschiedener Schreibgruppen und hat sich durch die Teilnahme am Lehrgang ‘Literarisches Schreiben’ an der SAL 2021 einen neuen Schwerpunkt in der Textarbeit gesetzt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bern und unterrichtet in der Begabtenförderung.

Wer gewinnt den Schweizer Buchpreis 2022? #SchweizerBuchpreis 22/10

Am Sonntag, den 20. November, kurz vor Mittag, ist es soweit; die Preisträgerin oder Preisträger des Schweizer Buchpreises 2022 wird im Theater Basel bekanntgegeben. Kameras, Blitzlichter, Blumensträusse, Enttäuschung da, Freude dort.

Ich gebe Alex Capus recht, Schreiben ist keine Olympische Disziplin. Schreiben ist Kunst. Und Kunst lässt sich höchstens mit Verkaufszahlen vergleichen, was aber nichts mit der Kunst selber zu tun hat, höchstens mit der Fähigkeit anderer oder jener, sich dementsprechend zu verkaufen. Ich gebe Alex Capus auch recht, dass AutorInnen nicht zu Zirkuspferden degradiert werden dürfen und sollen, die vorgeführt werden; ein Leitpferd mit hübschem Kopfschmuck und vier Begleitpferden, die das eine einrahmen. Dass es bei der Preisverleihung einen solchen Moment gibt, der nie ohne eine kleiner oder grösser werdende Peinlichkeit auskommt, streite ich auch gar nicht ab.

Aber bei einem Buchpreis wird auch nicht das wirklich beste Buch des Jahres ausgezeichnet. Wie sollte ein solches auch bestimmt werden. Schon die Frage, ob es ein solches überhaupt gibt, kann zumindest ich mit einem unmissverständlichen Nein beantworten. Das beste Buch? Da liest eine fünfköpfige Jury das, was von den Verlagen eingesandt wird. Sie lesen und geben dem einen Buch mehr Gewicht als den anderen, bis fünf Bücher nach einer Ausscheidung zurückbleiben. Aus der Politik wissen wir, dass am Schluss eines Prozesses der Kompromiss, der grösstmögliche gemeinsame Nenner präsentiert wird. Das ist auch hier so, auch wenn sich die diesjährige Jury sehr mutig gezeigt hat und alles andere als eine „Einheitssuppe“ präsentierte.

Thomas Hürlimann, Kim de l’Horizon, Lioba Happel, Simon Froehling und Thomas Röthlisberger


Das beste Buch des Jahres? Es ist wohl eher so, dass sich eine Jury auf ein Buch einigen konnte, auf das man einen extragrossen Scheinwerfer richten will. Der Schweizer Buchpreis ist vom Schweizerischen BuchhändlerInnenverein organisiert und mitfinanziert. Verkaufstechnische Überlegungen stehen im Vordergrund. Der Buchpreis ist eine PR-Aktion. Wie viel Bedeutung man diesem Preis zugestehen will, sei jedem selbst überlassen.

Viele Künstler, SchriftstellerInnen leben nicht allein vom Verkauf ihrer Kunst, ihrer Bücher. In der Schweiz mag es ein Dutzend AutorInnen geben, die das schaffen. Es braucht Lesungen, Stipendien, Förderbeiträge – und Preise. Preise generieren Aufmerksamkeit. Zu hoffen ist, dass alle Nominierten von solcher Aufmerksamkeit profitieren, auch Kim de l’Horizon, der in den letzten Monaten peinlich viel Unsinn über sich ergehen lassen musste.

Ich glaube, dass sich die Bücher von Thomas Hürlimann und Kim de l’Horizon in der Pole-Position die Nase vorn haben. Die Jury wird in jedem Fall mit der Bekanntgabe des Schweizer Buchpreises ein Statement abgeben. Sei es ein Statement für Tradition oder eines für Aufbruch. Grosse Preise, auch wenn der Schweizer Buchpreis im Ausland nur mässig wahrgenommen wird, sind immer Statement. Selbst die Vergabe des diesjährigen Nobelpreises für Literatur an die französische Altmeisterin Annie Ernaux kann als Statement verstanden werden. Mit «Das Ereignis» schrieb sie einen Roman über (oder gegen) staatlich kriminalisierte Abtreibung. Über die infernalische Einsamkeit einer jungen Frau im Kampf für ihr Recht auf Selbstbestimmung. Wenn man sieht, was in den USA oder auch in europäischen Ländern geschieht, ist diese Wahl mit Sicherheit auch ein Stück weit Signal.

Mein Siegerbuch ist «Blutbuch» von Kim de l’Horizon. Sollte Kim de l’Horizon am Schluss der Preisvergabe nicht im Blitzlichtregen auf der Bühne stehen wird, ist Kim de l’Horizons Buch mein Buch.
Weil es sich traut, weil es mutig ist.
Weil es dermassen vielschichtig, verflochten und klug ist.
Weil es mich ohne Arroganz zu lehren weiss.
Weil es mich überrascht und aus den Socken haut.
Weil Kim de l’Horizon sprachlich derart viele Register ziehen kann.
Weil die Diskussionen über dieses Buch und aus diesem Buch nicht enden werden.
Weil mich die Tatsache, dass «Blutbuch» ein Debütroman ist, verblüfft.

Und die anderen vier Bücher? Mein Kompliment an die Jury, denn die Shortlist des Schweizer Buchpreises hat es in sich. Fünf literarische Würfe, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Fünf Bücher, deren Lektüre sich lohnt, die es mir aber, weil sie mehr als blosse Unterhaltung sein wollen, nicht immer leicht machten.

