Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt #SchweizerBuchpreis 23/05

Vielleicht müsste man das Buch mit einem roten Kleber markieren, der vor Risiken und Nebenwirkungen warnt. Abgesehen davon, dass ein solcher Kleber die Verkaufszahlen eines solchen Buches mit Sicherheit positiv beeinflussen würde. Wer mit dem Buch eine Lektüre in die Nacht beginnt, muss riskieren, dass einem das Buch bis in die Träume begleitet.

Wer es am Strand liest, wird nicht sicher sein, ob es die Sonne oder die Lektüre ist, die einem den Kopf verdreht. Wer sich Spannung, eine Story verspricht, wird sich mehr als nur wundern, denn Matthias Zschokke ist wohl gewiefter Geschichtenerzähler, dessen Geschichten sich aber aller Voraussehbarkeit entziehen. Matthias Zschokke nimmt mich mit in seine leicht entrückte Welt, ein in Schieflage geratenes Kleinstuniversum.

Ein Mann in mittleren Alter wird in seinem Büro von der Polizei aufgesucht, die ihm mitteilt, dass sein kleiner Sohn von einem Lastwagen totgefahren wurde. Der Mann verlässt das Büro und torkelt durch die Stadt, torkelt durch sein Leben, das nicht erst mit dem Tod seines Sohnes aus dem Tritt gekommen ist. Peter, den man seit seiner Kindheit Saint-Blaise nennt, ist verheiratet. Aber das Leben mit seiner Frau ist zu einem funktionierenden Nebeneinander geworden. Keiner interessiert sich für das Leben des anderen. Peter fühlt sich in seinem Büro einer Verwaltung zusammen mit seinem Büropartner Prosciutto mehr geborgen, als im Ehebett zusammen mit seiner Frau. 

Eines Tages beauftragt man ihn gegen seinen Willen mit der Organisation kleinerer Feierlichkeiten zu einem Jubiläum mit einer französischen Partnerstadt. Auf dem Weg zurück nach Berlin, mit dem Zug nach Basel, wo er ins Flugzeug wechseln soll, vertraut ihm eine Fremde ihren kleinen Sohn an, wohl gerade so alt wie sein tödlich verunfallter Sohn, mit der Bitte diesen nach Basel zu seinem Onkel zu begleiten. Ein kleiner Junge mit oranger Schwimmweste und bleischwerem Skisack. Überrumpelt nimmt sich der Mann dem Jungen an, obwohl der die nervöse Mutter warnt, er habe keine Lust, den Jungen zu unterhalten. Sie unterhalten sich dann aber doch, stockend, wirr, als würde der graue Peter mit letzter Kraft der sein wollen, der er in seiner Familie als Vater nie war; ein Verbündeter, ein Freund, ein Gefährte.

Matthias Zschokke «Der graue Peter», Rotpunkt, 2023, 176 Seiten, CHF28.00, ISBN 978-3-85869-977-0

Irgendwann erzählt ihm der Junge von einer Tante Anne in Mulhouse, was den Mann veranlasst, dort eine Pause einzulegen und der Tante einen Besuch abzustatten. Sie deponieren das schwere Gepäck des Jungen in einem Kiosk, trinken heisse Schokolade in einem Café und sind, weil die eisernen Jalousien des Kiosk ganz überraschend geschlossen sind, gezwungen, in Mulhouse ein Hotel zu suchen. Was sich in dem Zimmer zwischen dem Mann und dem Jungen abspielt, ist eine Mischung aus verschrobenen Kindereien und unverständlichen Verrücktheiten. So wie sich Mattias Zschokke mit keinem seiner Bücher um Konventionen schert, so sehr weigert sich der Protagonist, „gesunden Menschenverstand“ walten zu lassen. Nichts an Zschokkes Roman folgt allgemeingültiger Logik. Zschokke, den man auf Fotos mit Nadelstreifenanzug und Taschenuhr fotografiert sieht, der wie sein Protagonist wohl nie ein Smartphone mit sich herumtragen würde und an der Rezeption jenes Hotels die Rezeptionistin fragen muss, ob er kurz seine Frau verständigen könne, es werde etwas später, ist nicht an der Art des Geschichtenerzählens interessiert, die sich mir als Leser anbiedert. Zschokke erzählt seine Bilder, seine Kleinstgeschichten, leicht verrückt, aber dafür gemalt, als wären sie kubistisch erzählt.

Es braucht mehr als die Suche nach Unterhaltung, will man den Büchern Matthias Zschokkes gerecht werden. „Der graue Peter“ entzieht sich aller Strömungen, aller Vorsicht. Die Lektüre seines Romans wird zu einer Achterbahnfahrt im Nebel. Zschokkes Literatur ist ein Monolith in der immer seichter werdenden Masse.

Interview

Ihr Buch ist ein besonderes Buch, so wie alle Ihre Bücher besondere sind. Zum einen scheinen sie nicht in die aktuellen Themen zu passen, entziehen sich all den Strömungen, denen sich viele Bücher anbiedern. Ihr Schreiben ist solitär, einzigartig. Zum andern sind die Handlungen Ihrer Bücher so gar nicht voraussehbar, bewegen sich weit weg von Klischees. Das muss man als Lesende aushalten können. Erstaunlicherweise akzeptiert man das in der Musik, der Malerei oder Bildhauerei. Man muss nicht verstehen. Und ausgerechnet in der Literatur soll alles erklärbar, logisch, rational, durchsichtig sein. Das verstehe ich nicht. Aber vielleicht hat das damit zu tun, dass der gegenwärtige Mensch das Nicht- und Unerklärbare gar nicht mehr aushält. Die Medien sind voll von Erklärern. Und die meisten widern mich an.

Sie sind lustig! Für mein Empfinden plansche ich permanent mitten drin. Vielleicht schwimme ich gegen die Themen an oder quer zu den Strömungen, aber ich fühle mich jederzeit bis in die letzte Pore getränkt von ihnen. 
Zum Beispiel erwähne ich auf einer der ersten Seiten in zwei Nebensätzen, Peter habe als Kind fürs Leben gern auf Baustellen gespielt. Das schönste sei für ihn gewesen, von Lastwagenfahrern hochgehoben, auf den Beifahrersitz gesetzt und mitgenommen zu werden, wenn frischer Teer oder Zement geholt werden musste. Der in der Gegenwart verpeilte Leser vermutet darin reflexartig einen Hinweis auf Missbrauch. Der LKW-Fahrer gehört seiner Meinung nach angezeigt, dem Kind wird drastisch auseinandergesetzt, was alles hätte passieren können. Es zieht sich verängstigt in sein Zimmer zurück, setzt sich vor seinen Computer und spielt mit Kopfhörern über den Ohren Onlinegames – das ist mir alles selbstverständlich bewusst, und während ich das sage, fällt mir siedendheiss ein, dass das vielleicht inzwischen Kopfhörerinnen heissen muss. So bestimmt die Gegenwart permanent mein Denken und beeinflusst das, was ich aufschreibe, bis ins letzte Komma.
Oder das Beispiel, das Sie erwähnen: Im ersten Satz erfährt Peter, dass sein Kind überfahren worden ist. Jede Woche mindestens einmal wird in Deutschland am Fernsehen ein Krimi gezeigt. Da wird innerhalb der ersten Minute mindestens eine Leiche präsentiert – das ist die Vorgabe der Redaktionen –, von der aus sich dann der Fall entwickelt. Jahrelang sah man abends also eine Haustür, an der zwei Polizisten klingelten. Die Tür wurde von einer Frau oder einem Mann geöffnet. Ihr oder ihm wurde mitgeteilt, dass der Partner oder das Kind oder die Mutter oder sonst jemand Vertrautes überfahren oder erstochen oder ertränkt worden sei. Daraufhin bemühte sich der Mann oder die Frau, sich auf besonders expressive Weise erschüttert zu zeigen. Diese Art von Erschütterung wurde früher an den Schauspielschulen „ein Ausbruch“ genannt. Bei Aufnahmeprüfungen musste man „einen Ausbruch“ improvisieren: „Stellen Sie sich vor, Ihre Geliebte wurde eben vor Ihren Augen erstochen. Los!“
Ich meine, mein Protagonist reagiere so nah an sich wie nur möglich. Er bemüht sich, von seinen Empfindungen nur die zuzulassen, die er beim besten Willen nicht verstecken kann. Weil wir Normalsterblichen schliesslich nicht ans grosse Drama gewöhnt sind. Wir haben gelernt, so was tut man nicht; man beherrscht sich.
Das erkläre ich selbstverständlich nicht im Buch, denn das weiss der Held ja nicht von sich. Er hat es in seinen Genen.

