Ariane von Graffenried «es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», Laudatio für Nadja Küchenmeister zum Basler Lyrikpreis 2022

Sieben Raben hausen im Glasberg am Ende der Welt. Einst waren die Raben Knaben, doch ein Fluch verwandelte sie in Vögel. Ihre Schwester macht sich auf den Weg, sie zu erlösen. So beginnt das Märchen Die sieben Raben der Brüder Grimm. Die Erlösung hat einen Preis: Das Mädchen muss sich am Eingang des Glasbergs einen Finger abschneiden, denn nur mit einem «Beinchen» lässt er sich öffnen. Erst der Verlust macht die Rückkehr möglich. 

«ohne furcht» macht sich ein Ich in Nadja Küchenmeisters jüngstem Band zum titelgebenden Glasberg auf, «raukt» sich alsbald an den Ort der Herkunft heran, den nordöstlichen Stadtrand Berlins:

ich rauke durch die stadt, entlang des strangs, die bahn
bleibt in der bahn, ich rauke mich heran, ans wuhletal
zwanzig winter weit verdammt, und ich bin wieder da.

Das Gedicht endet mit den verheißungsvollen Worten: «fangen wir an».

Fangen wir an: Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute über die Dichtung von Nadja Küchenmeister zu sprechen. 1981 in Berlin geboren, wächst sie in der damals neu entstandenen Großsiedlung Hellersdorf im Wuhletal auf. Während sich in den 1990er-Jahren in der Innenstadt die Kulturen mischen, bleibt Hellersdorf ein vorwiegend ostdeutscher Bezirk, der zum Inbegriff Berliner Plattenbauarmut wird. «Aus dem einstmals angesehenen Wohngebiet war ein Problembezirk geworden. Wer es sich leisten konnte, zog weg», schreibt Nadja Küchenmeister 2013 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den Ort ihres Aufwachsens. Der soziale Abstieg des Bezirks geht mit Brüchen in ihrer Biografie einher, die für ihr Schreiben prägend werden. Aus den Schichten ihrer Vergangenheit holt sie Bild- und Tonmaterial in die Gegenwart und verwebt dieses zu Gedichten. Lyrisches Erzählen wird zu ihrem poetologischen Verfahren.

Nach dem Gymnasium in Hellersdorf studiert Nadja Küchenmeister Germanistik und Soziologie an der Technischen Universität Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Heute lebt sie in einem anderen Stadtteil Berlins, schreibt Hörspiele für den Rundfunk und lehrt an der Kunsthochschule für Medien in Köln. Drei Lyrikbände sind von ihr erschienen, Alle Lichter (2010), Unter dem Wacholder (2014) und Im Glasberg (2020). In allen drei vergewissert sich ein Ich seines Daseins, indem es sich erinnert: an die Kindheit, an vertraute Orte oder an eine Liebe. Nadja Küchenmeister entwickelt einen einzigartig narrativen Sog. Wir folgen ihren detailgetreuen, luziden Zeilen, und diese Verfolgung fällt leicht, weil die Gedichte, ähnlich dem Märchen, das Geheimnis evozieren, ohne es unnötig zu verrätseln. Und so begleiten wir das Ich auf seinen Gängen durchs Wuhletal oder nach Zinnowitz, den kleinen Ort an der Ostsee, wo die Dichterin als Kind die Sommer verbrachte. Wir kehren mit ihr zurück im Wissen um die Unausweichlichkeit eines Verlustes in Gestalt eines «Beinchens», «rauken» uns heran ans Viertel oder an «das haus im ortsausgang», gehen durch den Hof, vorbei an der Laterne, der Tischtennisplatte oder Hollywoodschaukel.

Nadja Küchenmeister «Im Glasberg», Schönling, 2020

«es beginnt mit einem schlüssel, und es endet ohne tür», lautet ein Vers aus dem Gedicht es beginnt, wo es endet. Wir drehen den Schlüssel zu Nadja Küchenmeisters lyrischem Schaffen und betreten ihre Gedichte wie die Räume eines verwunschenen Sprachhauses. In ihnen stoßen wir auf Landschaften, Gehörtes und Gesprochenes, auf Geschichte, Ahnen und Gesang, auf W.G. Sebald, die Bright Eyes oder Jürgen Becker, auf ein Nebeneinander aus Erinnertem und Sichtbarem. Wir gehen in diese Gedichte hinein, gehen einen dunklen «flur entlang» und fragen uns: «was kommt dann?» Wir glauben dem «flur sein flursein nicht ganz», lassen uns von «halbschuhen beruhigen, höflich / in reihe, abgetragen» und ahnen schon, dass in der klangvollen Abzweigung, die der Vers gleich nehmen wird, eine streng komponierte Idylle ins Gegenteil kippen kann. Wir schreiten durch einen gegenwärtig-vergangenen Echoraum, tasten uns entlang Terzetten, denen die Dichterin vertraut, und hören Schritte, die zu unseren werden. Wir gehen in ihren Stillleben aus Drehsätzen, Klang- und Sprachspielen eigene Wege, treffen auf Assonanzen, stolpern über verstreute Reime, folgen Enjambements oder einem traditionellen Versmaß, das in einen freien Rhythmus übergeht, um uns in einem weiteren Zimmer wiederzufinden, das in weitere historische, philosophische und poetische Hall- und Denkräume führt.