«Blutbuch» von Kim de l’Horizon
«Der Rote Diamant» von Thomas Hürlimann
«Steine zählen» von Thomas Röthlisberger
«Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel 
«Dürrst» von Simon Froehling

Gallus Frei

Illustrationen © leafrei.com

Hanna Sukare «Rechermacher», Otto Müller Verlag

„Rechermacher“ ist ein Roman über vier Generationen, ein ganzes Jahrhundert. Über eine Familie, die es im Krieg zerriss, die bis in die Gegenwart unter dem Schatten einer Vergangenheit im Dunkeln leidet. Hanna Sukare versteht sich nicht als Chronistin, aber mit Sicherheit als Archäologin der Zeit. „Rechenmacher“ ist der Versuch, mit Poesie nach Versöhnung zu suchen.

Was wissen Sie von Ihren Grosseltern? Oder Ihren Urgrosseltern? Wissen Sie mehr als Name und Beruf? Letzthin war ich bei einem Freund, der mir bei meinem Besuch in seinem „Familienhaus“ anhand von Bildern und Gegenständen von seiner Familie bis zurück ins 16. Jahrhundert erzählte. Bestimmt verbergen sich auch hinter den Geschichten seiner langen Ahnenreihe Geheimnisse. Aber wie kein anderes Ereignis zerreisst ein Krieg die glatten Oberflächen der Zeit. So wie sich in den Generationen nach dem 2. Weltkrieg das Schweigen über Familien legte, weil man sich von all dem Schrecken, dem grossen Irrtum lossagen wollte. „Schwamm drüber.“

Maia besucht ihre Mutter. Aber ihre Mutter ist nicht zuhause. Nicht einmal eine Nachricht, ein Zeichen ist zu finden. Nur ein paar Kleider und der Laptop der Mutter fehlen. Nach ersten Sorgen erreicht sie ein Brief ihrer Mutter. Sie habe sich auf eine Reise begeben und wisse nicht, wann sie zurückkommen werde. Sie brauche sich keine Sorgen zu machen. Nelli, ihre Mutter, hat sich auf eine Reise begeben, eine doppelte Reise. Eine Reise in die Vergangenheit, eine Reise an Orte, die ihr etwas zurückgeben sollen von dem, was noch vor ihr verborgen ist, wovon sie spürt, dass es ein Teil ihrer selbst ist, all die Leerstellen, all die Geheimnisse.

„Die Wahrheit ist eine Zumutung.“

Hanna Sukare «Rechenmacher», Otto Müller Verlag, 2022, 212 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-7013-1296-2

Auch Maia macht sich auf die Suche, findet in der Wohnung ihrer Mutter Hinweise darüber, welche Richtung die Mutter bei ihrer Suche nach sich selbst eingeschlagen haben musste. Die Suche nach der Familie Rechermacher, ihrem Vater und ihrem Grossvater, nach Vevi, Nellis Mutter, die ins Wasser ging.
Hanna Sukare schrieb eine Familiengeschichte, aber das nur nebenher. Hanna Sukare schreibt über die Wunden und die Sehnsucht, diese Wunden zu schliessen. Sie schreibt über die Suche all jener Leerstellen und schwarzen Löcher, die bis in die Gegenwart ins Leben nachfolgender Generationen hineinwirken und sie nie so gedeihen und wachsen lassen, wie es ihnen möglich wäre, wären diese Mühlsteine nicht.

Es ist die Geschichte von August Rechermacher, einem ungeliebten Sohn, aufgewachsen während des Säbelrasselns des 1. Weltkriegs. Von einem, der zum blossen Dienen gehalten und erzogen, in der Schule zum dummen August wird. Der in Pferden die einzigen Geschöpfe findet, die etwas zurückgeben, die auf seine Zuwendung, seine Liebe reagieren. Sein Händchen für Pferde bleibt niemandem verborgen. Bei Verwandten wird er Knecht und irgendwann Dragoner mit bunter Uniform und klaren Aufgaben, für die er Anerkennung bekommt, endlich zu einem wird, vor dem er sich selbst nicht mehr zu schämen braucht. August ist angekommen. Er liebt seine Tiere, seine Aufgabe und lernt gar eine junge Frau kennen. Aber in den Vorbereitungen der neuen Machthaber, mit dem Wechsel von den Dragonern zur Wehrmacht, dem bunten Tuch zum grauen Einerlei muss sich August entscheiden. Entweder heiratet er die schwangere Genoveva, Vevi, oder er zieht für seine neuen Herren in den Krieg. August entscheidet sich gegen die Familie, auch gegen das Kind, das seinen Vater nie wirklich kennen lernt.

Was aus August in den Wirren des Krieges wurde, was der Krieg aus dem willigen Diener machte, erzählt „Rechermacher“. Von den nie vernarbten Wunden bis in die Gegenwart. Von der bleiernen Schleppe des Schweigens. „Rechermacher“ ist weder Rache noch Wiedergutmachung. Dieser Roman ist das, was Hanna Sukare mit all ihren Romanen tut: Sie rüttelt wach. Sie mahnt uns, die Geschichte ernst zu nehmen. Sie mahnt uns, unsere Kinder zu denkenden Wesen zu formen, etwas, was im Wort „Er-ziehung“ fehlt.

Hanna Sukare liest aus «Rechenmacher» am Mittwoch, den 11. Januar 2023 im Literarischen Club, Hottingersaal, Gemeindestrasse 54, 8032 Zürich

Hanna Sukare, geboren 1957 in Freiburg im Breisgau. Seit ihrer Jugend übt sie meistens in Wien. 2016 wurde der Roman «Staubzunge» mit dem Rauriser Literaturpreis für das beste Debüt in deutscher Sprache ausgezeichnet. Ihr 2018 veröffentlichter Roman «Schwedenreiter» wurde für den Literaturpreis der Europäischen Union 2019 nominiert. Das Buch behandelt Ereignisse zur Zeit des Nationalsozialismus in Goldegg im Pongau.

Beitragsbild © Milan Böhm

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis

Es brauchte viel, bis sich Hanne von ihrem dominanten Vater emanzipieren konnte. Es brauchte das Sterben, den Tod, die unendliche Verletzbarkeit während des letzten Stücks einer unheilbaren Krankheit. „Gesund genug“ von Ursula Fricker ist Literatur gewordener Freiheitskampf.