Peter erträgt Mitmenschen nur schwer.  Seine Frau ist die einzige, die er neben sich erträgt.  Selbst seine Eltern waren dem „grauen Peter“ fremd geblieben. Sie leben seit Jahrzehnten in Berlin. Muss es eine grosse Stadt sein, um darin verschwinden zu können? Um sich vor den Menschen zu schützen?

Ich kenne nur wenige, die die Frage vorbehaltlos bejahen würden. Es ist kaum ein Zufall, dass sich immer mehr von uns in den virtuellen Raum zurückziehen. Menschen reagieren unberechenbar. Das ist auf die Dauer ermüdend. Im Internet wird man nicht dauernd unterbrochen. Das ist leichter auszuhalten. Berlin ist besonders gut geeignet dafür, niemandem zu begegnen, da haben Sie recht. Die Distanzen sind hier gross. Wenn ich jemanden treffen möchte, den ich kenne, muss ich lange Wege auf mich nehmen und viel Zeit investieren. Selbst auf der Strasse sind die Distanzen zueinander sehr viel grösser als gewöhnlich. Wenn man jemandem begegnet, muss keiner ausweichen. Man geht mit zwei Metern Abstand aneinander vorbei. Das ist angenehm. Ein wenig traurig vielleicht, aber angenehm.

Zéphyr, der Junge, der von seiner verzweifelten Mutter im Zug in die Obhut von Peter gerät, trägt eine orange Schwimmweste und schleppt einen bleischweren Skisack mit sich herum. Ist Zéphyr Peters Spiegelbild?

Die Schwimmweste wie auch das Gewicht des Skisacks sind beide erklärt. Die Mutter des Jungen hat in den Medien von einem Fluss gelesen, der über die Ufer trat, und möchte ihr Kind vor dem Ertrinken schützen. Und sie las von Winterorkanen in den Alpen und bittet den Jungen, Bleigewichte in die Taschen zu stecken, bevor er auf die Piste geht. Ob diese beiden Informationen zusätzlich symbolische Bedeutung haben, weiss ich nicht. Ich meine, auch das ist die Gegenwart, die mitschreibt: Ich empfinde eine permanente Überfürsorge, eine Begluckung, die mir zunehmend die Luft abklemmt.

Auf aktuellen Fotos sieht man Sie mit dunklem Nadelstreifenanzug und Uhrenkette. Nicht nur ihres Aussehen wegen, denke ich oft an Robert Walser. Auch er war ein Unikat, ein Monolith. Ihre Romane scheren sich nicht um Stringenz, Plott und Spannung. Es ist das Bild des Ganzen, der Pinselstrich. Es ist die Sprache. Es sind die Fragen, die ich mir während des Lesens stelle, Fragen, die sich manchmal weit weg vom Geschehen in ihrem Roman aufzwängen. Wieviel Walserisches steckt in Ihnen?

Der Anzug hat eine Geschichte. Die ist zu lang zum Erzählen. Ich habe ihn geschenkt bekommen. Und fand, je öfter ich ihn trug, desto mehr, ein dreiteiliger Anzug sei ein perfektes Kleidungsstück, durch Jahrhunderte verfeinert, durchdacht. Mit den richtigen Taschen an den richtigen Stellen, mit der Möglichkeit, ein Teil davon auszuziehen, wenn’s zu warm wird, und umgekehrt. Ich muss fast nichts mehr einpacken, wenn ich zwei, drei Tage irgendwo hinfahre. Alles hat Platz in ihm. Es ist eine ideale Berufskleidung (fotografiert werden gehört zur Arbeit; privat mag ich mich nicht fotografieren lassen). Wenn man heimkommt, kann man ihn ausziehen und an die frische Luft hängen. Nach zwei Tagen ist er wieder wie neu. Ein grossartiges Kostüm. Privat ziehe ich ihn selten an. Da brauche ich nicht so viele Taschen.

Zur Taschenuhr: Von Armbanduhren habe ich am Handgelenk in meiner Jugend einen Ausschlag bekommen. Und ich schlug oft mit ihnen an Gegenstände und fühlte mich eingeschränkt in der Bewegung. Darum habe ich früh angefangen, Taschenuhren zu tragen. Und ich mag das Aufziehen.
Zu Robert Walser: Jeder von uns ist ein Unikat. Die meisten schleifen an sich herum, um weniger anzuecken und leichter durchs Leben zu kommen. Walser war darin wohl besonders unbegabt und musste es aushalten, ein Monolith zu sein. Ich hoffe, es steckt nicht allzu viel von ihm in mir drin. Es war bestimmt anstrengend, er zu sein.

Ihre ersten Romane erschienen bei List und Luchterhand, grossen Verlagen, später bei Ammann, dem damals renommiertesten Verlag in der Schweiz. Als Amman von der Bildfläche verschwand, war es Wallstein. Nun Rotpunkt. War Wallstein Ihr Buch zu heftig, zu risikoreich?

Keine Ahnung. In Deutschland ist die Stimmung zurzeit extrem angespannt. Jedermann und jedefrau reagiert auf alles überempfindlich. Man ist panisch darum bemüht, sich nach den Vorgaben des Justemilieu auszudrücken und bloss nicht aus Versehen zu sagen, heute sei ein besonders kalter Tag (wegen der Klimaerwärmung gibt es nur besonders warme Tage) oder die Nato habe … oder Corona …
Mag sein, es ist eine Gratwanderung, was ich im Buch mache. Da Deutschland nicht viele hohe Berge mit Grat hat, scheut man hier vielleicht mehr zurück vor solchen Wanderungen als in der Schweiz?

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn». Aktuell läuft Matthias Zschokkes neustes Werk als Filmemacher; Z-S-C-H-O-K-K-E

Illustrationen © leafrei.ch

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/04

Lieber Bär

Ein Schriftsteller schrieb mir, die Liste der Nominierten zum Schweizer Buchpreis 2023 würde BuchhändlerInnen wohl keine Freude machen. Keine Bestseller, keine grossen Namen, die in aller Munde sind, so wie Martin Suter oder Lukas Bärfuss. Das kann ich nur schwer beurteilen, da ich mich derart tief in der Szene bewege, dass ich längst nicht mehr beurteilen kann, wer es in den Mainstream schafft, was zum Verkaufshit wird. Du hast den norwegischen Grossmeister Jon Fosse erwähnt. Jon Fosse ist ein Fixstern am Literaturhimmel und trotzdem kennt ihn fast niemand, zumindest hierzulande. Sicher findet man seine Bücher kaum in einem Bookshop am Flughafen oder in den Regalen mit den Bestsellern. Aber Verkaufszahlen sind kein Qualitätsmerkmal.

Keine Ahnung ob Lukas Bärfuss oder Martin Suter enttäuscht darüber sind, dass sie nicht auf der Liste der Nominierten zu finden sind. Ich kenne sehr wohl SchriftstellerInnen, die einen schwelenden Schmerz mit sich herumtragen, dass sie noch nie auf dieser Liste erschienen. Aber vielleicht ist das gar nicht die Intension einer Jury, die im Auftrag des Schweizer Buchhandels und Verlagsverbands nach dem „besten Buch“ sucht. Dafür gibt es ganz andere Preise, deren PreisträgerInnenlisten viel schwergewichtiger sind, als die des noch jungen Schweizer Buchpreises.

Aber, um auf die nominierten Bücher zurückzukommen, da ist doch kein Buch auf der Liste der Nominierten, über das man die Stirne runzeln oder gar den Kopf schütteln müsste. „Sich lichtende Nebel“ ist ein philosophisch durchsetztes Sprachkunstwerk, „Mr. Goebbels Jazzband“ ein Sprache gewordenes Musikabenteuer, „Bild ohne Mädchen“ ein tiefgründiger Tauchgang in menschliche Abgründe, „Glitsch“ ein waghalsiges Experiment zwischen Alptraum und fellinischer Fantasie und „Der graue Peter“ eine Sprachperle mit dunklem Glanz.

Du arbeitest an einem Tag in der Woche in einer Buchhandlung. Ist der Schweizer Buchpreis ein laues Lüftchen oder wie stark bläst der Wind? Auch wenn Du in die nähere Vergangenheit schaust.

Liebgruss
Gallus

Schweizer-Buchpreis-Rezension von «Der graue Peter» von Matthias Zschokke erscheint am 24. September!

