Peter Henisch «Über Rilke (eine Textstelle, die es nicht in den Jahrhundertroman schaffte)»

Angeblich schrieb er zuerst etwas ganz Anderes. Sollte irgendwelche Briefe beantworten, die ihm lästig waren, vielleicht Fanpost. Saß, so heißt es, im Zimmer, das war wahrscheinlich ein hoher Raum. Aber trotzdem, so empfand er es möglicherweise in diesem Moment, von einer beklemmender Enge.

Draußen blies die Bora, dieser berüchtigte, enervierende Wind. Da spürte er den Druck an den Schläfen, den wetterfühlige Leute schon bei Föhn spüren. Und gewiss war er wetterfühlig, das kann man sich vorstellen, wenn man ein Foto von ihm ansieht. Er hat so was im Gesicht, so eine Hypersensibilität, so eine mit der Zeit zum physiognomisch sichtbaren Ausdruck gewordene Überempfindlichkeit.

Und er steht auf vom Schreibtisch auf und tritt ans Fenster.

Und sieht, fast erschrocken über so viel plötzlich über ihn hereinbrechende Helligkeit das Meer glänzen.

Und obwohl das Licht draußen noch greller sein wird, und seine Augen erst recht überempfindlich sind, wird er hinaus ins Freie stürmen. Und wird aus dem Sturm eine Stimme hören – vielleicht das Echo seiner eigenen Stimme, obwohl er noch gar nicht gerufen hat.

Wer, wenn ich schriee –

hörte mich denn aus der Engel

Ordnungen

Und das ist zweifellos eine recht hochgestochene, hochgeschraubte Formulierung, aber gewiss auch, ja doch, ein gewaltiger Satz.

Den habe Rilke, heißt es, sofort niedergeschrieben, Notizbuch und Bleistift hatte er anscheinend bei sich, der heftige Wind hat ihn dabei merkwürdigerweise nicht gestört.

Stimmt, Roch erinnert sich: Er war mit Ingrid dort gewesen. Auf dem Rilke-Pfad, zwischen Duino und Sistiana. Unten das Meer, glitzernd, oben ein Raubvogel mit von der Sonne durchleuchteten Flügeln. Schön, aber trotzdem enttäuschend – der Pfad war auf halbem Weg gesperrt.

Sie wollten über das Gitter klettern, sie fühlten sich damals noch jung. Aber da war ein Custode, der sie daran hinderte. E pericoloso! Der Weg sei durch Unwetter beschädigt. Der Rand drohe abzurutschen. Sie würden abstürzen.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Dann am Abend, im Albergo, hatten sie die erste Elegie nachgelesen.

Wer, wenn ich schriee … Zweifellos beeindruckend … Aber nicht doch auch eine Spur zu prätentiös?

Übrigens sei dieser Text, so groß er im Ansatz klang, in gewisser Hinsicht auch kleinmütig

Um an sich als Engelbeschwörer zu glauben, dazu war dieser beinah Begnadete dann doch wieder zu skeptisch.

Sie blätterten damals auch in einer Biographie, die, adrett arrangiert, unter einer Vase mit parfumierten Kunstblumen, auf dem Tisch ihres Zimmerchens lag. Rainer Maria Rilke, in vergoldeten Lettern. Dieser Mensch hatte (abgesehen von seiner literarischen Begabung) ein erstaunliches Talent, noble Bekanntschaften zu machen. Gast auf Schloss Duino, eingeladen von einer Fürstin, Marie von Thurn & Taxis Hohenlohe und weiß Gott was noch.

Anfangs leistete sie ihm noch Gesellschaft, lud ein paar andere Gäste ein, die den Dichter besichtigen durften, aber dann (ab Mitte Dezember 1911) überließ sie ihn sich selbst. Begab sich auf ein anderes ihrer Schlösser. Aber die Köchin und der Kammerdiener blieben natürlich zu Rilkes Verfügung. Offenbar dezente Personen, die er nur sehr nebenbei bemerken musste.

Nun bin ich wirklich, seit vorgestern, ganz allein in dem alten Gemäuer, schrieb der Dichter an eine andere edle Freundin, eine geborene Prinzessin von und zu – den Adelsnamen hatte Roch vergessen.

Nein, hatte Ingrid gesagt, ich halte diesen Typ nicht aus!

Aber er ist ein Jahrhundertdichter, hatte Roch eingewandt.

Schon möglich, so Ingrid, aber dann hat sich im Jahrhundert geirrt – in was für einer Welt hat denn der gelebt, ich bitt dich!?

Aber er habe doch auch Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge geschrieben und das sei doch ein durch und durch moderner Roman.

Ach was, sagte Ingrid, der Protagonist, dieser überempfindsame Däne in Paris, sei ja im Grunde auch von einem anderen Stern.

Ein Wort gab das andere. Am Ende waren sie fast aufeinander böse gewesen wegen Rilke. Und hatten sich erst im Bett versöhnt, in dem sie, zuerst voneinander abgewandt, bald aufeinander zu rollen mussten, weil die Matratze derart durchhing.

Und Roch blättert weiter. Er sucht ja nach wie vor Musil. Doch ein paar Seiten später: noch immer Rilke. Allerdings nicht mehr in Duino, in diesem Schloß mit der atemberaubenden Aussicht. Sondern in der Stiftskaserne, einem schmutzig- kaisergelben Gebäude im siebenten Wiener Bezirk.

Die Fenster sind offen, die Räume müssen täglich zwei Mal gelüftet werden. Das hat der Major, dem die dubiosen Schreiber in dieser Abteilung unterstellt sind, so angeordnet. Rilke hüstelt, er ist für Verkühlungen anfällig. Doch so viel ist wahr, gelüftet muss werden, jeweils mindestens zehn Minuten sollen die Fensterflügel sperrangelweit offen stehen, sonst hält man den Mief hier drinnen einfach nicht aus.

Da sitzt er nun, Rilke – hängende Schultern, runder Rücken, vor sich eine verblichen grüne Schreibunterlage aus Filz. Durch die halb vergitterten Fenster sieht man nichts als die Häuserfront vis à vis. Und dort auf dem Dachfirst ein paar steinerne Engel. Allerdings elend schlecht gelungene, zu Karikaturen misslungene Engel aus irgendeiner mediokren Manufaktur.

Rilke, der zu einer Zeit, die nun sehr fern scheint, fast unwirklich, weil es damals zwischen Deutschland und Frankreich noch keine von Tag zu Tag wachsende Barriere aus Leichen gab –

Rilke, der die Arbeit des großen Rodin in seinem Atelier zu Paris beobachtet und beschrieben hat –

der die Entstehung von Skulpturen bis in die Fingerspitzen, bis an die Schmerzgrenze nachfühlt –

Rilke kann diese Engel gar nicht länger ansehen.

Diese bedauernswerten Engel, die später dem Zweiten Weltkrieg zum Opfer fallen werden. (Von dem man damals, mitten im ersten, noch nichts ahnt.) Diese Engel haben Käppchen aus dreckigem Schnee auf den Köpfen. Unter ihren Füßen hängen Wächten,

von denen ab und zu ein Stück abstürzt, was jedes Mal ein dumpfes Geräusch auf dem Gehsteig verursacht.

Und da sitzt er nun also fröstelnd am Schreibtisch. Es ist Februar 1916, die Nachrichten von den Fronten sind schlecht. Eine trübe Verdrießlichkeit liegt in der Luft, ein bis in die Knochen spürbarer Pessimismus. Sogar die Stimmen der Fiakerkutscher, die unten vor dem Tor der Stiftskaserne auf Offiziere warten, klingen inzwischen kleinlaut.

Ein paar Wochen wird es dauern, hat es im August 1914 geheißen, vielleicht ein paar Monate. Und gewiß wird man Opfer bringen müssen, Soldaten werden fallen, doch dazu sind sie schließlich da. Aber das wird sich unten in Serbien abspielen oder oben in Galizien und der Bukowina. Na ja und wenn die deutschen Bundesgenossen durchaus wollen, dann sollen sie halt dort drüben in Frankreich einmarschieren.