Ursula Fricker schreibt die Abnabelungsgeschichte einer Frau aus dem Dunstkreis eines dominanten und unberechenbaren Vaters in der ersten Person, als wär es ihre eigene Geschichte. Aber Literatur will nicht abbilden. Literatur will erschaffen. Ursula Fricker erzählt aus der Ich-Perspektive, weil nur aus dieser die Enge, der Kampf, der Schmerz dem entsprechen kann, was eine solche Beziehung ausmacht. Ein Vater, der der ganzen Familie ein unumstössliches Diktat überstülpt, seine Ansichten zum obersten Gesetz erklärt, nicht verhandelbar. Ein Vater, der sein Tun, sein Denken zum einzig Richtigen erklärt, die Welt in ein grosses Böses, Schlechtes und in ein tapferes Gutes, das all dem Bösen trotzen muss, einteilt. Ein Vater, der seine Familie zu seinem Instrument erklärt. Was als Diktatur im Grossen absolut vernichtend wirkt, wirkt auch im Kleinen, bis in die Familie.

Hannes Mutter meint, er wäre früher ganz anders gewesen. Damals, als sie sich kennenlernten. Und als Hanne von ihrer Mutter zurück ins Haus ihrer Kindheit gerufen wird, wo der Vater krank im Sterben liegt, findet Hanne beim Räumen eine Mappe mit Zeichnungen ihres Vater, von denen sie gar nicht wusste, das sie existieren. Jetzt, wo ihr Vater ausgezehrt und mit kaum noch lichten Augenblicken in seinem Zuhause liegt, kann sie nicht mehr fragen. Wo sie doch so gerne fragen möchte. Nicht nur, warum alles so geschehen musste, wie es geschah, warum ihr Vater all den Schmerz, all die Verletzungen provozierte, auch warum jenes Leben, das in der Vergangenheit einst aufblitzte, endgültig ins Vergessen abtauchte.

„Ich kannte niemanden, wirklich niemanden, der so sehr immer recht haben wollte wie Vater. Und nun. Beispielloses Scheitern.“

Ursula Fricker «Gesund genug», Atlantis, 2022, 240 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-7152-5012-0

Hannes Vater leidet im Endstadium einer Darmkrebserkrankung. Ausgerechnet er, der fast ein ganzes Leben lang zum unnachgiebigen Prediger wurde für ein Leben, dass Ernährung und gesunden Lebenswandel nicht nur zur obersten Maxime erklärt, sondern alles und jeden verdammt, der sich nicht seinen absoluten Ideen und Ansichten anschliesst. Das Leben dieser Familie wurde zu einem Inselleben, weil niemand, letztlich nicht einmal seine beiden Kinder, den Vorgaben und Gesetzen des Vaters genügen konnten. Verwandtschaften und Freundschaften, selbst Nachbarschaften wurden schwierig bis unmöglich. Hanne und ihr Bruder Michael konnten ausbrechen. Die Mutter blieb.

Hanne, die schon mit 17 nach London in einen jüdisch orthodoxen Haushalt als Familienhilfe kommt, von dort in den Dunstkreis einer Sekte, die auf das Kommen eines erlösenden Raumschiffes wartet, versucht sich mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln aus den Fesseln ihrer Vaters zu befreien. Aber so stark die Fesseln, so heftig die Abgründe, in die sie zu fallen droht. Sie will Schneiderin werden. Ihr eigenes Leben schneidern. Sie zieht nach London, schliesst sich einer Theatergruppe an, will ihr eigenes Leben bespielen. Lernt Männer kennen, Männer, die nicht dem Bild des Vaters entsprechen, Beziehungen, die aber immer wieder scheitern.

„Gesund genug“ ist das Psychogramm einer Familie, in der letztlich alle am Diktat des einen zu scheitern drohen. Ursula Frickers Roman kulminiert am Sterbebett dieses Vaters, in ganz zarten Momenten, wenn Hanne ihrem Vater aus den letzten Aufzeichnungen des Südpolforschers Robert Falcon Scott, der im Eis an Unterernährung, Krankheit und Unterkühlung starb, vorliest. Er scheiterte. Hannes Vater scheiterte. 

Ursulas Frickers Buch ist aktueller denn je in einer Zeit, in der Radikalisierung in jeder Form immer beängstigendere Formen annimmt. Ich denke an Familien mit rechtsradikaler Gesinnung, die ihre Kinder Adolf nennen, an sportfanatische Familien, die ihre Kinder in den Spitzensport pushen u. v. m. „Gesund genug“ ist ein Roman über das verletzliche und filigrane Gefüge einer Familie. Über Verantwortung und die Sehnsucht nach liebender Geborgenheit.

Interview

Zugegeben; Die Erzählperspektive könnte suggerieren, dass es einfach das Nacherzählen eines Befreiungskampfes sein könnte. Die Ich-Perspektive bringt Unmittelbarkeit. Aber, zumindest aus meiner Sicht, ist ihr Roman viel mehr als eine Emanzipierungsgeschichte. „Gesund genug“ ist ein Familienroman. Ein Roman ebenso über die Abgründe und Verletzungen, wie über die tiefen Sehnsüchte nach Liebe, Geborgenheit und Anerkennung. Kein Beziehungsfeld repräsentiert diese Sehnsüchte so sehr wie die Familie. Und in keinen Beziehungsfeld können Verletzungen so irreparabel sein, wie jene in der Familie. Generationen von Psychotherapien leben davon. Eigentlich erstaunlich, dass „Familie“ ebenso idealisiert wie verklärt wird – oder?