Lieber Gallus

Ich arbeite in einer kleinen Buchhandlung, und mein Bärenfell wird durch die Nominierten zum Schweizer Buchpreis nicht durcheinandergewirbelt. Der Wind weht aus Erfahrung der letzten Jahre eher lau. Immerhin erwarte ich dieses Jahr eine stärkere Brise, da mich alle fünf Nominierten ansprechen und ich alle fünf Bücher lesen werde (vier davon bereits mit Genuss!). 2022 war die Situation anders, weniger harmonisch.

Sofort mitnehmend und sehr berührend war für mich aktuell «Der graue Peter» von Matthias Zschokke, dies nach der Lektüre von Jon Fosse «Der andere Name», was sich erstaunlich gut angefügt hat. Die Erzählung der Erlebnisse des Mannes  mit dem fehlenden Empfindungschromosom hat in mir tiefe Emotionen und nachhaltige Gedanken ausgelöst. Ein Stern, der auch stark leuchtet am Literaturhimmel. 

Ganz anders «Glitsch» von Adam Schwarz, einem mir bisher unbekannten Erzähltalent. Wenn der Protagonist auf der Suche nach seiner Freundin immer tiefer in das arktische Kreuzfahrtsschiff hinuntersteigt, erleben wir eine hochspannende, tiefgründige Liebesgeschichte und die irrwitzige Absurdität einer Schifffahrtgemeinschaft in einer wunderbar frischen Sprache.

2022 hat Kim de l`Horizon mit seinem Blutbuch mich durch Lektüre und dann die Auszeichnung stark durchgeschüttelt. Ist der Doppelpreis in Anbetracht der anderen, auch nicht nominierten Bücher gerechtfertigt? Auch bei uns wurde das Buch gut verkauft. Von den übrigen Nominierten konnte nur Thomas Hürlimann diesem Preisträger bezüglich Verkauf die Stange halten. Damals wie heute werfen Preise für mich Fragen auf: Welche Bücher sind lesenswert? Was zeichnet gute Literatur aus? Welche AutorInnen sprechen mich an? Welche kann ich wem empfehlen? Eine kleine Buchhandlung braucht natürlich auch Bestseller, um überleben zu können. Neben dem Inhalt sind auch die Ausstattung und besonders das Cover meines Erachtens für den Verkauf wichtig. Das haptische Moment spielt gerade bei den Büchern eine grosse Rolle. 

Trotzdem finden literarisch wertvolle Bücher oft keinen Weg zu einer Leserin, einem Leser. Auch Lyrik ist bezüglich Verkauf bei uns ein Stiefkind. Hat es schon einmal einen Schweizer Buchpreis für einen Gedichtsband gegeben? Immerhin waren bei der Preisträgerin Martina Clavadetscher die «Knochenlieder» dabei.

Die Orientierung unter den unzähligen Neuerscheinungen ist für mich als Senior-Bär im Buchladen ebenso schwierig wie Honig zu finden im Winter. Ich liebe «leise» Autorinnen und Autoren, beispielsweise aus der Schweiz: Lukas Maisel, Anna Ospelt, Leta Semadeni und Urs Faes, um nur einige wenige zu nennen. Bei der Wahl hilft mir dein wunderbar gestaltetes und inhaltlich unschlagbares »literaturblatt» neben den Literaturartikeln in den Medien. Entscheidend sind auch immer wieder persönliche Begegnungen anlässlich von Lesungen und Literaturfestivals.

NB: Neben der Schweizer Literatur interessieren mich seit Jahren Autorinnen und Autoren aus dem Osten, beispielsweise aus der Ukraine, aus Russland, Bulgarien und Rumänien. Darüber vielleicht ein andermal.

Liebe Grüsse

Bär 

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Die erste Einsendungen, die mit einer Mail oder über «Kontakt» einen Kommentar (mit Erlaubnis, diesen zu veröffentlichen!) zu «Der graue Peter» von Matthias Zschokke einsendet, bekommt von mir ein signiertes Exemplar des Romans per Post zugesandt. Allerdings brauche ich dafür eine Postanschrift!
Gallus Frei

 

«Die Jungfrau» – über eine lebenslange Freundschaft zweier ungleicher Frauen

eine Lesung in der Buchhandlung Bodan

Wer sich zu feiner, kleinräumiger aber nie beengter, emotionaler aber nie rührseliger Literatur hingezogen fühlt, liebt die Bücher von Monika Helfer. Die Intensität ihrer Literatur wird nicht nur sichtbar an der Menge und Qualität ihrer Auszeichnungen, sondern daran, dass Monika Helfer seit mehr als einem halben Jahrhundert Bücher veröffentlicht, Bücher, die im Laufe der Zeit immer mehr Aufmerksamkeit gewannen und Monika Helfer zu einem oft eingeladenen Gast an Veranstaltungen erst recht mit ihrer Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ machte.

Monika Helfer lebt zusammen mit ihrem Mann Michael Köhlmeier im vorarlbergischen Hohenems eine symbiotische Lebens- und Schreibgemeinschaft in einem mit Efeu bewachsenen Haus, in dem alles der Familie, den Erinnerungen und dem Schreiben gewidmet ist. Monika Helfer und Michael Köhlmeier, beide beim gleichen Verlag, werden auch vom gleichen Lektor betreut, leben dort das Leben von zwei von Sprache Beseelten.

Monika Helfers neuer, eben erschienener Roman „Die Jungfrau“ ist erneut ein Buch, das ganz tief mit dem Leben der Autorin verwoben ist, so wie die letzten drei Romane, so wie wahrscheinlich alle ihre Roman. Und doch setzt sich „Die Jungfrau“ von der vorangegangenen Trilogie ab. Nicht thematisch, aber in der Art des Erzählens.
Zum einen macht Monika Helfer im Roman immer wieder Schritte hinaus und hinein. Da sind die Momente, wo sich die Autorin über den Prozess des Schreibens äussert, Stellen, in denen sich die Perspektive verändert, zum andern blitzen Dialoge mit ihrem Mann Michael auf, Auseinandersetzungen, die bezeugen, dass die Auseinandersetzung über das Schreiben, ob mit sich selbst oder dem Lebenspartner, sehr emotional werden kann. Stellen, die dem Buch einen speziellen, beinahe dokumentarischen Einschlag geben.

Zentral in diesem Buch ist aber die Geschichte einer Freundschaft, der Freundschaft zwischen Moni und Gloria. Sie beide wachsen im Vorarlbergischen auf, Monika in einem kleinbürgerlichen Haushalt, in einer von Arbeit und Strebsamkeit geprägten Familie, Gloria in einer Villa zusammen mit ihrer Mutter, einer Frau, die sich mit aller Selbstverständlichkeit in ihrem Luxus bewegt, auch wenn die beiden in diesem grossen Hauses nur drei Zimmer mit Leben füllten.
Die Freundschaft zwischen Moni und Gloria ist geprägt von maximaler Nähe und Distanz. So wie Moni schon bald spürt, dass sie Schriftstellerin werden will, soll das Leben ihrer Freundin ein glamouröses werden, programmatisch für ihren Namen. Gloria will die Welt als Schauspielerin erobern. Das Zeug dazu hat sie, auch wenn ihr Leben immer wieder in Abgründe abtaucht.

An Monikas 70, Geburtstag erhält Moni einen Brief von Gloria, nicht selbst geschrieben, aber eine deutliche Aufforderung, sie doch bitte zu besuchen, bevor sie sterbe.

Ich danke der Autorin für die Offenheit auch über die Lesung hinaus, dem Team der Bodan-Buchhandlung in Kreuzlingen für die gelungene Organisiation und kulinarischen Beigaben und Claudia Ruckstuhl für die Ermöglichung einer solchen Begegnung.

Rezension zu «Die Jungfrau» auf literaturblatt.ch

Myriam Wahli „Ohne Komma“, die brotsuppe

„Ohne Komma“, das erste Buch von Myriam Wahli, das auf Deutsch erhältlich ist, ist ein ganz und gar eigenwilliges Buch. Zum einen die erzählende Perspektive aus der Sicht eines Kindes, zum andern formale Eigenheiten, die nahelegen, dass es der jungen Dichterin um viel mehr geht, als zu erzählen.

Ein Mädchen erzählt von seinem Zuhause, der Familie, dem Dorf, der näheren Umgebung, den Menschen in diesem Dorf, von der Kirche, der Schule. Glaubhaft und nachvollziehbar aus der Sicht eines Kindes zu erzählen, gelingt nicht oft. Es bedarf einer Sprache, die nachempfinden lässt, was in der noch so unverbrauchten, empfänglichen Wahrnehmung eines Kindes geschieht, um mich als Leser nicht abzuschrecken. Dazu gehört keine kindliche Sprache. Myriam Wahli wertet die Wahrnehmungen ihrer Protagonistin nicht. Keine Interpretationen, keine weitschweifenden Assoziationen, die bei Erwachsenen automatisch zu Filtern werden.