Bloß: Dass man hier, in dieser Haupt- und Residenzstadt, in der zwar vielleicht manchmal streitlustige aber im Grund ihres Herzens doch friedliche Menschen (ungefähr zwei Millionen) wohnen, auf einmal von der Heimatfront reden wird, das hat man nicht erwartet. Und dass man nicht nur Fleisch und Gemüse kaum mehr bekommt, sondern nun auch schon Marken für Brot und Mehl braucht. Die Freude am Krieg, falls es die je gegeben hat, kommt da leicht abhanden. Dagegen muss was getan werden, diesen defätistischen Schlendrian, darf man nicht einfach einreißen lassen.

So der Major. Das ist doch nicht zu viel verlangt. Ein bisschen dichten, meine Herrn, ein bisschen über den Krieg dichten. Über die Tapferkeit und das Durchhaltevermögen unserer Feldgrauen, über den auch bei taktischen Rückzügen ungebrochenen Willen zum Vormarsch. Sie haben doch Fantasie, sie müssen nicht wirklich dabei sein, ich würde sagen, das ist ein entscheidender Vorteil.

Und Sie, Rilke, werden doch auch noch was zustande bringen. Sie können das nicht? Sie würden einfache Abschreibarbeiten vorziehen? Jetzt reden Sie keinen Blödsinn, dafür haben wir Sie nicht hierhergeholt! Nehmen Sie sich ein Beispiel an Ihren Kollegen Werfel und Kisch, die können das ja auch.

Peter Henisch, geboren 1943 in Wien. Nachkriegskindheit, Wiederaufbaupubertät. Studium der Philosophie und Psychologie. 1969 gemeinsam mit Helmut Zenker Begründung der Zeitschrift «Wespennest». Seit den 1970er­n freischwebender Schriftsteller. 1975 erschien Henischs erster Roman «Die kleine Figur meines Vaters», seitdem zahlreiche Romane. Zahlreiche Auszeichnungen, u. a. den Österreichischen Kunstpreis

Rezension von «Der Jahrhunderroman» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild @ Eva Schobel

Martin Kunz «Vom Adel der Alltagsfragen» Edtion Baes, Interview mit Urs Heinz Aerni

In seinem neuen Buch setzte der Philosoph Martin Kunz den Untertitel: «Philosophische und andere Notizen in einem merkwürdigen Jahr». Was machte die Pandemiezeit mit einem Philosophen und wie könnte der Alltag eine neue Qualität erhalten?

Interview: Urs Heinz Aerni

Urs Heinz Aerni: Ich beginne mit einem Zitat: «Vom Einzelnen wird Autonomie verlangt, diese ist aber im Grunde eine Bürde». Wissen Sie, wo ich diesen Satz las?

Martin Kunz: Alle, die über Autonomie nachdenken, kommen darauf zu sprechen, dass sie, also die Konkretisierung der Freiheit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, eine Aufgabe ist und nicht einfach ein Geschenk. Autonom bin ich, wenn ich den Willen habe zu wollen. Das heisst, ich muss nachdenken können, und zwar so, dass schliesslich das, was ich will, handlungsleitend wird.
Aber nun zu Ihrer Frage. Ich habe das so oder ähnlich sicher in einem meiner Essays geschrieben.

Aerni: Dieser Satz findet sich auf Seite 55 in Ihrem Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Ich komme auf dieses Buch zurück. Doch nun zu diesem hier vorliegenden, das ja mitten in eine Zeit hinein oder aus ihr heraus geschrieben worden ist, in der die Frage nach Freiheit und Autonomie eine zusätzliche Brisanz bekommt. Das Buch enthält aber durchaus auch Notate, wie «Was koche ich für Vera?». Es scheint, dass Alltagsfragen wie diese, durch die Pandemiekrise geadelt werden. Weisst du noch, was du ihr dann gekocht hast?

Kunz: Ich erinnere mich nicht. Wahrscheinlich gab‘s zwei Gänge, etwas Vegetarisches und dann vielleicht einen Fisch. Sie sagen es übrigen sehr eindrücklich: Alltagsfragen werden in einer solchen Krise geadelt. Viele Verrichtungen habe ich bewusster ausgeführt. Das scheinbar Unwichtige erhält einen besonderen Glanz.

Aerni: Auch in diesem Buch hier reflektieren Sie über Ihre Existenz – mit Fragen und Gedankenspielen. Die letzten Bücher sind entstanden in Zeiten, in denen die Welt pulsierte: mit Events, Kinos, offenen Konzerthäusern und Theatern. Könnte es sein, dass Ihre Zurückgeworfenheit in die eigenen vier Wände mit Tätigkeiten wie Entkalken der Kaffeemaschine das Schreiben gelähmt hat? Oder war es für Sie eine Art Rettung?

Kunz: Das Warten der Kaffeemaschine habe ich gewissermassen zelebriert. Wenn die Grossräume des Heiligen, also Kirchen, Kinos und Wellnesstempel, geschlossen sind, stellt sich die Frage, ob andere seelische Verdichtungen bzw. Öffnungen gefunden werden können. Vielleicht eben Würdigungen des Nebensächlichen. Als es hiess ‹Bleibt zu Hause›, habe ich zunächst gedacht, dass ich ja nun etwas Grösseres anpacken könnte, ein Buch über den utopischen Aspekt der Romantik zum Beispiel.

Aerni: Da höre ich nun das berühmte «Aber»…

Martin Kunz «Alltag – Philosophische und andere Notizen in einem seltsamen Jahr» mit einem Vorwort von Zora del Buono. Edtion Baes, 2021, ISBN 978-3-9519872-7-9

Kunz: Genau … Ich habe dann eben gemerkt, dass ich energetisch dazu nicht in der Lage war, und kam deshalb aufs Tagebuchschreiben wie viele andere ja auch. Es wurde für mich existentiell wichtig. Man könnte geradezu sagen, dass das Tagebuchschreiben Ausdruck der Suche nach Selbstbestimmung ist. Ich schreibe, also bin ich im Quadrat. Dazu kommt noch das Klavierspielen, künstlerische Arbeit und die Kunst des alltäglichen Tuns. Deshalb schreibe ich auch übers Essen, über Liebesgefühle und nicht nur über die Kopfarbeit. Interessant dabei auch die Frage, worüber ich nicht schreibe …

Aerni: … was vielleicht durch das Lesen erahnt werden könnte…

Kunz: Auch habe ich mich Immer wieder gefragt, wie andere Alleinlebende, denen all das nicht zur Verfügung steht, mit der Situation umgehen. Ich bin in dieser Hinsicht privilegiert.

Aerni: Ob es Ihr persönlichstes Buch von allen ist, sei hier mal offengelassen, aber wir erfahren zwischen den Zeilen allerhand über Ihre inneren Konflikte und Sehnsüchte. Gab es auch Momente, in denen Sie die Philosophie und die Kunst als gescheiterte Stützen empfandest?

Kunz: Noch in der ärmlichsten Hütte wird sich ein Väschen mit einem Zweig, die Figur einer Gottheit oder ein einfaches Spielzeug finden. Genau dies, Anteil zu haben am Reich des Ästhetischen, der Phantasie, des Sakralen, trägt hindurch. Fragen zu stellen, Gedankenreichtum, Spiel, Schönheit und die Erfahrung von Sprengendem, von etwas, das uns aus unserem Weltimmanenzgefängnis hinausschauen lässt, das hilft. Und es ist kein Widerspruch zum Gedanken der Nobilitierung des Alltags. All dies mit Fragezeichen. Mich beflügelt`s. Meistens.

Aerni: «Weltimmanenzgefängnis», ein Wort, das man sich auf der Zunge zergehen lassen muss. Wir erleben hier, bei der Lektüre, nicht nur eine Reise durch Ihre Gedanken, sondern erfahren auch, was Sie gelesen haben. Befanden sich darunter Titel oder Texte, die Sie als Gewinn empfunden haben oder die Sie vielleicht enttäuscht haben?