Ich sehe Hannes „Gehen“ gar nicht so sehr als Befreiungskampf im eigentlichen Sinn, sondern eher als der Beginn einer Entwicklung auf vielen Ebenen. Lassen Sie mich hier kurz eine Passage zitieren, die meine Intention, wie ich finde, ganz gut illustriert. Am Sterbebett ihres Vaters reflektiert Tochter Hanne: „So lange ich denken kann, war dieser Mann da gewesen. Er war der Dreh- und Angelpunkt meines Lebens, auch heute noch. Unaufhörlich bin ich dankbar, ihm entkommen zu sein. Wie hätte ich, ohne ihn, das Gefühl der Freiheit je so tief empfinden können?“ 

Im Text verschränken sich zwei Zeitebenen, wie auch zwei Perspektiven, die sich inhaltlich ergänzen; die relativ kurze „Sterbezeit“ am Bett des Vaters, erzählt vom Ich der erwachsenen Tochter Hanne, und die assoziativ eingeschobenen Passagen aus Sicht der adoleszenten Hanne, die ungefähr fünfzehn Jahre umfassen und sich am Ende überlappen.

Hanne geht also in die Welt hinaus und was passiert? Mit zunehmender Lebenserfahrung entdeckt sie Ähnlichkeiten zwischen sich und ihrem Vater. Während des Schreibprozesses ist das Entdecken, Erkennen, Verknüpfen bald in den Vordergrund gerückt. Auch Hannes Umgang mit Versehrungen, mit Scheitern, ihren eigenen Abgründen. Die Schichten, die Ambivalenzen, die nach und nach freigelegt werden. Die Frage, kann man, trotz allem, ein gutes Leben führen?

Warum Familie idealisiert und verklärt wird? Die etwas flapsig-zynische Antwort, weil sonst niemand mehr eine Familie gründen bzw. Nachwuchs grossziehen würde, trifft es natürlich nicht. Es gibt ja tatsächlich ein existenzielles Bedürfnis, sein Leben möglichst in Liebe, mit Menschen zu teilen. Die Vorstellung, allein zu sein, abgeschnitten von der Gruppe, die Schutz und Geborgenheit verspricht, wird oft als schlimmer empfunden als bleiben und aushalten. 

Das Wissen um die schiere Unmöglichkeit einer andauernden romantisch-harmonischen Gemeinschaft ist zunächst aus guten Gründen irrelevant – nichts im Leben würde begonnen, wüsste man um die Anstrengungen, das Leid, den Schmerz. Und bei aller Widersprüchlichkeit funktioniert das System Familie ja trotzdem; egal wie schlimm die Verletzungen waren, am Ende fühlt man sich doch meistens zugehörig. 

Warum gerät man irgendwann auf eine Schiene, von der man sich nicht mehr befreien kann. Hanne findet Zeichen, die von Seiten ihres Vaters erzählen, die verschwanden. Ist es einfach die Unmöglichkeit, sein Scheitern eingestehen zu können? So wie Robert Falcon Scott im antarktischen Eis?

32. Literaturblatt mit «Lügen von gestern und heute» von Ursula Fricker

Ja, da gibt es durchaus Parallelen zu Scott, der ja im Roman eine gewisse Rolle spielt. Je länger man geht, desto schwieriger wird es, die Richtung zu wechseln, besonders in der Antarktis… Scotts entscheidender Fehler war wohl, statt Schlittenhunden, Ponys mit auf die Expedition zu nehmen. Eigentlich hätte er das wissen müssen. Und wenn nicht, hätte ihm das jemand sagen müssen. Wahrscheinlich hat er nicht hören wollen. In Scotts Fall wäre ein Eingeständnis ab einem gewissen Punkt unmittelbar tödlich gewesen. So endete die Expedition zwar ebenfalls mit dem Tod, aber bis kurz davor gab es noch Hoffnung: Auf besseres Wetter, auf ein Wunder. 

Bei Alwin Tobler, dem Vater im Buch, waren es gesellschaftliche Zwänge, denen er nichts entgegenzusetzen hatte, auch seine eigene Rollengläubigkeit. Zwar künstlerisch begabt, hat er sich zu keinem Zeitpunkt eine Laufbahn gemäss seiner Neigung vorstellen können. Er kam nie mit alternativen Lebensentwürfen in Kontakt, hatte diesbezüglich keine Vorbilder. Und einmal auf der „Familienschiene“, gab es keinen Spielraum mehr für Unsicherheiten, man musste Geld verdienen. Eine Familie ernähren zu können war Alwin Toblers Idee von Erfolg – bis er sich dann in Form dieses Fanatismus krumme Wege aus der Enge gesucht hat. Dass dieser vermeintliche Ausbruch zu noch mehr Enge geführt hat, ist eine Tragik der Geschichte.

So wie ich vieles in der Radikalität vieler Bewegungen und Strömungen verstehen kann, so unverständlich ist mir der Hang zum Absoluten. Wie kann man glauben, jemanden durch die Verteufelung eines Tuns zur Kurskorrektur zu bewegen? Wie soll jegliche Gewalt zu einem Mittel der Überzeugung werden?

Wenn man etwas als richtig erkannt hat. Wenn man denkt, die Rettung der Welt hängt davon ab – klopft der Fanatismus an die Tür. Dann hat man kein Verständnis mehr für menschliche Unzulänglichkeit. Ich kann mal ein Beispiel aus meiner Jugend erzählen. Mit fünfzehn war ich in einer Aktivistengruppe, die gegen Tierversuche kämpfte. Wir organisierten Demos, sammelten Unterschriften, Infomaterial zeigte Fotos mit diesen Affen, die ein Kästchen ins Gehirn implantiert hatten. Ich war so fokussiert auf dieses Tierleid, dass ich jeden einzelnen, der mit einem Schulterzucken vorbei ging, hasste. Bald hasste ich die Freundinnen, die sich gedankenlos Cremes ins Gesicht schmierten. Das Ziel war: Dieses Leid muss aufhören, sofort. Ein richtiges, ein ehrenwertes Anliegen. Aber von einem Teenager radikal absolut gesetzt. Und ist etwas absolut gesetzt, bleibt der Hass nicht aus. Der Drang, andere zu belehren, zu verurteilen, zu zwingen, die Illiberalität, die Diktatur letztlich, wenn politische Macht hinzukommt. Das Gegenteil von Absolut ist die Menschlichkeit. Die Erkenntnis, dass die menschliche Natur eben immer auch weich und inkonsequent ist, zum Glück. 