Da erzählt ein Kind von seiner noch kleinen, mitunter sehr engen Welt. Manchmal hatte ich als Leser das Gefühl, jene archaische Welt rücke in einzelnen Bildern tief in Vergangenheiten, weit weg von dem, was das Alter der Autorin vermuten lässt. Aber jenes Dorf, in dem das Leben und immer gleiche Traditionen einem gleichförmigen Takt unterworfen sind, bestimmt auch den Takt des Erzählens. Das Mädchen erzählt von den Schichten, die sich auf alles legen, was die Welt des kleinen Mädchens ausmacht. Nur ganz selten gelingt es Menschen, Momenten und Augenblicken, sich aus diesen Schichten herauszuschälen. Diese Schichten sind keine warmen Decken, sondern ein klebriges Meer aus Unerklärtem, Unverstandenem, Fremden.

Myriam Wahli «Ohne Komma», die Brotsuppe, 2023, aus dem Französischen von Yves Raeber, 72 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-03867-083-4

Nicht dass sich die Welt des Mädchens gegen sie wendet. Aber niemand bemüht sich, dem Mädchen die Welt zu erklären. Die Erwachsenen sind Fremde, selbst Mutter und Vater, die beide fest in ihrer Arbeitswelt eingespannt sind.
Mit jedem Satz zeichnet das Mädchen die Färbungen und Schatten dieser Schichten. So ist auch jeder Satz ohne Komma durch einen Abschnitt vom vorangegangenen abgesetzt, jeder Satz ein AugenBlick. Das Kind spürt, dass sie es ist, die den Zugang zur Welt der Erwachsenen suchen und finden muss, in eine Welt, in der die Erwachsenen Wörter auf die Dinge legen. Die Erwachsenen haben eine Kommode im Kopf, ein sperriges Ding mit unsäglich vielen Schubladen, wo mit Aufklebern festgehalten ist, was sich darin befinden soll. Wer sich nicht dem Rhythmus, den Traditionen und Regeln des Dorfes und der Kirche unterwirft, bricht den „Schichtenvertag“. Alles muss seine Ordnung haben.

Einzig die Alten scheinen dem Leben das Zugeständnis abgerungen zu haben, sich nicht mehr gänzlich einfügen zu müssen. Zum Beispiel Rossé, der Alte mit Lockenmähne und grauem Bart und den Bienenvölkern, von denen er erzählt.

Beeindruckend ist die verknappte Sprache. Obwohl einzelne Sätze lang sind, hat ihre Sprache nichts Ausuferndes. Es sind Sätze voller Klarheit, voller Schönheit.  Jeder Satz eine Miniatur, die durch kein Komma unterbrochen werden will. Myriam Wahli bringt eine Leichtigkeit in ihr Erzählen, die die harten Konturen der Wirklichkeit mit dem kindlichen Sehen aufweicht. „Ohne Komma“ ist ein Sprachkunstwerk.

Myriam Wahli wurde 1989 in einem Industriegebiet im Berner Jura geboren. Sie zeigt Filme in Bergdörfern, studiert die Kunst des Shiatsu, betreibt wildes Gärtnern, umarmt Bäume und versucht hartnäckig, ihr Leben zu einer geraden Linie zu machen, die am Ende immer in eine Kurve mündet. 2018 wurde sie mit dem Stipendium von Fell-Doriot ausgezeichnet.

Yves Raeber ist Schauspieler, Regisseur und Übersetzer von Theaterstücken und Prosa. 2017 hat ihm die Fachstelle Kultur des Kantons Zürich für seine Arbeit am Roman «Ruhe sanft» einen Werkbeitrag für Literarisches Übersetzen zugesprochen. 2019 erhielt er von der Stadt Zürich eine literarische Auszeichnung.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Tonatiuh Ambrosetti

Linus Reichlin «Der Hund, der nur Englisch sprach», Galiani

Linus Reichlin bewegt sich in seinen Romanen entweder ganz und gar in der Wirklichkeit oder wie in seinem neusten Buch in den Zonen knapp darüber  – oder darunter. „Der Hund, der nur Englisch sprach“ ist eine durchaus ernst gemeinte Konfrontation mit einer traumatischen Wirklichkeit.

Meinen Ausführungen zum neuen Roman von Linus Reichlin vorausschicken muss ich, dass ich weder Hunde noch Katzen die meinigen heisse und auch nie die Absicht hegte, mir ein solches Haustier anzuschaffen. Meine Vorbehalte Haustieren gegenüber, die befugt sind, eine Wohnung zu ihrem Lebensraum zu machen, wirken sich auch in meinem Leseverhalten aus. Hunde- und Katzenbücher schaffen es normalerweise nicht in meine Wohnung, schon gar nicht in die Beige jener Bücher, die ich mir fix zur Lektüre ausgesucht habe. Aber weil „Der Hund, der nur Englisch sprach“ von Linus Reichlin geschrieben wurde, gestand ich ihm 50 Seiten zu  – und blieb dann an der Lektüre hängen.

Eine meiner Tanten hatte die Angewohnheit, mit ihrem Dackel, den sie nach jedem Ableben durch einen neuen ersetzte und ihm den immer gleichen Namen gab, zu sprechen, als wäre er ein Kind. Und wenn ich zu Besuch war und sie zu diesem kurzbeinigen Tier sagte „Komm zu Mama“, konnte meine Aversion leichte Übelkeit hervorrufen. Glücklicherweise hat keiner der Dackel geantwortet. Ganz im Gegenteil der Hund in Linus Reichlins Roman.

Linus Reichlin «Der Hund, der nur Englisch sprach», Galiani, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-86971-285-7

Felix Sell hat sich mässig in seinem Leben eingerichtet. Und weil es an der Zeit ist, einen neuen Akzent zu setzen, beginnt er erst einmal bei einem Regal in seiner Wohnung. Ganz überraschend findet er dabei in den Tiefen seiner Plattensammlung einen vergessenen LSD-Tripp, den er auch gleich einwirft. Und kaum beginnt das Zeug zu wirken, kratzt es an der Tür zu seiner Wohnung. Und weil das Kratzen nicht aufhört, öffnet er, meint erst, einer Halluzination zum Opfer gefallen zu sein, bis neben seinen Beinen ein Hund in seine Wohnung schlüpft mit der Aufforderung „I’m all dry. Get me some water.“ Erst sucht Felix nach dem Besitzer der Stimme, bis sich unzweifelhaft die Gewissheit herausschält, dass es der Hund ist, der ihn in seiner Berliner Wohnung Englisch anspricht. Ein Hund! Und weil sich der Hund partout nicht aus seiner Wohnung vertreiben lässt, beschliesst er die Wirkung seines Tripps abzuwarten und zu akzeptieren, dass sich da ein Hund in sein Leben mischt. 

Der Hund weiss ziemlich genau, was es will und fordert hartnäckig, dass Felix ihn nach Florida bringen soll, zu seinen Friends. Und weil selbst nach der budgetierten Wirkungsdauer der Droge verständlich bleibt, was der Hund will und weil ihn erklärte Besitzer zu jagen beginnen, weil es nicht ungelegen kommt, dass man ihn aus seinem Leben buxiert und ihn der Hund aus seiner Reserve zwingt, rutscht Felix in einen wilden Tripp durch die Wirklichkeit, hinein in seine Vergangenheit mitten in eine völlig ungewisse Zukunft. Unausgesprochen oder nicht – Felix ist in seinen Grundfesten erschüttert, erst recht, als ihm zu dämmern beginnt, dass sich verschwörerische Absichten hinter all den Zufälligkeiten verbergen könnten.

Wir sind es gewohnt, dass wir als Krönung der Schöpfung den Lauf der Dinge bestimmen. Alles andere ist wie das Wetter; Zufall und den Gesetzen der Natur verpflichtet. Aber was geschieht mit all den Gewissheiten, wenn ein Hund die Fragen stellt, wenn ein Hund eine Zukunft verspricht. Linus Reichlin spinnt eine amüsante Geschichte mit mehrfachem Boden, ein Roman, der mit viel Amüsement das „Was wäre wenn“ zu einer Geschichte formt, die einen überraschenden Sog entwickelt – auch für LeserInnen, die ihre Zeigefinger überkreuzen würden, würde man ihnen ein Buch mit Hund empfehlen!