Kunz: Enttäuscht haben mich jene Intellektuellen, die vorschnell wissen, wie alles ist, es besser wissen als die Experten, die in der Regel bescheiden sind. Schreibende, die zu Kurzschlüssen neigen, mag ich nicht besonders. Ein Kurzschluss ist das Ergebnis eines Zusammenbruchs der Spannung zwischen zwei Schaltungspunkten mit verschiedenem Potential. Oder anders gesagt: Wem der Doppelblick mangelt, der denkt nicht.

Aerni: Zum Glück gibt es auch noch andere Geister…

Kunz: In der Tat, ich bin bewegt worden durch Philosophen, die letztlich angetrieben sind vom Versuch, «alle Dinge so zu betrachten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten» – so Adorno. Immer wieder hat mich da auch der Philosoph Ernst Bloch vereinnahmt mit seiner Utopie des transzendenzlosen Transzendierens. Jetzt verwende ich wohl wieder eine etwas strapazierende Formel. Nun ja, Philosophen sind in den Fragen der seelisch-geistigen Vertikalspannung manchmal mutiger als Theologen.

Aerni: Und die Kunst am Text, sprich Literatur?

Kunz: Philosophisches zu lesen genügt mir, wie Sie ahnen, noch nicht. Hölderlin, Trakl, Celan – Poesie, gehört dazu. Auch eigene Versuche. Und Klavier zu spielen, mich mit Kunst auseinanderzusetzen und nach dem Göttlichen zu fragen, unabhängig davon, ob es dieses gibt. All dies hat, wie schon erwähnt, rettende Kraft. Und ich habe es nie ganz aufgegeben, Menschen zu treffen. Zu spüren, dass es Menschen gibt, die uns mögen, ist lebenswichtig. Es gibt keine Kunst des Seins ohne Mitsein.

Aerni: Was hat Sie mehr verändert, die zwei Lockdowns, das Leben auf Halbmast oder das Schreiben dieses Textes?

Kunz: Wir stecken ja noch ziemlich in der Krise. Zurzeit sind meine Gedanken gerade dort, wo Menschen ins Elend gestürzt werden; bei den Kindern – es sind weltweit schätzungsweise eine halbe Milliarde, die nicht zur Schule gehen dürfen; bei den Mädchen, die statt sich emanzipieren zu können, ungewollt schwanger werden …

Aerni: Ein gewaltiges Thema, das uns wohl noch lange beschäftigen wird. Währenddessen verbeissen sich viele Flachdenker in festgezurrte Thesen und Weltbilder…

Kunz: Nun, wir denken immer lokal, schauen auf die Entwicklung der Zahlen bei uns, jammern, wenn wir nicht shoppen gehen können und die Bars geschlossen sind. Einzelne verrennen sich da gedanklich, kommen auf abstruse Behauptungen. «Scheinmeinungen» nannte das ein Vorsokratiker. Wir wissen leider nicht genau, welcher Umgang mit der Krise wirklich gut wäre. Und ich verstehe, dass es schwierig ist, Nichtwissen auszuhalten.

Aerni: Zudem wurde auch unsere Endlichkeit wieder mehr ins Bewusstsein gerückt.

Kunz: Sie sagen es. Ich denke über den Tod nach, ohne da sehr weit zu kommen. Und ich bin selbstverständlich besorgt, was die rettenden Massnahmen in unserer Gesellschaft für Schäden hinterlassen werden, ökonomische, soziale, psychische. Und ja, philosophisch stellt sich die Frage der Autonomie durchaus, um nochmals auf diese Frage zurückzukommen. Darf und soll «der Staat», den wir unversehens als strenges Gegenüber wahrnehmen, derart eingreifen in unsere Lebenswirklichkeit?

Aerni: Lassen Sie mich auf die Frage zurückkommen…

Kunz: Was mich verändert habe?

Aerni: Ja genau.

Kunz: Stellen Sie mir die Frage in ein paar Jahren nochmals.

Aerni: Sehr gerne. Das Lesen dieses Textes führte mich bei aller Neugier auf Ihre persönlichen Erlebnisse auch hin zum Mitdenken über Hegel, Adorno usw., aber auch in Phasen der Rat- ja sogar Hilflosigkeit bin ich geraten, bis hin zur Melancholie. Ich denke an Ihr bereits erwähntes Buch «Die stille Erotik der Melancholie». Hand aufs Herz, wie viel Erotik steckt nach diesem Jahr noch in ihr?

Kunz: Wir sind wohl nicht fürs Alleinsein vorgesehen. Etwas drängt zum Leben in einem Stamm, in einer Sippe, einer Gruppe und seit noch nicht langer Zeit zur Dialektik in einer Zweierkiste. Ich halte es aber für eine gute Übung, sich dem Alleinsein auszusetzen. Komme ich in ein weiterführendes Gespräch mit mir? Oder gerate ich in die Seelenwüste der Einsamkeit? In einem meiner Bücher

Aerni: … im «Wider die Selbstvergessenheit» …

Kunz: Genau, da habe ich ja nachgedacht über die sogenannte Individuation, also den Imperativ Werde, der du bist. Werde die, die du bist. Damit ist gemeint, den Weg der Schatten-Erkenntnis und Ichdistanzierung zu gehen, was der Ganzwerdung dient. Wir müssten wieder ernstnehmen, was Seele ist: das Medium, durch das sich etwas zeigt, was nicht meiner Wenigkeit zu verdanken ist. Trotzdem: Nur für den mystischen Menschen ist Einsamsein Eins-Sein. Einsam kann man sich übrigens auch mitten unter Menschen fühlen.

Aerni: Und für mich als Nichtmystiker?

Kunz: Ungewollte soziale Isolation ist keineswegs mehr süsse Melancholie, darauf wollen Sie wohl hinaus, sondern kann krank machen. Sprachlich und gedanklich unsorgfältig hat man uns soziale Distanz empfohlen.

Aerni: Irgendwo karikieren Sie «Freunde», die nur über sich selber reden, aber sich nie nach der Befindlichkeit des Gegenübers erkundigen. Nun, welche Fragen würden Sie den Leserinnen und Lesern dieses Buches gerne stellen wollen?

Kunz: Das will ich so abstrakt gar nicht beantworten. Ich käme gerne ins Gespräch mit einzelnen Lesenden. Und dieses Gespräch würde sich abhängig vom jeweils entstehenden Resonanzraum ganz anders entfalten.

Aerni: Trotzdem…

Kunz: Ja, um Ihrer Frage doch noch gerecht zu werden: Mich würde interessieren, welche Passagen beeindruckt, irritiert, geärgert, zum Staunen bewegt oder zu was auch immer angeregt haben.

Aerni: Danke, Martin Kunz, bleiben wir im Austausch. Über die fragile Freiheit, über das, was wir wollen und können. Unser Leben und unsere Welt befinden sich im Kippzustand, um so wichtiger bleiben das Lächeln und die Gelassenheit als unsere Stützen, und Bücher, wie dieses hier.

Martin Kunz studierte Philosophie, anthropologische Psychologie, Pädagogik und deutsche Literatur in Zürich und Berlin. Ferner studierte er am Konservatorium und an Kunstschulen und liess sich zum analytisch orientierten gestaltenden Psychotherapeuten ausbilden. Er war Professor an der Pädagogischen Hochschule in Zürich. Heute führt er am Rande des Zivilisationslärms ein Atelier für Kunst und Philosophie in Zürich.
Publikationen (Auswahl): «Honig und Quarz. Lyrik und philosophische Zuspitzungen» (2017), «Die stille Erotik der Melancholie» mit Bildern von Jeanine Osborne (2018), «Wider die Selbstvergessenheit»(2020).

Webseite von Martin Kunz

Beitragsbild © Urs Heinz Aerni

Annina Haab «Dass das Wiederkommen nicht geht», Plattform Gegenzauber

Claudia war ein Anker für mich in der Welt. Sie hatte keine andere Wahl, denn ich wusste nichts, woran ich mich sonst hätte festhalten sollen. Sie lachte laut und viel und fiel manchmal vom Stuhl davon, rappelte sich aber wieder auf und ab und zu bestellte sie im selben Atemzug ein Bier, von dem sie dann behauptete, vom ersten bis zum letzten Schluck, es schmecke scheusslich.