Ein weiterer Punkt, den ich in diesem Zusammenhang gerne noch ansprechen würde, ist die Frage nach dem selbstlos Guten. Gibt es das selbstlos Gute oder ist bei allem Guttun immer auch eine Form von Eigennutz im Spiel? Sich auf der richtigen Seite zu wähnen etwa. Sich zugehörig zu fühlen. Sich abzugrenzen. Das Bedürfnis, die Spielregeln zu bestimmen. Möglicherweise aber ist auch die Idee des selbstlos Guten schon wieder ziemlich radikal… 

In Ihrem Roman steht der Satz „Das Schweigen war schlimmer als jede Wut.“ Dieser Satz traf wie viele andere wie ein Pfeil. In der Wut bricht wenigstens etwas auf. Und Wut kann aufbrechen. Schweigen zementiert. Und trotzdem verabscheuen wir Wut oft grundsätzlich. Warum?

6. Literaturblatt mit «Ausser sich» von Ursula Fricker

Ich würde hier unterscheiden zwischen Wut als Emotion und Gewalt. Aber ja, schon Wut gilt als negative Emotion. Dabei ist es zunächst einfach eine Emotion, wie Freude, Trauer. Alltäglich, unvermeidbar. Neben dem zerstörerischen Potential, birgt Wut aber vor allem eine sehr fokussierte Energie, die man eigentlich produktiv nutzen könnte.
Offen ausagierte Wut suggeriert in unseren westlichen Gesellschaften tendenziell Hilflosigkeit, Schwäche, während Ruhe bewahren Stärke und Überlegenheit demonstriert. Formen emotionaler Erpressung wie Schweigen, Ignorieren, Liebe entziehen hingegen, erscheinen zunächst sanfter, sind „unsichtbar“, aber in ihrer Wirkung nachhaltiger und zerstörerischer als ein ordentlicher Wutausbruch, da sie eine existenzielle Bedrohung triggern: Ausschluss aus der Gemeinschaft.

So hat der schweigende Vater im Roman denn auch kein Interesse daran, die Situation zu entschärfen, im Gegenteil, ihm geht es um Erziehung. Darum, Kinder und Frau in den engen Grenzen seines kleinen Königreichs zu halten, und der Lernerfolg ist beachtlich: Anpassung, vorauseilender Gehorsam. Nur nichts tun, das den anderen verärgern könnte, wobei man perfiderweise darüber im Unklaren gelassen wird, was den andern verärgert, heute dies, morgen das.

Hannes Vater sieht sich als Opfer. Jede und jeder, der sich einmal diese Rolle endgültig übergestülpt hat, ist verloren. Hannes Kampf ist auch ein Kampf gegen die Rolle eines Opfers. Warum fällt es uns so schwer, an dem zu arbeiten, was uns stark macht?

Das ist eine gute Frage, sie zu beantworten aber etwas heikel. Ich versuche es mal. Eine Opferrolle kann sehr stark machen. Wer wagt es, ein Opfer in Frage zu stellen? Opfer bekommen Privilegien, die sonst in weiter Ferne lägen. Opfer produzieren schlechtes Gewissen bei anderen. Opfer sind Meister der Distinktion. Sie definieren, woran und worunter sie leiden. Sie schliessen ein und aus. Sie tendieren dazu, Mitmenschlichkeit und Rücksichtnahme auszunutzen. Und nicht selten finden sich Opfer plötzlich an der Spitze der Pyramide wieder. 

Genauso verhält es sich mit der Figur des Vaters im Buch. Natürlich ist er tatsächlich ein Opfer, unter anderem seiner Klasse, seiner proletarisch-kleinbürgerlichen Herkunft. Nach und nach beginnt er unter der Prämisse „Gesundheit“, sich vermeintlich zu emanzipieren. Während er die Grenzen des Zumutbaren enger und enger fasst, produzieren unvermeidliche Übertretungen neue „Verletzungen“, neue Empfindlichkeiten – der Opferstatus wird also permanent bestätigt und macht eine Gegenwehr moralisch nahezu unmöglich. Irgendwann ist dann sogar das normale Leben eine Zumutung, die ganz normalen Bedürfnisse seiner Frau, seiner Kinder. Da ist die persönliche, an sich begrüssenswerte Emanzipation, längst zu einem ideologischen Projekt geworden. 

Insofern, um auf Ihre Frage zurückzukommen, behindert sich jemand, der sich als Opfer definiert, vielleicht in seiner persönlichen Entwicklung, gewinnt aber, je nach Bereitschaft seines Umfelds, sensibel auf die Bedürfnisse von Opfern zu reagieren, an sozialem Status, sei es im Mikrokosmos Familie, sei es in gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen. 

Ursula Fricker, 1965 in Schaffhausen geboren, studierte Sozialarbeit in Bern, arbeitete in einem Heim für geistig behinderte Menschen und in der Theaterpädagogik. Sie hat bisher vier Romane veröffentlicht. Auf ihr viel beachtetes Debüt «Fliehende Wasser» (2004) folgten «Das letzte Bild» (2009), «Außer sich» (2012), nominiert für den Schweizer Buchpreis 2012, und «Lügen von gestern und heute» (2016). Mit «Gesund genug» war sie Finalistin des Alfred-Döblin-Preises 2021; für das Manuskript erhielt sie ein »Arbeitspaket«-Stipendium des Landes Brandenburg. Im Herbst 2022 wird sie mit dem Georg Fischer Kulturpreis der Stadt Schaffhausen ausgezeichnet. Ursula Fricker lebt in der Märkischen Schweiz in der Nähe von Berlin.