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für sein Krimidebüt «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den Deutschen Krimipreis. Der Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Sparte Unterhaltung) gewählt. Es folgten die Romane «Das Leuchten in der Ferne» (2012), «In einem anderen Leben» (2014), «Keiths Probleme im Jenseits» (2019) und zuletzt «Señor Herreras blühende Intuition» (2021).

«Manitoba», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Claudio Bader

Sandra Hughes «Kopflos», sommerliche Krimigeschichte, Plattform Gegenzauber

«Alex Breitenstein, Kriminalpolizei Basel-Stadt. Frau Vogel?»
Heidi blinzelte in den blauen Himmel. Sie konnte das Gesicht des Herrn Breitenstein nicht erkennen, bloß einen schwarzen Umriss vor der Sonne. 
«Bleiben Sie ruhig liegen.»
Herr Breitenstein ging neben Heidi in die Hocke. Ein netter Mann. Keiner, der eine alte Dame schikanieren wollte. Heidi hatte sich auf ihrem Liegestuhl niedergelassen, noch immer schockiert von den Ereignissen des Morgens. 
«Die Bademeisterin hat mich an Sie verwiesen. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?»
Natürlich. Für Fragen war Heidi bereit. 
«Sie haben heute früh das Gartenbad betreten. Was ist passiert? Erzählen Sie möglichst genau.»
Oh, es hatte lange vor dem Betreten des Gartenbades begonnen. Aber Heidi konnte sich gerne auf einen Teil der Geschichte beschränken, und der ging so: Heidi war heute ins Tram Linie 2 gestiegen und bis zur Station Eglisee gefahren, wie sie es jeden zweiten Mittwoch in der Früh im Sommer tat, wenn die Sonne schien. An jedem zweiten Mittwoch im Monat hatte sie sich einen Morgen ganz für sich allein erkämpft. Er dauerte drei Stunden. Jeweils um elf Uhr brach sie zurück nach Hause auf, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit aufzutischen. Ihr Mann bestand darauf. Eine warme Mahlzeit am Mittag musste sein, mit Suppe. Selbstverständlich alles selbst gekocht. Bloß einmal hatte Heidi es gewagt, ihm ein Stück Käsekuchen von der Migros vorzusetzen. Immer wieder hatte sie versucht, ihm Spiegeleier schmackhaft zu machen, die er sich selbst anbraten konnte. Sie hatte Eintöpfe zubereitet, einfach zum Aufwärmen. Vergeblich. Ihr Mann wollte, dass Heidi für ihn da war, jeden Mittag. 
«Wie schön, Frau Vogel», sagte Herr Breitenstein. «Aber wir waren beim Gartenbad.»
Genau. Heute früh also hatte Heidi um neun Uhr den Eingangsbereich des Gartenbad Eglisee betreten und einen Eintritt gelöst. Nach der Kasse bog sie wie immer rechts ab ins Frauenbad. Das Frauenbad war ihre Glücksinsel. Von Saisonbeginn bis September kam sie jeden zweiten Mittwochmorgen hierher, wenn die Sonne schien. Der einzige Ort, an den ihr Mann ihr nicht folgen konnte. Hier musste sie seinen bösen Blick nicht sehen, wenn das Salz auf dem Tisch fehlte, der Brokkoli zu weich gegart war. Immer fehlte etwas, und egal, was Heidi tat, es genügte nie. Wenn Heidi redete, war es dummes Zeug, und wenn sie schwieg, griff er sie mit bös gemeinten Sätzen an. Er kommentierte jeden Handgriff von Heidi, nichts führte sie korrekt aus. Er quälte sie seit seiner Pensionierung, das Eheleben davor schien Heidi im Rückblick wie ein Zuckerschlecken. Die Sprüche von früher waren Streicheleinheiten im Vergleich. Wohin Heidi in der Dreizimmerwohnung ging, dahin verfolgte er sie. Er legte an, einen verbalen Pfeil nach dem anderen, und zielte präzise. Jeder Schuss ein Treffer in Heidis Herz. Heidi wappnete sich mit dicker Haut, verschloss ihre Ohren, übte eigene Bosheiten ein, damit sie zurückschiessen konnte. Keine Strategie taugte. Nichts half. 
«Also eine schwierige Ehe», sagte Herr Breitenstein. «Aber konzentrieren Sie sich bitte, Frau Vogel. Das Frauenbad.» 
Nach der Kasse war Heidi rechts ab ins Frauenbad abgebogen. Wie schön es war, frühmorgens hier zu sein. Noch bevor die Musliminnen und die alten Baslerinnen eintrafen. Sie führten gegeneinander Krieg, Burkiniträgerinnen gegen Barbusige, umkreist von Wächterinnen mit Kampfstiefeln und Schlagstöcken. Die einen zählten fremde Haare im Wasser. Die anderen machten sich breit, feierten Picknickorgien und beschimpften Bademeister, bloss weil sie Männer waren.
«Frauen», sagte Herr Breitenstein. Er hatte sich neben Heidis Liegestuhl auf dem Rasen niedergelassen. «Kommen Sie zur Sache, Frau Vogel. Konzentrieren Sie sich!»
Heidi ertappte ihn bei einem verächtlichen Blick auf ihre nackten Brüste. Ihre knapp achtzigjährigen Körperteile, von den Spuren des Lebens gezeichnet und in Würde gealtert, hatte niemand so zu behandeln. Das ließ sie den Herrn Breitenstein auch gleich wissen. Genau so wenig wie es niemandem zustand, ihre Speckrollen rund um Bauch und Hüfte zu verachten. Sie waren die schönste Verwandlung von Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten, die Heidi in stiller Verzweiflung während all der Stunden in ihrer kleinen Küche schuf. Immer dann, wenn ihr Mann drohte, sich aus dem Fenster zu stürzen, falls sie ihn schon wieder allein zu Hause zurückließ, um mit einer Freundin zu spazieren. Heidi ertappte sich wiederholt bei der Hoffnung, dass er verschwunden war, wenn sie auf Kommando um sechzehn Uhr mit Kaffee und Kuchen aus der Küche trat. Aber er war immer da. 
«Frau Vogel. Kommen Sie endlich zum Punkt!»
Herr Breitenstein schaute jetzt so böse wie Heidis Mann. Es fehlte bloß noch, dass er einen Vortrag dazu hielt, wie dumm Heidi war. Also: Sie wollte heute früh schwimmen, wie immer als Erste. Sie platzierte ihren Liegestuhl auf dem gewohnten Platz. Dann stieg sie die Stufen hinunter ins Schwimmbecken, ließ sich ins kühle Wasser gleiten, schwamm eine Länge hin und eine Länge zurück. Für den Ausstieg suchte sie mit den Zehen nach der untersten Stufe, ganz sachte, weil man sich an der harten Kante stoßen konnte. Heidis Augen waren nicht mehr die besten. Aber fühlen, das konnte sie noch. Sie tastete sich also vor, um sicheren Tritt zu fassen. Da spürte sie unter ihrer Fußsohle etwas, einen Widerstand, der zugleich weich war. Glitschig und klebrig in einem. Ihr Fuß zuckte zurück, aber zu spät. Sie hatte diesen – Heidi blieb das Wort in der Kehle stecken – diese Sache unter ihrem Gewicht zerquetscht. 
«Zerquetscht?» Breitensteins Gesicht war nun ganz nah bei Heidi. «Und danach?»
Danach hatte Heidi geschrien. Ihr Schrei gellte über das gesamte Areal und weit ins Kleinbasel. Auch die Angestellten vom Familienbad drüben kamen angerannt, um gemeinsam ins Wasser zu starren, das nun von rosaroten Schlieren getrübt war. Es folgten vielstimmiges Entsetzen und nüchterne Mutmassungen. Nach viel Gerede kam es der Bademeisterin in den Sinn, den Zugang zum Frauenbad zu sperren, die 117 anzurufen und im Laufschritt ein Netz holen zu gehen. Heidi war schneller als die Bademeisterin. Sie beugte sich vornüber, griff tief ins Wasser und holte diesen – diese Sache – aus dem Becken. 
«Sie haben ihn angefasst?» Herrn Breitenstein flossen Schweißbäche übers Gesicht. «Zuerst treten sie ihn halb zu Brei, und danach befingern Sie ihn?»
Es tat Heidi leid. Ehrlich. 
«Sie haben wertvolle Hinweise auf den Tathergang verwässert!»
Heidi schaute zum Schwimmbecken hinüber und unterdrückte ein Kichern. Tatsächlich. 
«Herrgott, Frau Vogel!» Herr Breitenstein war aufgesprungen. «Denken Sie das nächste Mal, bevor Sie handeln!»
Heidi sah ihm nach, wie er über den Rasen davoneilte, das Handy am Ohr. Herr Breitenstein musste jetzt das Opfer finden, zu dem Heidis Fundobjekt gehörte. Heidi musste ihm beipflichten: Sie hatte gehandelt, ohne nachzudenken. Kopflos, wie ihr Mann gesagt hätte. Heidi hatte schon lange keinen Kopf mehr, wenn es nach ihrem Mann ging. Aber ihr Mann irrte sich, sie hatte noch einen Kopf. Heidi hatte bloß kein Herz mehr. Sie lehnte sich im Liegestuhl zurück, schaute in den blauen Himmel hoch und dann zur Uhr, deren silberne Zeiger in der Sonne glänzten. 
Heute würde Heidi nicht um elf Uhr nach Hause aufbrechen, um ihrem Mann eine warme Mahlzeit samt Suppe aufzutischen. Auch keine Mokkatorten, Meringue und Sauerbraten würde sie mehr still in ihrer kleinen Küche schaffen. Heute blieb Heidi auf ihrer Glücksinsel liegen. Morgen würde sie wiederkommen und übermorgen auch. Immer wenn die Sonne schien und mit ihrer Wärme dazu beitrug, den zerfetzten Klumpen in Heidis Brust wieder zu einem Herzen zusammenzusetzen.