Es ist Nadja Küchenmeisters Methode, in diesen Räumen von ganz konkreten und alltäglichen Dingen zu erzählen: von Wäscheständern und Kommoden, von überbackenen Nudeln, Resopal und Unterhosen, von Fliesen, Herztabletten, Eduscho Kaffee und Blockschokolade. Von der Zuverlässigkeit der Dinge ist in der abendländischen Tradition des Denkens immer wieder die Rede. Denn in den Dingen lässt sich die Geschichte sehen. Im Gedicht rauperich heißt es: «wer aufräumt, der begegnet sich, wie ungünstig». Das Ich und das Du spiegeln sich in vielen von Nadja Küchenmeisters Gedichten nur noch in den Dingen. Oder, wie die Dichterin selbst es einmal beschrieb: «Ich bin in allem, was mich umgibt, enthalten, sofern ich es in mich aufgenommen habe, und manchmal will es mir sogar scheinen, als erinnerten sich die Dinge auch an mich, als bedeuteten sie mir in ihrer unverrückbaren Existenz, dass sie bleiben, wie sie waren, damit auch ich ein wenig so bleiben darf, wie ich war.»

Doch nicht nur das Ich konstituiert sich in den Dingen. Sie erzählen auch von einem fehlenden Du, von der Anwesenheit in Abwesenheit, etwa beim Betreten eines plötzlich verlassenen Elternhauses:

[…] an der garderobe
hängt dein schwacher abdruck, mantel, ärmel
ohne muskeln, ohne geschichte kann ich nicht

nach hause gehen: ich zähle deine hemden, socken
unterhosen, entwirre die kabel unter dem tisch, schwarze
wurzeln, die keinen anfang und kein ende haben.

Der Versuch, die Herkunft zu ergründen, führt ins Uferlose. Oder in die Dunkelheit der Geschichte. Die Dichterin weiß, dass man dem Erinnern nicht immer trauen kann. «ich erinnere mich ans erinnern, noch mehr erinnere ich mich an nichts», heißt es unsentimental in einem ihrer Liebesgedichte. Nadja Küchenmeisters Poesie des Erinnerns ist gleichzeitig immer eine Reflexion darüber. Sie macht deutlich, dass die Frage, was war, und die, wie es war, keine rein persönliche ist. In einem Gedicht des Zyklus der tod im traum liegt das Ich im Gras, es ist ein Du geworden. Die Hunde jaulen wie Wölfe, und die längst vergessene Schlagerzeile «heißer sand und ein verlorenes land» klingt zaghaft aus dem Radio:

dann trittst du noch einmal über die schwelle … und deine ahnen
heckenschützen unterm lampenbogen, reichen schüsseln und servietten.
ein hauch von lippenstift am glas. sie sprechen heiser, sprechen durchs
papier: verschweigen manches und erinnern nichts, das war ja klar.

Die Bruchlinien, auf die wir in diesen Chroniken des gewöhnlichen Augenblicks stoßen, zeigen, wie sich ein Ich in der Wirklichkeit, in einer historischen Begebenheit, einer sozialen Lage oder einem Schmerz verliert. Das macht diese Lyrik so eindringlich, zeitlos und gegenwärtig.


Wir übergeben diesen Preis an Nadja Küchenmeister für ihre virtuose sprachliche Beobachtungsgabe, für ihr großes und ebenso kritisches Vertrauen in literarische Traditionen, für ihr Gespür für Musikalität, mit dem sie die vertraute Welt der Dinge in den Vordergrund rückt. Im scheinbar Nebensächlichen und Bekannten lauert immer auch das Fremde und Abgründige, dem die Dichterin durch meisterhafte Konkretion begegnet. Wir fühlen den Schlüssel zu ihrem Sprachhaus in unseren Taschen und danken ihr dafür.

Herzliche Gratulation, liebe Nadja Küchenmeister!

Ariane von Graffenried

Beitragsbild © Dirk Skiba