Claudia war lang und schön und schielte meist in sich hinein, während sie sprach. Ich dachte oft, ich könnte mitschielen, aber ich konnte es nicht. Bestimmt hatte sie irgendwo Wurzeln geschlagen, tief unten im Meer, das grün in ihren Augen schwappte, als wäre sie gewohnt unter Wasser zu sehen. Sie war die meiner Schwerkraft entgegengesetzte Energie. Und ich fürchtete den Moment, in dem ich ihr zuviel werden würde, zu nah und zu schwer, als dass ihr Auftrieb für uns beide reichte. Doch sie trug mich. Lachte mich so lange aus, bis die Schwerigkeit verschwunden war und ich selber lachen konnte.

Ich wollte immer bei ihr sein, oder genauer, wollte, dass sie immer bei mir war, denn ich konnte die Kälte schlecht aushalten und Claudi sass meistens irgendwo im Freien auf einer Bank oder einer Mauer und atmete, als wolle sie die ganze Welt einsaugen, was nicht geschah. Ich hoffte es aber, hoffte, sie würde mich eines Tages mit einatmen, damit ich in ihr fortdauern und durch ihre Meeraugen sehen könnte. Ich wollte von ihr gelacht und durch die Welt getragen werden. Aber Claudia atmete mich nicht ein, behauptete überdies, dass das gar nicht möglich sei.

Eine Liebeserklärung brauchte sie nicht, denn ich lag offen da, das war Erklärung genug. Für Claudi war ich überschaubar. Ich hielt mich an ihrer Hand und versuchte, dies möglichst unauffällig zu tun, um nicht zu klammern, wenn die Wellen hoch schlugen und auch sonst. Woher sie ihre Sicherheit nahm, wusste ich nie, es schien, sie stelle einfach ihre Füsse auf den Boden und trage den Kopf auf den Schultern. Sie liess sich dabei selten etwas anmerken. Claudia stellte fest. Ich sage, wie es ist, sagte sie.
Ich liebte sie mit unbestimmter Heftigkeit, denn sie war meine Freundin. Wir stahlen zwar keine Pferde aber Gemüse, Bücher, Schlafsäcke und einmal ein Boot, mit dem wir uns auf dem See davontreiben liessen bis zum Morgen.

Und dann war sie weg. Fast kommentarlos. Sie packte ein paar Kleider in einen alten Rucksack und verreiste und mich nahm sie nicht mit. In meinem Herzen schon, sagte sie. Aber das klang mir nach Spott. Es war klar ersichtlich, dass sie mich nicht mitnahm. Aus ihren Briefen rieselte Sand und sie beschrieb mit pedantischer Genauigkeit Dünen, Klippen, Wolken und das Meer, schrieb aber nie, wo sie sich aufhielt. Ich sagte, das kann mir egal sein. Ich sagte, es ist mir egal. Ich versuchte vergeblich, sie zu vergessen, sass zuhause am Fenster und hielt Ausschau, rieb mich an der Unantastbarkeit der Landschaft ohne sie.

Ich trieb in einer uferlosen Trübsal herum und fand keine seichte Stelle, an der ich ihr hätte entsteigen können. Ich wurde abwechselnd böse und reumütig, schrie, wartete, und kotzte, während ich sie herbeisehnte. Irgendwann wusste ich, dass sie nicht wiederkommen würde, weil zu viel Zeit vergangen war, zu viel Sand und Welt gibt es an den Rändern des Meeres, warum hätte sie genau zu mir zurückkehren sollen? Ich verurteilte Claudi in absentia, ihrer Treulosigkeit wegen, und kesselte sie in der Trockenheit meines Herzens ein, dort sollte sie bleiben, beschloss ich.

Als sie plötzlich vor meiner Tür stand, wünschte ich mir, sie nicht erkennen zu können, aber es half nichts. Ich trat zur Seite und bat Claudia herein, fragte, wie es ihr gehe; und sie sagte, dass sie nicht hätte gehen müssen. Sie wolle da nicht weiter drüber reden. Also hielt ich nur ihre Hand, während sie nach draussen starrte. Der Tee wurde in ihrer Tasse kalt, immer bevor sie ihn trinken konnte, sie blies hinein, ich wusste nicht wieso. Traute mich nicht, Claudi zu fragen. Sie schaute trüb aus, zauderte und war beständig müde. Sie hatte sich in Zweifel gezogen, aber nicht wieder heraus. Sogar ich begann sie zu bezweifeln. Sie war kein Anker mehr, sondern ein Boot, in dem wir nicht beide Platz fanden, sie schlingerte auf hoher See.

Ich verstand, dass es nun an mir lag, dass ich ihr Anlaufstelle zu sein vermögen sollte, aber sonst verstand ich nichts. Ich wollte, dass sie etwas benannte. Wollte, dass es da etwas gab, etwas möglichst Grosses, das man benennen und sich danach von ihm abwenden konnte. Einfach umdrehen und davonlaufen. Etwas worauf sich Staub sammelt und das man schliesslich ganz vergisst. Aber es gab nichts. Ich hielt ausufernde Reden, um sie aufzumuntern und selbst die Stille nicht ertragen zu müssen. Manchmal lachte sie leise, als schäme sie sich, dann wollte ich weinen, aber das kam mir fehl am Platz vor. Ich hätte gern, so als wäre nichts dabei, meine Füße auf den Boden gestellt und Claudi auf meinen Schultern getragen, aber ich war zu hager und sie zu groß dafür und ich wusste nicht, wie es geht. Also ließ ich alles sein, wie es war. Claudi blieb bei mir und ich hielt ihre kühle Hand, so gut es ging, wir schauten aus dem Fenster und waren ein wenig verloren.

Annina Haab wurde 1991 geboren und wuchs in Wädenswil im Kanton Zürich auf. Sie studierte Literarisches Schreiben in Biel, Bern und Leipzig und war Artist in Residence am Zentrum für nonkonformistische Kunst St. Petersburg sowie Stipendiatin der Autorenwerkstatt Prosa des Literarischen Colloquiums Berlin. Heute lebt Annina Haab in Basel. «Bei den großen Vögeln» ist ihr erster Roman.

Rezension von «Bei den großen Vögeln» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © leafrei.com / Literaturhaus Thurgau

Ist der Beruf „Literat“ erlernbar? von Urs Heinz Aerni

Was haben Silvio Huonder, Friederike Kretzen und Ruth Schweikert gemein? Richtig, sie schreiben Bücher, also Romane. Aber sie unterrichten auch am Literaturinstitut Biel „Literarisches Schreiben“. Der Sinn einer Ausbildung zur Schriftstellerin oder zum Schriftsteller ist in der Literaturszene nach wie vor umstritten.

von Urs Heinz Aerni
Journalist, Korrespondent für den Buchreport in Dortmund und Mitglied des OK-Teams der Literaturtage Zofingen

In den Vereinigten Staaten werden einige Starautoren aus entsprechenden Schulen besonders gefördert und von Verlagen und Presse gehätschelt; das lässt befürchten, dass Talente, ja Genies, die untauglich für disziplinierte Schulbetriebe sind, keine Chance mehr bekämen. Die Gefahr der Aufzucht einer Textkultur mit Normen, die dem zahlungsfreudigen Zeitgeistpublikum entsprechen, läge da auf der Hand. Anbieter und Dozenten werden dies heftig in Abrede stellen und auf die grundsätzlichen Handfertigkeiten verweisen, die ja in jeder Kunstform ebenso erlernt werden müssten wie beispielsweise in der Bildenden Kunst oder im Journalismus.
Schreiben Autorinnen und Autoren bewusst auf ein Zielpublikum hin? Weiß der Schreibende ob er einen Leser bedienen möchte, der eher einen flüssigen Plot oder verschwurbelte Sprachkapriolen oder eine tiefenpsychologische Innenschau bevorzugt? Welche Sprache wird zur Literatur? Ist es, nebenbei gefragt, ein Unterschied, ob ich hier für DIE ZEIT oder das ZOFINGER TAGBLATT schreibe? Müsste ich meinen Stil der Blätter anpassen?