«Gesund genug» im Literarischen Quartett

Rezension von «Lügen von gestern und heute» auf literaturblatt.ch

Illustration © leafrei.com

Klaus Merz und Sandro Zollinger «LOS»

Zusammen mit dem Bildkünstler Sandro Zollinger tourt Klaus Merz mit seiner 2005 erschienen Erzählung „Los“ durchs Land. „LOS“ wird zu einem mehrdimensionalen Sprach- und Bilderlebnis, das mit Hilfe von Virtual Reality, 3D-Brillen in ungewohnte Dimensionen führen will.

Erstaunlich genug, dass sich ein Dichter, der sich sonst so sicher und gewandt alt bewährter Kunstformen bedient, ein solches Wagnis auf dem Rücken digitaler Technik eingeht. Und weil ich dem sonst so besonnenen Dichter keine Experimente zutraue, die den Absturz mit einkalkulieren, freue ich mich auf einen akustisch-visuellen „Kunsttripp“ der Sonderklasse.

Spät im Herbst bricht Thaler auf eine Bergwanderung auf, von der er nicht wieder zurückkehrt. Es beginnt eine aufgeregte Suchaktion nach dem Verschwundenen. Aber selbst Hubschrauber, Passbilder im Fernseher oder Hellseher bringen ihn nicht zurück. Er bleibt verschollen, verschwunden – für die Zurückgebliebenen ohne Hoffnung – höchstens so wie jene Verstorbenen, denen man in leicht verschobener Perspektive mit einem Mal zu begegnen glaubt. Mit dem leisen Verdacht, dass sich da jemand aus dem Staub machte, der die Absicht lange mit sich getragen hatte, der nicht einfach verschwand, sondern verschwinden wollte.

„Los“ ist das knappe Erzählen eines Lebens, in dem der Protagonist gar nie richtig angekommen zu sein schien, von einem Mann, der sich noch in den letzten Monaten vor seinem eigenen Verschwinden mit dem Sterben seiner Mutter auseinandersetzte, einen eigentlichen Bericht verfasste, ein Protokoll einer zunehmenden Entfernung.
 Thaler spürte, dass in ihm etwas wuchs, das nicht zu stoppen war. Und als ihm ein Arzt bestätigt, was er in seinem Bauch querliegen spürt, als Zeichen ihm bestätigen, wird unumkehrbar, was enden wird, erst recht als ein Schwan vom Himmel fällt.


Mit Thalers Pensionierung ist nicht eingetroffen, vorauf viele hoffen, weder Freiheit noch ein Stück unverbaute Zukunft. Schon gar nicht nach einer misslungenen Reise mit einer Freundin in den Grand Canyon. Thaler ist sich nicht sicher, ob all die Sehnsucht nach Zweisamkeit nur Verzweiflungen, dem Zweifel entspringt. Weder in der Ehe seiner Eltern, noch in der Tatsache des frühen Todes seines ihm so nahen Bruders kann Thaler die Bestätigung finden, dass es jene tiefe Verbundenheit gibt, nach der er sich stets sehnte. War der Gang in die Berge letzte Konsequenz? Eine Herausforderung an das Schicksal?

Klaus Merz «Los», Haymon, 2005, 96 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-85218-466-1

Thaler hat sich verloren. Er geht nicht nur einfach „los“, er lässt „los“, bindet sich „los“. Selbst der Rückblick auf ein Leben als Lehrer für Kultur, Sprache, Philosophie gibt ihm nicht jenen Trost, jene Hoffnung, mit dem wirklichen Leben je verschmolzen zu sein. Alltag und Routine machten ihn stumpf. Kann ein Ultimatum an das Leben der Grund für jene Wanderung im November gewesen sein? Er geht auf eine Reise, weil Reisen das einzige ist, was ihm ein Zuhause gibt. Auf eine Reise an einen ungewissen Ort.

In nicht einmal hundert Seiten öffnet Klaus Merz eine Welt. Er leuchtet sie nicht aus. Er analysiert nicht, er ordnet nicht ein. „Los“ sind lose Bilder eines Lebens, die ich als Leser selbst zusammenfügen muss, Facetten eines Lebens, die nur erahnen lassen, was wirklich passierte. Wichtig in Klaus Merz Erzählung ist aber nicht das Warum, sondern das Wie. Das Wie seines Erzählens, wie er es schafft, mit wenigen Strichen, mit wenig Farbe jene Tiefe zu schaffen, die sein verdichtetes Schreiben auszeichnet. „Los“ ist ebenso poetisch wie lyrisch, ebenso verdichtet wie offen. „Los“ ist eine jener literarischen Perlen, für den man den stillen Dichter nicht genug würdigen kann!

Klaus Merz, geboren 1945 in Aarau, zählt zu den prägenden Stimmen der deutschsprachigen Literatur. Seine Werke wurden in viele Sprachen übersetzt und mit renommierten Preisen im gesamten deutschsprachigen Raum ausgezeichnet.

Sandro Zollinger, Buch & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte nach seiner Ausbildung als Treuhänder Film- und Medientheorie in Berlin. Seit 2004 arbeitet er als unabhängiger Filmschaffender und Zukunftsforscher. Er ist Mitinhaber von «Montezuma». In seinen mehrfach ausgezeichneten Arbeiten beschäftigt er sich eindringlich mit der Suche nach innovativen Erzählformen und neuen Perspektiven.

Roman Vital, Montage & Regie, geboren 1975 in Arosa, studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg Montage und Dokumentarfilm. Seit 2006 arbeitet er als freier Produzent, Regisseur und Filmeditor in Zürich. Er ist Inhaber von «Turaco Filmproduktion». Seine mehrfach preisgekrönten Arbeiten setzen sich nachdrücklich mit gesellschaftlichen Themen auseinander.

Illustration © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Irene Solà «Singe ich, tanzen die Berge», Trabanten

Irene Solàs Roman „Singe ich, tanzen die Berge“ ist ein Werk, dass sich mit viel Feingefühl und Empathie über die Grenzen des scheinbar Erzählbaren hinauswagt. Die Lesung mit der Autorin, die am 30. Oktober Gast an den Literaturtagen Zofingen mit Schwerpunkt „Spanien“ ist, sollte man sich nicht entgehen lassen!