«Mord in der Badi. Sommerliche Krimigeschichten aus der Schweiz», herausgegeben von Miriam Kunz, Atlantis Verlag, 2023, 176 Seiten, CHF ca. 22.90, ISBN 978-3-7152-5513-2

Sandra Hughes, geboren 1966, wuchs in Luzern auf und lebt mit ihrer Familie in Allschwil bei Basel. Bisher erschienen die Romane «Lee Gustavo» (2006), «Maus im Kopf» (2009), «Zimmer 307» (2012) und «Fallen» (2016). Bei Kampa sind bisher 3 Krimis um Tschopp & Bianchi erschienen. Mit der Polizistin Emma Tschopp teilt sie die Vorliebe für Bistecca (saignant) und Blauschimmelkäse. Neben Krimis und Romanen schreibt Sandra Hughes auch für Kinder. 2013 erhielt sie den Kulturpreis des Kantons Basel-Landschaft für Literatur, 2017/2018 das Atelierstipendium der Landis & Gyr Stiftung für Schweizer Kulturschaffende in London.

Sandra Hughes verfasste beim Schweizerischen Jugendschriftwerk SJW auch zwei preisgekrönte Erstlese- und Vorlesebüchlein:

 

 

 

 

 

Beitragsbild © Kampa Verlag/Sven Schnyder

Lieber Bär, lieber Gallus #SchweizerBuchpreis 23/03

Lieber Bär

Nun sind die 5 Namen da. Keine DebütantInnen, keine Experimente, fünf klingende Namen, fünf ganz unterschiedliche Stoffe. Gibt es ein Buch, dass Du bereits gelesen hast? Was ist dir nach der Lektüre geblieben?

Im Gespräch mit AutorInnen wundern mich zwei Dinge. Zum einen der Umstand, dass es nicht wenige gibt, die ihrem Verlag verbieten, ihre Bücher einzusenden, weil sie nicht wollen, dass ihr Buch Teil eines „Wettbewerbs“ wird. Und zum anderen, dass es Verlage und VerlegerInnen gibt, die es schlicht versäumen, ihre Bücher, die zu einer Teilnahme berechtigt wären, bei der entsprechenden Stelle anzumelden. Ein Versäumnis, das ich ganz und gar nicht nachvollziehen kann, selbst dann nicht, wenn die Chancen auf den Preis verschwindend klein sind.

Noch zum Thema „Wettbewerb“; Auch das Wettlesen um den Bachmannpreis jedes Jahr im Sommer spaltet die Geister. Ich gebe dem Argument recht, dass man Texte nur ganz begrenzt miteinander vergleichen kann, sehr oft gar nicht. Aber man kann die Wirkung eines Textes vergleichen, wenn auch hier nichts Messbares resultieren kann und es keine wirklich objektiven Kriterien geben kann. Texte berühren, klammern sich fest, stossen mich ab, reissen mich mit, lösen etwas aus, begeistern mich, bleiben wie ein Geist über Jahre oder gar Jahrzehnte neben mir, öffnen Türen oder lassen mich den Kopf schütteln.

Liebe Grüsse
Gallus

***

Lieber Gallus,

Ich habe «Sich lichtende Nebel» von Christian Haller und «Bild ohne Mädchen» von Sarah Elena Müller gelesen, beides meines Erachtens eindrückliche Texte. Alle nominierten Namen versprechen wunderbare eigenständige Literatur, da bin ich mit Dir einverstanden.
Geblieben ist mir bei «Sich lichtende Nebel», wie mit faszinierenden Genauigkeit der Sprache die Grenzen und Unschärfen unseres Erkennens und Denkens erfasst wird. Zutiefst menschliche Verhalten (Trauer und Einsamkeit) spiegelt sich in analytischem Forschen, ermöglicht, dass Neues in die Welt kommt.
In «Bild ohne Mädchen» wird ohne Wut und Anklage in beeindruckend eigenständiger Sprache ein Kindsmissbrauch erzählt. Das in berührenden Bildern geschilderte Grauen und das Versagen der Erwachsenen wird erst im Verlauf in vollem Ausmass ersichtlich.
Beides sehr kluge, gelungene Werke!

Zum Thema Wettbewerb: Das, was Du betreff AutorInnen und Verlage geschrieben hast, war mir nicht so bekannt, wundert mich aber auch. Ebenso ist für mich die Wirkung eines Textes ausschlaggebend. Diese ist natürlich abhängig von der Sprache und vom Inhalt, auch von der Aktualität. Allgemein wirkt sich auch aus, wo und wie ich mich als Leser befinde (Jugend, Alter, Trauer, Neugier, Beruf, Offenheit ect)
Die diesjährige Shortlist ist deutlich ausgewogener als 2022, aber nicht weniger spannend.

Gerade habe ich die ersten zwei Teile (das erste Buch der Trilogie) der Heptalogie von Jon Fosse «Der andere Name» gelesen, ein besonderer Lesegenuss von biblischer Gewalt und Intensität, sehr eigenwillig, hypnotisierend. 475 Seiten ohne Punkt! Nun bin ich bereit für schweizer Literatur.

Herzliche Grüsse

Bär

***

Ich lernte den Bären am Internationalen Literaturfestival in Leukerbad kennen, an der literarischen Wanderung, die jeweils als Einstimmung organisiert wird. So trifft man sich Jahr für Jahr. Und weil man zusammen geht, entstehen Gespräche, die einen über Bücher und ihre ErschafferInnen, die anderen über Gott und die Welt – wobei in Büchern doch über nichts anderes geschrieben wird als über Gott und die Welt.

Schweizer Buchpreis 2023: Die 5 sind da! #SchweizerBuchpreis 23/02

Das beste Buch soll ermittelt werden? Das eine kann ich nach Bekanntgabe der fünf Nominierten unterstreichen: Auch wenn wie jedes Jahr Bücher auf der Liste der Nominierten fehlen; die fünf ausgewählten, nominierten Bücher lohnen sich alleweil zur Lektüre. Und alle haben das Zeug, einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen.

Es waren fast 100 Bücher, die die Jury bis dato zu lesen hatte. Sieglinde Geisel, freie Kritikerin und Schreibcoach, Laurin Jäggi, Buchhändler, Inhaber der Buchhandlung Librium in Baden, Michael Luisier, Literaturredaktor SRF, Joanna Nowotny, Literaturwissenschaftlerin, Mitarbeiterin am Schweizerischen Literaturarchiv und freischaffende Journalistin und Yeboaa Ofosa, Kulturwissenschaftlerin und Literaturexpertin lasen sich durch die Bücherberge und tragen die inhaltliche «Verantwortung» für die diesjährige Liste der Nominierten.

Mit Christian Haller und Matthias Zschokke, zwei Eckpfeilern der CH-Literatur und Sarah Elena Müller, Damian Lienhard und Adam Schwarz, drei, die alle bereits ihren Platz in der Szene haben und in vielen privaten Bücherregalen beheimatet sind, ist kein Debüt, kein Erstling dabei. Also lauter Namen mit Schweif, die einen lang, die anderen etwas kürzer. Nicht dass es keine preiswürdigen Debüts gegeben hätte. Aber zum einen steigt bei solchen der Rechtfertigungsdruck und sehr oft bleibt ein schaler Nachgeschmack, wenn DebütantInnenromane mit solchen gestandener SchriftstellerInnen gemessen werden.