Zurück zur hohen Literatur. Der Schriftsteller Felix Philipp Ingold bemängelte mal in der NZZ das durchschnittliche Sprachniveau des Großteils der aktuellen Literatur. Wirken die Schreibschulen wie diejenige in Biel einem solchen Mangel entgegen? Allerdings ist es erstens schwierig, eine erwünschte Qualität zu definieren; zweitens wäre auch die Diskussion darüber zu führen, ob sich zurzeit Verlegerinnen und Verleger überhaupt noch auf das dünne Eis der Neuentdeckungen wagen – ohne auf Absatzzahlen zu schielen. Womit man bei der Frage angelangt wäre, ob die Kunst vor dem Markt war oder umgekehrt.

Der passende Buchtipp: „Kreatives Schreiben“ von Oliver Ruf, utb Verlag, 978-3-8252-3664-9.

Der passende Anlass: „Können alle schreiben lernen?“ Ein Streitgespräch mit Phlipp Tingler, Michèle Minelli, Manfred Papst und Monika Schärer am 31. Oktober um 10 Uhr an den Literaturtagen Zofingen im Kulturhaus West. www.literaturtagezofingen.ch

Gottlieben – ein Text- und Bildgeschenk von Stefan Keller

Einmal standen wir Kinder dort am Ufer und liessen uns von den vorbeifahrenden Kursschiffen zuwinken, als wären wir im Schloss zu Hause. Dabei kannten doch alle die Besitzerin, sie war eine weltberühmte Opernsängerin, die manchmal sogar im Fernsehen auftrat. Wie genau meine Familie mit ihr verwandt gewesen ist, weiss niemand mehr. Die Sängerin selber, die 93 wurde, konnte es am Ende auch nicht sagen.

Zum Schloss gehörten zwei Parks und zwei Türme, auf einem der Parkwege sah ich an einem schulfreien Nachmittag die erste Schlange meines Lebens: fein in Stücke geschnitten vom Rasenmäher. Jedenfalls glaubte ich, dass es eine Schlange war. In einem der Türme sah ich die Gefängniszelle von Jan Hus, der beim Konstanzer Konzil 1414 als Ketzer verhaftet und samt einen Schriften verbrannt worden ist, obwohl man ihm freies Geleit zugesichert hatte. Die Asche streuten die Pfaffen in den Rhein, sie ist hier vorbeigeschwommen. Auch einen abgesetzten Papst sperrten sie ins Schloss Gottlieben ein, danach war es aber lange Zeit sehr ruhig.

Die Weltgeschichte kehrte zurück, als ein französischer Putschist und Mitbegründer des kantonalen Schützenvereins das mittelalterliche Gebäude im Stil eines venezianischen Palais umbauen liess. 1838 musste er von der Baustelle weg das Land verlassen, um später als Napoleon III. den Beruf eines Kaisers zu ergreifen. Der einzige Thurgauer Bürger, zum Glück, der es so weit brachte. Wichtig ist eine andere Geschichte: 1914, vielleicht gerade zur Zeit, als dieses Bild mit den Soldaten entstand, gab es in Deutschland einen Krupp-Direktor, der sich über den Ersten Weltkrieg empörte, obwohl er als Rüstungsindustrieller daran sehr gut verdiente. Schliesslich emigrierte er in die Schweiz und schrieb ein Buch über die deutsche Kriegsschuld. Wilhelm Muehlon wohnte ab 1926 im Schloss, eine Flussbreite vom Deutschen Reich entfernt. Weil die Nazis ihn als Verräter und Schurken verhetzten, wurde ihm der Ort zu gefährlich und er zog 1939 nach Klosters.

(mit freundlicher Genehmigung des Rotpunktverlags aus: Stefan Keller «Bildlegenden. 66 wahre Geschichten», S. 32)

Adelheid Duvanel «Fern von hier» Gesammelte Erzählungen, Limmat

Sprengsätze

© Mine Dal

Gasttext von Alice Grünfelder, Schriftstellerin, Herausgeberin, Übersetzerin und Literaturvermittlerinvon Alice Grünfelder

Da fährt eine im Hochsommer in den Wald, der ihr aus der Kindheit vertraut ist, so heisst es. In dem sie vielleicht an der Hand ihrer Mutter, ihrer Grossmutter, wem auch immer, Beeren gesammelt hat? Wie hat man sich diese Kindheit vorzustellen, die wie «ein Kästchen ist, das explodiert, würde man es öffnen», so Friederike Kretzen, eine der beiden Herausgeberinnen des Bandes „Fern von hier“ von Adelheit Duvanel? Die Schriftstellerin fährt also in den Wald, sitzt, liegt unter einem dichten Dach aus Nadeln, Blättern – Fichten? Birken? –, vielleicht auch auf einer Lichtung, nimmt Medikamente, spürt deshalb nicht, wie es ihr mitten in diesem Julisommer kalt und kälter wird, wie das Leben aus ihr entweicht, «stirbt an Unterkühlung»: letzter Eintrag unter dem Stichwort Lebensdaten im Anhang des Erzählbands «Fern von hier» .

So unfassbar und auch unvorstellbar dieser Suizid ist, wird man dem Werk Adelheid Duvanels nicht gerecht, wenn es vom Ende her gedeutet wird, würde es damit gar pathologisieren. Manche finden ihre Texte zu schwer, andere zu dunkel, übersehen dabei womöglich das Flatterhafte der Figuren, die knapp über dem sogenannten festen Boden unter den Füssen schweben. Sich nicht verorten und auch nicht «bodigen» lassen wollen. Irritierende Figuren, die irisieren, auch wenn Duvanel ihnen konkrete Namen gibt: Allerweltsnamen wie Anton, Johannes, Manfred, Katja, Regine. Sie schickt sie zu Psychiatern und wirft die Träume vor deren Füsse, weil diese ja auch von irgendetwas leben müssen.

Darin zeigt sich Duvanels Lust an widerständigem Schreiben, an leiser Provokation, an Verdichtung des schier Unausdenkbarem auf kleinstmöglichem Raum, die Lust auch, alles, was zwischen Licht und Schatten in solch einer Existenz möglich ist, aufzuspüren. Und es zeigt sich vor allem in den Anfängen ihrer Texte, die – aneinandergereiht – eine ganz eigene Geschichte erzählen könnten:

Fern liegt wie ein milchblauer Leib die Landschaft hinter einem rostroten Gitter, wie es kahle Bäume bilden.
Ich heiße Mirjam, bin dreizehn Jahre alte und lebe im Erziehungsheim „Zuversicht“.
Der Wind reißt mit Krallen an den Telefondrähten; zu der Melodie könnte man singen. 
Hubert Vollundganz ist der kleine Mann mit dem schwarzen Hut, der dort um die Ecke biegt.

Die stille Frau trägt immer einen Sack aus rotem Stoff über ihrer Schulter.
Der Himmel fällt in Fetzen herunter.
Kurt küsste vor einigen Wochen seine Halbschwester zum ersten Mal auf beide Wangen.
Jakob nennt die Suppe, die er sich täglich kocht, «Eigenbrötlersuppe».
Der Wind packt die Bäume im Genick und schüttelt sie.

Gleichwohl verweigern die Erzählungen leichtfertige Deutungen, nach solchen Anfängen ist noch immer alles möglich, bis sich die Wirklichkeitsebenen verschieben, zuerst sachte, gegen Ende oft so, dass sich die Figuren, aber auch Leserinnen und Leser nicht mehr wirklich zurecht finden. Dabei nimmt sie mit jeder neuen Geschichte neuen Anlauf, richtet sich und ihre Figuren nicht etwa ein in der Melancholie, der Ausweglosigkeit, geht indes auch kein Bündnis ein mit niemandem, warum auch. Sie wirft irre Lichter auf diese Ordnung, widerspenstig und leise streifen ihre Figuren das Netz mit hilflosen Gesten ab, wollen sich nicht darin verheddern, einfangen, einsperren lassen. Überdeutlich zeichnen sich diese Zusammenhänge ab, doch heftig ist der Überlebenswille, das tönt und klirrt in den Geschichten, und oft leuchten sie rot auf, zündrot zum Beispiel.