Dass die Zeit nicht an jedem Ort der Welt im gleichen Takt, im gleichen Tempo tickt, wissen wir aus Erfahrung sehr wohl, auch wenn die Uhr am Handgelenk etwas anderes bezeugt. Dass sich der Mensch allzu leicht als Mittelpunkt der Welt oder gar alles Existierenden sieht, relativiert sich meist erst, wenn er sich unter dem Sternenhimmel seiner tatsächlichen „Wichtigkeit“ bewusst wird. Zeit und Raum bleiben subjektiv, auch wenn das menschliche Bewusstsein alles versucht, Dimensionen in ein klares Geviert einzupacken.

Irene Solà gelingt mit ihrem Roman etwas, was genau diese räumliche und zeitliche Dimension sprengt. Obwohl sie erzählt, fügt sie sich nicht in eine stringente Chronologie ein. Obwohl sie schildert, legt sie sich in keinem ihrer Bilder fest. Obwohl ihre Perspektiven klar sind, ist es niemals nur die eine, die menschliche. Irene Solà schafft es, dass Leidenschaft, Leben, Lust und Bewegungen in vielfältigsten Formen zu einem vielfachen Choral an Stimmen, Stimmungen und Geschichten werden. Literatur wird zu einer Trägerin der Musik des Lebens, in der jene des Menschen nur eine einzige Stimme ist.

Das Buch erzählt von einem Dorf in den Pyrenäen, abgelegen, weit weg. Einem Dorf, in dem die Einwohnerzahl in den letzten Jahrzehnten auf wenige Hundert geschrumpft ist. Einem Dorf, in dem alle alle kennen, nichts unkommentiert bleibt, das wenigste geheim.

Irene Solà «Singe ich, tanzen die Berge», Trabanten, aus dem Katalanischen von
Petra Zickmann, 2022, 207 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-98697-000-0

Das Buch erzählt in vielen Kapiteln vom Leben in und um dieses Dorf. Aber eben nicht nur aus der Sicht der Menschen, sondern auch aus jener der Tiere, der Pflanzen, der Bären und der Bäume, der Berge und des Waldes, des Windes und des Gewitters. Von einem Dorf im Wandel der Zeit, von Ereignissen, die es erschüttern und sich mit der Zeit Schicht für Schicht in der Erinnerung ablagern. 

Dreh und Angelpunkt des Romans ist die Familie des dichtenden Jungbauern Domènec und seiner schönen Frau Sió. Sie beide und ihre noch ganz jungen Kinder Mia und Hilari, die ihr Glück auf einem kleinen Hof in den Bergen gefunden haben, werden mit einem Mal während eines Gewitters aus ihrem Glück gerissen. Domènec wird auf dem Feld vom Blitz erschlagen. Und als ob das Schicksal damit in dieser Familie nicht schon genug Unheil angerichtet hätte, stirbt der Sohn zwei Jahrzehnte später bei einem tragischen Jagdunfall. Als ob es das Schicksal auf diese eine Familie abgesehen hätte. Nicht nur auf diese eine Familie, das ganze Dorf, den Gebirgszug selbst, denn eine der vielen Erzählstimmen in diesem Roman findet schon als Kind ganze Kisten volle Überreste aus der Francozeit; Waffen und Munition. Dinge, die fallengelassen werden, die verschüttet werden, sich ablagern, die aber doch noch immer bis in die Gegenwart wirken.

Im Film gibt es die Gattung „Episodenfilm“. In vielem erscheint der Roman von Irene Solà wie ein Episodenfilm erzählt, wenn auch die Zeitebenen von  fernster Vergangenheit bis in die Gegenwart verteilt sind. Aber Bilder in der einen Darstellung werden aus ganz anderer Perspektive wieder und wieder erzählt und machen aus dem Roman ein feines Gespinst aus Sprachkunst. Irene Solà scheint ein ganz besonderes Wahrnehmungsorgan zu besitzen. Es ist, als würde sie in dem Äther allen Seins jene Stimmen filtrieren, die nur einem ganz und gar emphatischen Sein zugänglich sind. 

Dass Irene Solà auch Lyrikerin, oder vielleicht in erster Linie Lyrikerin ist, verwundert nicht. Und die Tatsache, dass im Trabanten-Verlag noch diesen Herbst eine erste Gedichtsammlung in deutscher Sprache erscheinen wird, macht mehr als neugierig!

Irene Solà liest und diskutiert an den Zofinger Literaturtagen 2022. Weitere Gäste sind Pedro Lenz, Holger Ehling, Marc Arnold Wiederkehr, Vicente Valero, Miqui Otero, José Ovejero, Peter Kultzen, María Sánchez, Elena Medel, DuoCalva, María Castrejón, Sergio Del Molino und Ray Loriga.

Irene Solà wurde 1990 in Malla geboren, einem Dorf mit ein paar hundert Einwohnern in der Nähe der Stadt Vic, in der Provinz Barcelona. Sie studierte an der Akademie der Künste in Barcelona und hat einen Master-Abschluss in Literatur, Film und visueller Kultur. Im Jahr 2012 veröffentlichte sie den Gedichtband Bèstia, 2017 folgte ihr erster Roman «Els dics». Mit ihrem zweiten Roman, «Canto jo i la muntanya balla» («Singe ich, tanzen die Berge»), wurde sie mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Europäischen Literaturpreis 2020.

Beitragsbild © Oscar Holloway

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont #SchweizerBuchpreis 22/7

„Blutbuch“ ist ein Buch über das Woher und Wohin. Die Stimme im Buch sucht nach ihrer Herkunft, schreibt Briefe an die Grossmutter, weil sie weiss, dass alle alle Generationen mit sich tragen, aus denen die eigene Existenz gewachsen ist. „Blutbuch“ ist die Suche nach den Säften, die das Leben ausmachen.