Was heisst schon gemessen werden! Ein Buchpreis ist kein Wettbewerb, auch wenn er sich als solcher gibt und der eine oder andere Autor sich präventiv aus diesem «Rennen» nimmt, weil man sich wegen dieses «Wettlaufs» echauffiert. Ein Buchpreis ist eine grosse, fünfstrahlige Bühnenshow, mit viel Pomp und überdurchschnittlicher Medienaufmerksamkeit, bei der sich die fünf Scheinwerfer im November auf das eine Buch, die eine Autorin oder den einen Autoren bündeln.
Ich bin hoch zufrieden mit der Liste. Fünf gute Bücher, fünf wichtige Geschichten und fünf Sprachkunstwerke!

 

«Sich lichtende Nebel» (Luchterhand) von Christian Haller
Kopenhagen 1925: Ein Mann taucht im Lichtkegel einer Laterne auf, verschwindet wieder im Dunkel und erscheint erneut im Licht der nächsten Laterne. Wo ist er in der Zwischenzeit gewesen? Den Beobachter dieser Szene, Werner Heisenberg, führt sie zur Entwicklung einer Theorie, die im weiteren Verlauf ein völlig neues Weltbild schaffen wird: die Quantenmechanik. Der Mann im Dunkel selbst hingegen weiss nichts von der Rolle, die er bei der Entdeckung neuer physikalischer Gesetze gespielt hat – er versucht, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten und seinem Leben eine neue Ausrichtung zu geben. Christian Haller, der diese beiden durch den Zufall verknüpften Lebenslinien weiter erzählt, macht daraus ein hellsichtiges literarisches Vexierspiel über Trauer und Einsamkeit, die Grenzen unserer Erkenntnis und die Frage, wie das Neue in unsere Welt kommt.

Christian Haller, 1943 in Brugg, Schweiz geboren, studierte Biologie und gehörte der Leitung des Gottlieb Duttweiler-Instituts bei Zürich an. Er wurde u. a. mit dem Aargauer Literaturpreis (2006), dem Schillerpreis (2007) und dem Kunstpreis des Kantons Aargau (2015) ausgezeichnet. Zuletzt ist von ihm der letzte Teil seiner autobiographischen Trilogie erschienen: «Flussabwärts gegen den Strom». Er lebt als Schriftsteller in Laufenburg.

«Mr. Goebbels Jazz Band» (Frankfurter Verlagsanstalt) von Damian Lienhard
Berlin, Frühjahr 1940. Auf Beschluss von Joseph Goebbels wird für den Auslandsradiosender Germany Calling eine Big Band gegründet, die als Mr. Goebbels Jazz Band internationale Bekanntheit erlangt. Die besten europäischen Musiker, darunter auch Ausländer, Juden und Homosexuelle, spielen im Dienst der NS-Propaganda wortwörtlich um ihr Überleben – ausgerechnet mit Jazz, der als »entartet« galt. Bis zu 6 Millionen britische Haushalte täglich lauschen den Swing-Stücken mit anti-alliierten Hetztexten und dem Star-Moderator William Joyce alias Lord Haw-Haw, der nach seinem Aufstieg in der British Fascist Union aus London nach Berlin geflohen war. Joyce soll den Erfolg »an der Front im Äther« literarisch dokumentieren lassen. Der dafür ausgewählte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler findet sich im Zuge seines Auftrags, einen Propagandaroman über die Band zu schreiben, in verruchten Berliner Clubs und illegalen Jazzkellern wieder, trinkt zu viel Cointreau, verzettelt sich in seinen Recherchen und muss nicht nur die Skepsis der Musiker überwinden, sondern auch seine gefährlichen Auftraggeber über das schleppende Vorankommen seines Unterfangens hinwegtäuschen. Demian Lienhard erzählt die ungeheuerliche (fast bis ins Detail wahre) Geschichte von Mr. Goebbels Jazz Band und des berüchtigten Radiosprechers William Joyce. In furiosem Tempo jagt Lienhard seinen Figuren von New York nach Galway, London, Manchester, Zürich, Danzig und Berlin nach und stellt den menschenverachtenden Zynismus des NS-Staats ebenso bloß wie die Perfidie der Nazi-Propaganda. Gezeigt wird das Scheitern künstlerischer Produktion im Dienste einer Ideologie, wobei auch die eigene Erzählung verschmitzt unterwandert wird, bis hin zum überraschenden Paukenschlag.

Demian Lienhard, geboren 1987, aus Bern, hat in Klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» (2019) wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Lienhards Roman «Mr. Goebbels Jazz Band», für den er u. a. Stipendien von Pro Helvetia, dem Literarischen Colloquium Berlin, der Stadt Zürich und dem Aargauer Kuratorium erhielt und Rechercheaufenthalte in Galway, London und Berlin absolvierte, erschien im Frühjahr 2023 in der Frankfurter Verlagsanstalt. Demian Lienhard lebt und arbeitet in Zürich.

«Bild ohne Mädchen» (Limmat) von Sarah Elena Müller
Die Eltern des Mädchens misstrauen dem Fernsehen, aber beim medienaffinen Nachbarn Ege darf es so lange schauen, wie es will. Eges Wohnung steht voller Geräte, und er dreht Videos, die nie jemand sehen will.
Die Eltern sind überfordert mit dem Kind, das sein Bett nässt und kaum spricht. Der Vater ist Biologe und wendet sich lieber bedrohten Tierarten zu. Die Mutter bildhauert und ist mit ihrer Kunst beschäftigt. Ein Heiler soll helfen. Das Mädchen sucht Zuflucht bei einem Engel, den es auf einer Videokassette von Ege entdeckt hat. Und wirklich, der Engel hält zu ihm.
Durch dieses Kabinett der Hilf- und Sprachlosigkeit nähert sich Sarah Elena Müller dem Trauma einer Familie, die weder den Engel noch die Gefährdung zu sehen imstande ist. Und von der Grossmutter bis zum Kind entsteht ein Panorama weiblicher Biografien seit dem grossen Aufbruch der Sechzigerjahre.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. 

«Glitsch» (Zytglogge) von Adam Schwarz
Pools, Plastikpalmen, Polarsonne: Léon Portmann durchquert auf einem Kreuzfahrtschiff die ganzjährig eisfreie Nordostpassage. Klimakatastrophentourismus mit Schlagerprogramm und Analogfisch auf der Speisekarte inklusive.
Eigentlich wollte seine Freundin Kathrin die Reise allein machen, doch er hat sich ungefragt angehängt. Dabei sind die Risse zwischen den beiden offenkundig. Als Kathrin spurlos verschwindet, macht Léon sich auf die Suche nach ihr. Er taucht immer tiefer in den Schiffsbauch ab und gerät unter Verdacht, ein blinder Passagier zu sein. Weder Kathrin noch er stehen auf der Bordliste. Nach der Beziehung erhält auch die Wirklichkeit Risse: Gibt es Kathrin überhaupt? Und was haben ein neuseeländischer Philosoph, obskure Internetforen und ein 15 Jahre altes Videospiel damit zu tun?
«Glitsch» ist der Trennungsroman zum Ende der Menschheit. Ein abgründiger Abgesang auf die Welt, wie wir sie zu kennen glauben, packend und klug in Szene gesetzt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe. Im selben Jahr wurde er mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia ausgezeichnet und war für den Literaturpreis «Aargau 2050» des Aargauer Literaturhauses nominiert. Zudem erhielt er ein Aufenthaltsstipendium vom Literarischen Colloquium Berlin. 