Den Figuren kommt man indes nicht wirklich nah, da ist auch immer eine Distanz, aus der heraus eine leise Verwunderung leuchtet. Der Blick nach aussen erfolgt oftmals durch eine Brille, ein Fenster. Dann aber – wenn man den Figuren durch Strassen folgt, wenn ihre Blicke durch Fenster in Gemütlichkeiten fallen: das Gefühl des Ausgesperrtseins.

Hilfe wiederum (Adelheid Duvanel kennt sich mit Psychiatrien aus, sie selbst war oft genug in Behandlung und in psychiatrischen Kliniken) bringt keinerlei Klärung. Duvanel reisst den vermeintlich gutmeinenden Helfern die Fratzen ab wie Masken, sieht in ihnen Stellvertreter einer Ordnung, gegen die nicht nur ihre Figuren angehen, sondern sie als Autorin anschreibt. Entlang dieser Ordnung als autoritärem Prinzip entwickelt Adelheid Duvanel ihre Gegenerzählung.

Adelheid Duvanel, von der nun 251 Geschichten vorliegen – manche nur eine Seite lang, andere drei -, sei ein Geheimtipp, habe zu Lebzeiten nicht die Achtung erfahren, die ihr zugestanden hätte, wird in Feuilletons einhellig beklagt. Doch ihre Geschichten sind seit 1980 regelmässig in Zeitungen erschienen, Klaus Siblewski hat dafür gesorgt, dass sie gleich mehrere Bände beim Luchterhand-Verlag unterbringen konnte, es gab Auswahlbände. Wen ich auch frage, alle (zumindest in der Schweiz) kennen ihren Namen. Ignoriert und unbekannt sieht anders aus.

Es bleibt also abzuwarten, wie Samuel Moser es in einem Gespräch auf den Solothurner Literaturtagen sagte, ob sich nächstes Jahr noch jemand an diesen «Geheimtipp» erinnert, wie die Rezeption von Adelheit Duvanels weitergeht, ob es nur ein kurzes Strohfeuer ist. Oder, so Friederike Kretzen im Gespräch mit Stefan Howald: «Die Zeiten sind härter geworden, jetzt kann man auch Duvanel wieder lesen.»

Adelheid Duvanel: Fern von hier. Sämtliche Erzählungen. Herausgegeben von Elsbeth Dangel-Pelloquin unter Mitwirkung von Friederike Kretzen. Limmat Verlag, 2021

Die Galerie Litar zeigt von 29.10.-11.12.2021 die Ausstellung «Adelheid Duvanels Himmel»

Adelheid Duvanel, geboren 1936 in Pratteln und aufgewachsen in Liestal, machte eine Lehre als Textilzeichnerin. Sie arbeitete auf verschiedenen Bürostellen sowie als Journalistin und Schriftstellerin. Von 1962–1981 war sie mit dem Kunstmaler Joseph Duvanel verheiratet, mit dem sie eine Tochter hatte. Bis auf ein Jahr auf Formentera lebte sie in Basel, wo sie 1996 starb. Ihre schriftstellerische Laufbahn begann sie unter dem Pseudonym Judith Januar in den Basler Nachrichten, in Anthologien und literarischen Zeitschriften. Ab 1980 erschienen ihre Erzählbände im Luchterhand Verlag. Duvanel wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Grossen Schillerpreis und dem Kranichsteiner Literaturpreis

«Unabweisbar bleibt die Frage, warum die deutschsprachige Literaturkritik nicht zu Lebzeiten Adelheid Dvanels die Einzigartigkeit dieser Schweizer Erzählerin bemerkt hat.» Peter Hamm

Alice Grünfelder ist geboren im Schwarzwald, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und Chengdu (China), war 1997–99 Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie 2004–2010 die Türkische Bibliothek betreute. Vermittelte und übersetzte Literaturen aus Asien. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Februar bis Juli 2020 war sie für ein Sabbatical in Taibei (Taiwan). Sie ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen, zuletzt Vietnam fürs Handgepäck (2012) und Flügelschlag des Schmetterlings (2009). Sie veröffentlichte eigene Gedichte, Essays und Erzählungen. Ihr Roman Wüstengängerin erschien 2018, der Essay Wird unser MUT langen 2019. Nominiert für den Irseer-Pegasus-Literaturpreis 2019, Werkjahr der Stadt Zürich 2019.

Johanna Berger «sagnichtnichts», Plattform Gegenzauber

sagnichtnichts von und mit Johanna Berger ist ein Gedichtefilm über die Liebe, in dem sich Menschen begegnen, verlieben, lieben, irren, trennen, verpassen, verglühen und wiederfinden. Im Zuge des ALBERTINA-Formats «Allein im Museum» visualisierte sie ausgewählte Gedichte an unterschiedlichen Orten vor und in der ALBERTINA / ALBERTINA MODERN als sich diese noch im Lockdown befand. Das Museum als Ort ist nicht immer sofort zu identifizieren. Denn nicht nur die Ausstellungsräume sind während des Lockdowns verlassen, auch viele MitarbeiterInnen arbeiten im Homeoffice. Das Museum verändert sich und wird zur Kulisse für sagnichtnichts, eine Hommage an die Liebe und die damit verbundenen Verwirrungen.  

Johanna Berger ist freie Schauspielerin und assistiert Aleksandar Acev am Max-Reinhardt-Seminar im Fach Körperliche Gestaltung. In Kooperation mit ALBERTINA (Format «Allein im Museum») visualisierte sie ausgewählte sagnichtnichts-Gedichte, führte Regie und spielte an div. Orten der ALBERTINA unterschiedliche Charaktere. Diesmal vor der Kamera.

Webseite der Autorin

Valentin Moritz «Versatzstücke», Plattform Gegenzauber

Erste Tage

Wohne auf drei Etagen. Ausblick: Weinhang, Altstadt, Burg. Und unten ein Garten – es Gärtli. Anfangs verregnet, aber die Gesichter offen, der Empfang sehr herzlich. Ich: leicht überfordert, dankbar.
Und dann?
Wie psychedelisch die Muster der Fensterläden!
Wie elegant durchdacht die Velowege!
Und wie gsund sie alle sind, die Lütt.
Der Rhy hat Zug, man fragt sich, wieso es das Wasser so eilig hat davonzukommen. Welle um Welle brandet gegen die Kaimauer unterm Kloster Sankt Georgen, dann schnell weiter, ab Richtung Meer. Alles also im Fluss. Die Grenzen: fließend (sprachlich, kulturell). Der Besucherstrom: nicht abreißen wollend. Und das Schreiben? Eh.
Hinterm Ponti sind die schönsten Badestellen.
Auf Tinder ein Match, juhu.
Und abends, bei der Arte-Doku über den chinesischen Kingpin Xi Jinping, wird es mir ganz anders. Das kann ja noch heiter werden!
Und dann wird es heiter.
Und dann fährt ein Herr mit graumeliertem Haar vorbei, im babyblauen Cabrio, und sorgenfaltenfrei die Stirn. Und Horden. Horden von E-Biker:innen! Generalmobilmachung der Generation Gold! Schwarz-Rot-Gold vor allem, aber auch aus aller andern Damen und Herren Länder. Tagsüber. Abends dann dominieren hiesige Männergruppen das Bild. Epiphanie: Tausche Schweizerdeutsch gegen Arabisch, den ungeschwefelten Wein gegen gezuckerten Tee, und bist wie zurückversetzt in deinen Neuköllner Kiez … Einer ruft mir hinterher: Du bisch ä Spezielle! Und ich fühl mich willkommen, irgendwie. Er mag mein Haar, so rot. Ich lasse es von meinem Turm herab. Aber niemand kommt, daran hinaufzuklettern.
Bist du nicht einsam, fragt meine Mutter am Telefon.
I wo! Vor mir haben schon ganz andere Leute – berühmte – hinter diesen Mauern gehaust! Waren die etwa einsam?
Und wenn schon. Muss!
Und überhaupt: Wer hat nicht alles allein einen Turm bewohnt! Rapunzel, C. G. Jung und Donald Trump. Der Hölderlin und Otto Waalkes, Quasimodo und Petrosilius Zwackelmann. Haben die es nicht alle halbwegs weit gebracht?
Ebend.
Erschießt mich, sollte ich mir je aus Einsamkeit einen Hund zulegen!
Lieber bestelle ich ein aufblasbares Kajak.