Die Erzählstimme definiert sich weder männlich noch weiblich, was sich non-binär nennt. Sie forscht in einer Zeit, in der Vergangenheit, als es ausschliesslich das Weibliche und Männliche gab und sich alles dieser Zweiteilung zu unterwerfen hatte, mit allen Konsequenzen. Wenn die Erzählstimme in den Schichten des eigenen Daseins wühlt, wenn sie schwärmt, leidet, schreit, erklärt und forscht, vermeidet sie jede Zuordnung, schreibt „jemensch“ statt jemand, was zu Beginn gewöhnungsbedürftig ist, den Lesefluss aber kaum hemmt und für Kim de l’Horizon eine der unausweichlichen Konsequenzen einer nicht nur für das Schreiben getroffenen Entscheidung ist.

«Solange ich schreibe, spreche ich zwar nicht, aber ich schweige auch nicht.»

„Blutbuch“ ist die Zwiesprache mit der Grossmutter, mit seiner Grossmeer, einer alt gewordenen Frau, die zu verstummen droht, die in ihrer Demenz ihre Geschichte Stück für Stück verliert, die er nicht mehr fragen kann, deren Antworten versiegen. Mit einer Frau, die untrennbar mit der eigenen Geschichte verbunden ist, die in ihr grosses Vergessen Stücke seiner eigenen Geschichte mit in diese eine nicht zu korrigierende Leere reisst.

„Blutbuch“ ist die Suche nach der eigenen Herkunft, ein erschriebener Stammbaum. Kim de l’Horizon kostet in diesem Buch vom Blut seiner Familie, schmeckt das Verborgene, Vergessene, Verschwiegene. Jene Blutbuche im Hof ist Sinnbild für das Buch, das jede Familie schreibt, die Geschichten, von denen man sich emanzipieren kann oder die einem auf ewig im Griff behalten, nicht loslassen, ketten.

Kim de l’Horizon «Blutbuch», DuMont, 2022, 336 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-8321-8208-3

Die Grossmutter des Erzählenden, die Grossmeer, ist Kim näher als die Mutter, seine – ihre Meer, von der Kim sich sein ganzes Leben lang seltsam distanziert fühlt, mit der Kim nicht redet, schon gar nicht über das Anderssein, dieses „Es“, das immer aussen vor bleibt. „Blutbuch“ ist die Liebeserklärung an eine Grossmutter, das Nachspüren an eine Nähe, die der Erzähler zur Mutter nie hatte. „Blutbuch“ ist sanfte Berührung, leises Streicheln, aber auch verzweifeltes Schreien, grelle Demonstration.
„Blutbuch“ ist die Erkundung eines Körpers, einer Selbstverständlichkeit für viele, einer schmerzhaften Konfrontation für Kim. Kim spürt sich dann, wenn der Schmerz am grössten ist. In „Blutbuch“ steckt der Kampf ebenso wie der Versuch einer permanenten Versöhnung. Warum bin ich so, wie ich bin? „Blutbuch“ ist der Literatur gewordene Versuch, die Dinge beim Namen zu nennen, dem eigenen Sein eine Gestalt zu geben, Kraft dort zu finden, wo andere sich der Verzweiflung ergeben. Kim de L’Horzon gibt dem Suchen eine Sprache.

«Ich wollte dir meine konstante Angst vor meinem Körper erzählen: Mit dem schrecklichen Monster unterm Bett unter einer Decke zu stecken. Nur ist das keine Decke, sondern meine Haut.»

Ich las „Blutbuch“ mit angehaltenem Atem. Der Roman ist keine Nachttischchenlektüre, denn die Gefahr, dass einem Bilder bis in Träume begleiten, ist gross. Kim de l’Horizons Debüt ist ein vielstimmiges Konvolut, sich aus den Zwängen einer Gesellschaft zu befreien, die alles und jedes in Schubladen pressen muss, die all dem keinen Platz lässt, was Normen widerspricht. „Blutbuch“ liest sich wie ein Drehbuch zu einem langen Akt der Befreiung. Erstaunlich, wie viel Reife in diesem Buch liegt, wie viel Sprachkunst, wie viel Mut und Kompromisslosigkeit.

Weniger erstaunlich, dass sowohl der Deutsche wie der Schweizer Buchpreis das Buch in die Shortlist, in die Endausscheidung aufgenommen haben, weil das Buch all das zur Sprache bringt, was in der aufgeladenen Atmosphäre unserer Gesellschaft wabert. Aber „Blutbuch“ ist keine Unterhaltung. Dieses Buch will Auseinandersetzung. Wer sich als Lesende dieser Auseinandersetzung stellt, wird belohnt. „Blutbuch“ ist eine Wucht.

Kim de l’Horizon gewann mit seinem Roman «Blutbuch» den Deutschen Buchpreis 2022. Hier die Kurzfassung der Jurybegründung:
«Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman „Blutbuch“ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht? Fixpunkt des Erzählens ist die eigene Grossmutter, die „Grossmeer“ im Berndeutschen, in deren Ozean das Kind Kim zu ertrinken drohte und aus dem es sich jetzt schreibend freischwimmt.
Die Romanform ist dabei in steter Bewegung. Jeder Sprachversuch, von der plastischen Szene bis zum essayartigen Memoir, entfaltet eine Dringlichkeit und literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern liess.»

Kim de l’Horizon, geboren 2666 auf Gethen. In der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj an den Bühnen Bern. Vor dem Debüt «Blutbuch» versuchte Kim mit Nachwuchspreisen attention zu erringen – u. a. mit dem Textstreich-Wettbewerb für ungeschriebene Lyrik, dem Treibhaus-Wettkampf für exotische Gewächse und dem Damenprozessor. Heute hat Kim aber genug vom »ICH«, studiert Hexerei bei Starhawk, Transdisziplinarität an der ZHdK und textet kollektiv im Magazin DELIRIUM. «Blutbuch» wurde mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung und mit dem Deutschen Buchpreis 2022 ausgezeichnet.