Wenn der Wels

Jüngste Erkenntnisse zeigen: Kajak ist ein Palindrom. Packsack ein Reim in sich. Und Doppelhubhandpumpe ein schönes Wort, das reizt.
Doppelhubhandpumpe!
Odr?
Und weiter:
Doppelhubhandpumpe.
Doppelhubhandpumpenproduktion.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitung.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildung.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildungsabbrecher.
Doppelhubhandpumpenproduktionsleitungsausbildungsabbrecherin.
Odr!
Am Wasser dann bin ich kurz ganz klein: Der Rhein meiner Kindheit, der zog dich hinab in die Tiefe oder das Treibgut dir über den Schädel, der riss dich mit sich, strudelte dich kreisend und stromabwärts bis Rheinfelden, bis zum Wasserkraftwerk, bis zu dem großen Rechen dort – wo du dich dann verfingst mit den andern Toten, aufgedunsen und bleich vor Schreck … Habe jedenfalls einen Heidenrespekt vor diesem Fluss und seiner Wucht – und dem Wels, dem Riesenwels, der in ihm wohnt und Kinder frisst. Aber ich bin kein Kind mehr.
Odr.
Also Augen zu und durch.
Aber nur mal hypothetisch: Was, wenn der Wels mich doch erwischt (o.ä.), woran wird man sich erinnern?
Was bleibt?
Was blieb etwa von meinen Vorgänger:innen? Woran erinnern sich die Gemäuer des Chretzeturms ganz konkret (auch ohne Wels im Spiel)? Namentlich verewigt hat sich einzig Najem Wali: Dort steht er geschrieben, offenbar mit einem Geldstück eingeritzt ins Dachgebälk – so frech! Ansonsten nur anonyme Überreste: zwei fast leere Tabakpackungen (Marke «Pueblo» deutschen Ursprungs), das Spielzeugauto unterm Schrank (ein «Rough Terrain Truck» made in Britain) sowie eine weiß-blau-graue Socke (Gr. 41/42, mutmaßlich die einer Frau, letztlich aber ungewiss), das war‘s. Was bleibt, sind bloß Versatzstücke, aber immerhin, doch, doch! Den Rest erzählt das Internet.
Für alle, die es handfester mögen – für die Findigen unter meinen Nachfolger:innen hier –, entdecke ich einen Stein, ja, am Rhein, und verstecke ihn im Turm, ja, im Turm.

(Die beiden Texte sein während eines Stipenidat des «Chretzeturms» in Stein am Rhein als Blogbeiträge entstanden)

Valentin Moritz, geboren 1987 und aufgewachsen in Südbaden, studierte Literaturwissenschaft an der FU Berlin. Er veröffentlichte Prosa in Zeitschriften, Anthologien und kleinen Einzelpublikationen, zuletzt «Bahía Salvador» (Sukultur, Berlin). Sein erstes Buch erschien im Mai 2020 unter dem Titel «Kein Held» (Badischer Landwirtschafts-Verlag, Freiburg).

Nur weg, egal wohin! Hauptsache raus aus dem Dorf. Wie so viele junge Leute zieht es Valentin Moritz aus der Enge seiner südbadischen Heimat in die Ferne. Nach Stationen rund um den Globus landet er in Berlin. Neukölln und Niederdossenbach – dazwischen liegen Welten. Der Kontakt zur Heimat – eher sporadisch.
Das ändert sich mit dem 90. Geburtstag von Valentins Großvater Josef Mutter schlagartig: Der Alte möchte die eigene Lebensgeschichte aufschreiben und bittet seinen Enkel um Unterstützung. Und so wird der gemeinsame Blick in die Vergangenheit des Landwirts, der bäuerlichen Großfamilie und des Dorfes auch für den Enkel zum Anlass, sich wieder seiner Herkunft zuzuwenden. Wie sein Großvater begibt sich auch Valentin Moritz auf Spurensuche und zeichnet in eindrücklichen Bildern und authentischer Sprache nach, was seine Kindheit und Jugend auf dem Land ausmachte.
«Kein Held» ist bewegendes Generationenbuch über das, was uns alle prägt – von Anfang an, ob wir wollen oder nicht. Darüber hinaus ist KEIN HELD ein engagiertes Zeitzeugnis gegen Krieg und Faschismus – und für das Erinnern.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sarah Wohler

Katharina Michel-Nüssli «Später vielleicht»

«Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiss es nicht.» Nino kratzt sich am Kopf. Was diese Lehrer sich ausgedacht haben. Neunzig Minuten für einen Aufsatz. Der Anfang ist gegeben. Weltliteratur. Da kann das Eigene nur schlechter werden. Ich bin nicht Camus. Wenn der wüsste, dass sein genialer Anfang für eine Prüfungsnote missbraucht wird. Und nicht einmal in der Originalsprache. «Aujoud’hui, maman est morte. Ou peut-être hier, je ne sais pas.» Das tönt viel tiefgründiger, das hat Atmosphäre, lässt Tragik erahnen. Moll mit Disharmonien. Nebelschwaden. Ach, man wirft Perlen vor die Säue. Wer kennt schon die Grossartigkeit dieser Erzählung. Meine Kollegen haben auf den Hundertstel genau ausgerechnet, welche Note sie brauchen, um nicht provisorisch promoviert zu werden. Sie wissen genau, dass man nur wenige Adjektive verwenden soll. Helvetismen und monotone Satzanfänge sind zu vermeiden. Selbstverständlich soll man keine Rechtschreibfehler machen, die Kommas am richtigen Ort setzen und mindestens zwei Seiten füllen. So hat man die genügende Note auf sicher. Wie hat wohl Camus schreiben gelernt? Einmal im Monat zwei Seiten in neunzig Minuten? Was für ein Witz.

Draussen schwanken die vom Herbststurm geschüttelten Äste des Ahorns vor dramatischen Wolkengebilden. Der Himmel ist so wild und unbezähmbar wie vor Jahrhunderten, am Boden hingegen, der von hier aus nicht zu sehen ist, findet sich kein Stoff für grossartige Geschichten. Mit forschendem Blick versucht Nino, sich die Wirklichkeit der Welt in das Vakuum der wohlaufbereiteten Bildungspläne zu holen. Wäre er ein Waisenkind, dann wüsste er, wie sich Tod und Verlassenheit anfühlen. Er müsste nicht lange überlegen. Insgeheim schämt er sich für seine wohlbehütete Kindheit.

Er beginnt zu schreiben: «Dieser Satz ist wie ein Fremdkörper hier. Fast nie stirbt jemandes Mutter in dieser Schule. Die Gesundheitsversorgung ist hervorragend und teuer. Wir können es uns leisten. Und man wüsste die Todeszeit auf die Minute genau, so wie man das Horoskop dank der exakten Geburtszeit entschlüsseln kann. Ob darin bereits die Sterbestunde festgelegt ist? Das bleibt hoffentlich ein Geheimnis. Es gibt noch die unverhofften Tode. Wer als Kind so etwas erlebt, dessen Chance, an diese Schule aufgenommen zu werden, sinkt gegen Null. Das hat verschiedene Gründe. Zuallererst schafft es kaum jemand, ohne zu pauken die Aufnahmeprüfung zu bestehen. Das braucht gebildete Eltern, Zeit und Geld. Ausser man ist ein Genie. Obendrein ist hier alles so trocken, herzlos und verkopft, dass ein normal fühlender Jugendlicher nur überleben kann, wenn er zu Hause so etwas wie Geborgenheit erlebt. Wenn ich in der Klasse rumschaue, stelle ich fest, dass alle in einem Eigenheim leben, mit Ausnahme unseres Quotenausländers aus Portugal, dessen Sippe einen halben Wohnblock bevölkert – Nestwärme inklusive. Und die Lehrpersonen halten es nur aus, wenn sie eine Schutzschicht aus Staub ansetzen. Was wird aus uns, wenn wir die heiligen Hallen des Wissens verlassen? Wir sind die Elite, wir werden die Welt weiterbringen, das wird uns eingetrichtert. Ihr seid die künftigen Leader. Wir werden Firmenchef, Bundesrat oder Managerin. Heute tragen wir zerlöcherte Jeans, morgen Nadelstreifen und Deux-Pièces. Wir werden etwas erreicht haben in unserem Leben. Wenn wir sterben, wird eine ganze Zeitungsseite mit unseren Todesanzeigen gefüllt, weil wir bedeutende Persönlichkeiten gewesen sein werden. Unsere Biografien jedoch wären seichte Literatur, keine Dramen, nicht wert, aufgeschrieben zu werden. Ich wünsche uns keine Katastrophe, nein, denn sie ist schon da, in Form eines vorgespurten, genormten Lebens. Ich hoffe, diese Schulzeit möglichst unbeschadet zu überstehen, um später – vielleicht – das wahre Leben kennenzulernen.»

Der Sturm hat sich gelegt, leichter Schneeregen hat eingesetzt. Nino überfliegt den Text. In fünf Minuten muss er ihn abgeben, da bleibt keine Zeit mehr, etwas zu ändern. Nach dem Ertönen des Pausensignals rappeln sich die Jugendlichen von ihren Sitzen hoch und schlendern auf die verregnete Terrasse, die durch das Zimmer im vierten Stock zugänglich ist. Niemand scheint den Ausblick über die Dächer der Altstadt zu beachten. Man hofft auf eine gnädige Notengebung, Aufsätze sind Ermessenssache. Und morgen ist Physiktest, da gibt es nur richtig und falsch. Zum Glück darf man das Formelheft brauchen. Noch eine Lektion heute. Es dunkelt schon ein.

Nach Schulschluss zerstreuen sich die jungen Menschen in alle Richtungen. Nino beeilt sich, um den früheren Zug zu erreichen. Er möchte vor dem Handballtraining noch Zeit haben, um etwas zu essen. Beim Bahnhof steht wie immer der Rosenverkäufer. Seine Blumen leuchten wie ein Anachronismus im grauen Novemberabend. «Dieser Mann hatte wohl ein bewegtes Leben», blitzt es Nino durch den Kopf. «Ich sollte ihn nach seiner Geschichte fragen. Später vielleicht. Der Zug fährt gleich.»

In der darauffolgenden Woche wird Nino zum Rektor zitiert. Noch nie ist er dieser Autorität so nah gegenübergetreten. «Nehmen Sie Platz», gebietet dieser. Die Fältchen um die Augen des Schulvorstehers sind dem Schüler bisher nicht aufgefallen. Er ist eindeutig älter als Ninos Vater. Der Rektor räuspert sich. «Junger Mann, entweder sind Sie ein Revoluzzer oder dann einfach nur naiv. Was wollten Sie mit Ihrem Geschreibsel ausdrücken? Mit einer solchen Einstellung sind Sie dieser renommierten Schule nicht würdig.» Die Möbel in diesem Büro haben ihre beste Zeit hinter sich. Sie waren einmal erlesen und teuer gewesen. Nino richtet sich auf seinem Holzstuhl auf. «Ich lebe in einem Land, wo man seine Meinung frei äussern darf. Davon habe ich Gebrauch gemacht. Es ist mir schlicht nichts anderes in den Sinn gekommen, und nach neunzig Minuten musste ich den Aufsatz abgeben.» «Freie Meinungsäusserung in Ehren, mein Lieber, aber Beleidigungen gehen gar nicht. Merken Sie sich das. Sie beleidigen unsere Schule und das Personal. Seien Sie dankbar für diese hochstehende Ausbildung, die Ihnen hier zuteilwird. Ich gehe davon aus, dass dies ein einmaliger Ausrutscher war. Im jugendlichen Leichtsinn kann so etwas passieren.» Nino schluckt leer. Der ältere Herr erhebt sich und weist ihn unmissverständlich zur Tür.

An eine Rückkehr in die Klasse ist im Augenblick nicht zu denken. Nino starrt auf seine abgewetzten Schuhspitzen, die ihn wie von selbst zum Bahnhof hinunter führen. Sinnierend lässt er sich auf einer Wartebank nieder. An der Ecke steht der Blumenverkäufer. Nino zögert. Schliesslich nähert er sich dem Mann und kauft ihm eine Rose ab. Mutter wird sich wundern.

Katharina Michel «Sommersprossen und Kondensstreifen», BoD, illustriert von Lea Frei, 2021, 144 Seiten, Euro 24.99, ISBN 978-3-754-32791-3
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Katharina Michel-Nüssli geboren 1964 im Tösstal lebt im Oberthurgau. Primarlehrerin, Lerntherapeutin, Jobcoach.
«Schreiben war immer etwas Lustvolles, ausser vielleicht bei Diplomarbeiten. Mich inspirieren Natur, Menschen, das Abweichende, die Liebe zum Leben. Schreibkurse bei Ruth Rechsteiner und Michèle Minelli haben mich ermutigt, regelmässig zu schreiben. Biografisches und Kurzgeschichten, Portraits und Poetisches, was eben zeitlich Platz findet. Oft sind es berührende Begegnungen, Stimmungen am See oder im Wald, unvermutete menschliche Abgründe, die Schönheit eines vom Leben gezeichneten Gesichts, Absurditäten des Normalen. Meinen Schreibstil bezeichne ich als verdichtet, manchmal poetisch, oft dazu anregend, zwischen den Zeilen zu lesen.»

Isabella Krainer «Edith», Plattform Gegenzauber

Edith war schon immer ein aufgewecktes Mädchen. Mit zehn entdeckte sie die wunderbare Welt des Scherenschnitts, mit elf beherrschte sie den Lockruf des Tungara-Froschs und im Jahr darauf gab sie vor, Schweizerin zu sein, weil diese verstärkt unter dem prämenstruellen Syndrom zu leiden hätten.

Da ihre Sportlehrerin an Derartiges gewöhnt war, begrüßte sie die Schülerin regelmäßig mit einem sarkastischen „Grüezi“ im Turnsaal. Für Edith ein Grund mehr, beim Völkerball nicht mehr zu kooperieren.

Die Idee, den Sportunterricht gegen wöchentliche Besuche im Altersheim einzutauschen, kam Edith mit dreizehn. Nachdem ihr die betagten Leute zuflüsterten, dass es hier nicht darum gehe, Gefangene zu machen, kam sie zu dem Schluss, nie an einem echteren Ort gewesen zu sein. Was keine Flügel hatte, konnte tatsächlich nicht fliegen. Und was zu stinken hatte, stank.

Als Edith die Alten zum letzten Mal besuchte, um sie danach wieder sich selbst zu überlassen, war die Pubertät amtlich.

Isabella Krainer, geboren 1974 in Kärnten, schreibt & macht, was sie will. Ihre Arbeiten pendeln zwischen Politsprech und Dialektlandschaft. Die Autorin lebt in Neumarkt in der Steiermark. Aktuell arbeitet sie an ihrem ersten Roman. „Heiliger Zorn“ wurde 2021 mit einem Arbeitsstipendium des Landes Kärnten bedacht. «Vom Kaputtgehen», ihr erster Lyrikband, erschien im März 2020 im Limbus-Verlag. 2019 erhielt sie für „Vom Kaputtgehen“ das Finalisierungsstipendium literarischer Projekte des Landes Kärnten. 2016 wurde sie mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium der Stadt Innsbruck ausgezeichnet.

Rezension von «Vom Kaputtgehen» auf literaturblatt.ch

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