«Der graue Peter» (Rotpunkt) von Matthias Zschokke
Eigentlich müsste Peter ein unglücklicher Mensch sein, aber der Zufall, oder eine gütige Vorsehung, haben dafür gesorgt, dass ihm ein »Empfindungschromosom« fehlt. Schon seine Eltern kamen ihm vor wie fremde Wesen, und seine Frau, vermutet er, wird er bis an sein Lebensende nicht verstehen. Ihr erstes gemeinsames Kind ist bei der Geburt gestorben, und eines unscheinbaren Tages betritt eine Polizistin Peters Verwaltungsbüro, um ihm zu sagen, dass sein zweiter Sohn von einem Lastwagen überrollt wurde.
Sein Leben geht weiter, man schickt ihn nach Nancy, um eine belanglose Grußbotschaft zu überbringen. Als auf der Rückreise eine unvorhergesehene Fahrplanänderung angekündigt wird, vertraut eine verzweifelte Mutter Peter ihren Sohn an. Zéphyr, so heißt der Junge mit der orangefarbenen Schwimmweste, werde in Basel von seinem Onkel abgeholt. Auf der Fahrt versucht Peter dem fremden Jungen ein fürsorglicher Begleiter zu sein. Spontan steigen die beiden in Mulhouse aus, um Zéphyrs Tante (und ihre Carrerabahn) zu besuchen. Stattdessen landen sie in einem winterlich kalten Bach, einem 5-D-Film, der Zéphyr den Magen umdreht, einer Umkleidekabine und für die Nacht in einem Hotelzimmer. Von Unwägbarkeit zu Unwägbarkeit wird Peters Hilflosigkeit Zéphyr gegenüber zarter, ja zärtlicher. Eine schwer fassbare, in Momenten irritierende Beziehung entwickelt sich zwischen den beiden, bis sie doch noch in Basel ankommen und die Reise ein abruptes Ende nimmt.

Matthias Zschokke, geboren 1954 in Bern, ist Schriftsteller und Filmemacher und lebt seit 1979 in Berlin. Für seinen Debütroman «Max» erhielt er 1982 den Robert-Walser-Preis. Später wurde er u.a. mit dem Solothurner Literaturpreis, dem Grossen Berner Literaturpreis, dem Eidgenössischen Literaturpreis, dem Gerhart-Hauptmann- und dem Schillerpreis geehrt – und, als bislang einziger deutschsprachiger Autor, mit dem französischen Prix Femina étranger für «Maurice mit Huhn».

19. November 11 Uhr: Preisverleihung Schweizer Buchpreis 2023
Zum sechzehnten Mal vergibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband SBVV zusammen mit LiteraturBasel den Schweizer Buchpreis. Zur feierlichen Preisverleihung 2023 im Foyer des Theater Basel sind Sie herzlich eingeladen. Der Eintritt ist gratis, Tickets können Sie ab Mitte Oktober über die Webseite des Internationalen Literaturfestivals BuchBasel beziehen.

Illustrationen © leale.ch

Gianna Molinari «Hinter der Hecke die Welt», Aufbau

Gianna Molinaris Romane sind Sondierungen in die Tiefe. Wie in ihrem Debüterfolg „Hier ist noch alles möglich“ wählt die Autorin nicht nur ganz spezielle Erzählorte, sondern setzt ihr Erzählen in eine Horizontale, weg vom gewohnten Blick in eine vertikale Weite. Gianna Molinaris Erzählen entzieht sich gängiger Erzählstrukturen und macht ihre Romane zu funkelnden Diamanten.

Dora, eine Meeresforscherin in der Arktis, sieht in den Veränderungen am Pol, seien es die klimatischen oder die durch diese hervorgerufenen wirtschaftlichen, eine sich verändernde Landschaft. Nichts am ewigen Eis ist mehr ewig. Alles wird endlich und durch diese Endlichkeit grossen Umwälzungen unterworfen. Die Eiskappen schmelzen. Was mit den menschlichen Eingriffen schon vor mehr als hundert Jahren seinen Anfang nahm, wird durch die Auswirkungen menschlichen Tuns und Unterlassens so sehr beschleunigt, dass nicht absehbar ist, was in den kommenden Jahrzehnten auf das Leben auf diesem Planeten zukommen wird. Dora sammelt als Wissenschaftlerin Sedimentproben vom arktischen Meeresboden, kartographiert und untersucht das, was noch ist und sich in Zukunft rasant verändern wird.

Dora hat Pina, ihre Tochter, im Dorf zurückgelassen, genauso wie Karsten ihren Mann, der einst wegen ihr in das kleine Dorf gezogen war. Zusammen mit der gleichaltrigen Lobo sind Pina und sie die einzigen Kinder, die im Dorf geblieben sind. Einem Dorf, das zu verschwinden droht. Einem Dorf, das in seinem Verschwinden vom Wuchern einer Hecke gleich neben dem Dorf begleitet wird. Einer Hecke, vor der man sich gleichermassen fürchtet wie Hoffnungen setzt. Solange sie wächst, bleibt die Hoffnung auf Veränderung. Dass das Verschwinden aufgehalten wird, dass mit den Veränderungen der Tourismus wirkt, Wachstum auch ins Dorf zurückkehrt – und vor allem, dass die beiden Mädchen wieder wachsen, denn trotz aller Anstrengungen bleibt das Wachstum der beiden aus, bleibt ihre Körpergrösse die immer gleiche.

„Das Eis ist ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen.“

Gianna Molinari «Hinter den Hecken die Welt», Aufbau, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-351-04173-1

Das ganze Dorf wappnet sich gegen das Verschwinden. Genauso wie man die seltsame Hecke beobachtet, nicht weiss, ob sie Bedrohung oder Kapital sein kann. So wie in der Arktis wird unterucht und gemessen, festgehalten und prognostiziert. „Hinter der Hecke die Welt“, weil jedes Ende ein Anfang ist, weil die Spezies Mensch nicht verstehen kann, dass alles im Wandel ist, höchstens der Wandel ewig. Obwohl der Mensch alles auf diesem Planeten mit seinen langen Fingern für sich einnimmt, behandelt man den Organismus Erde wie eine immer gleiche blaue Kugel, obwohl es der Mensch ist, der die Veränderungen potenziert, das gleichförmige Wachsen und Verschwinden zu einem katastrophalen Prozess beschleunigt.

Gianna Molinaris Roman erzählt nur rudimentär eine Geschichte. An einem Plott ist sie nicht interessiert. Gianna Molinari schreibt wie die Arktisforscherin Proben aus den Sedimenten zieht. Sie liest aus den Veränderungen der Zeit. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein zweihundertseitenlanger Versuch, die Schichten der Veränderungen zu lesen. Das Vergnügen der Interpretation liegt ganz bei mir als Leser. Ein faszinierender Leseprozess, ein Lesevergnügen der besonderen Art, wie schon in ihrem Debüt.

Und doch ist der Roman weit mehr als ein sprachliches Fabulieren. Gianna Molinari zeichnet Skizzen, nicht nur sprachlich, zwischendurch gar bildhaft. Aber ihre Zeichnungen illustrieren nicht, genauso wie ihr Erzählen. „Hinter der Hecke die Welt“ ist ein schillerndes Porträt des Gegenwärtigen. Eine romanlange Aufforderung nachzudenken, ein literarisches Forschen in den Sedimenten des Lebens.

Und ganz nebenbei erfahre ich als Leser Dinge, von denen ich keine Ahnung hatte. Wussten Sie, dass das Arktische Eichhörnchen seinen Organismus einfrieren kann? Kennen sie den Riesenalk oder den Grönlandhai, der 500 Jahre alt werden kann? „Hinter der Hecke die Welt“ – tatsächlich!

Interview

Ich las Dein Buch sehr gerne, auch wenn Du es mir nicht ganz leicht gemacht hast. Aber wahrscheinlich wolltest Du das auch gar nicht. Weil Du mich mit Deiner Schreibe zur Langsamkeit zwingst, einem Lesetempo, dass sonst nicht meinen Gewohnheiten entspricht. Ich wollte verstehen, witterte wahrscheinlich den einen oder anderen doppelten Boden, wo Du eigentlich nur fabulieren, abdriften, eintauchen wolltest. 
Man kann Deinen Roman mit vielen Brillen lesen: eine Mutter weg von ihrer Familie, eine Forschende, die das Eis mit ihren Fragen löchert, ein Dorf, dass sich gegen das Verschwinden stemmt, ein Dorf zwischen Angst und Expansionsfantasien, zwei Kinder, die nicht mehr wachsen … und eben diese geheimnisvolle Hecke. War ein Plan da?
Es ist während dem Schreibprozess immer wieder ein Plan da. Das Ärgerliche aber vielleicht auch das Schöne und Wichtige an diesen Plänen ist, dass ich sie auch immer wieder verwerfen muss. Vor allem, weil ich jeweils merke, dass ich nicht so schreibe, nicht nach Plan, dass das schlicht nicht ergiebig ist, dass ich mir den Stoff, die Motive, die Figuren, die Geschichten erschreibe, also nur im Schreiben Stück für Stück dem näher komme, was dann zum fertigen Text wird. Und ja, da stimme ich Dir zu und das freut mich auch sehr, deine Aufzählung von dem, was Du alles im Text liest, diese Vielbrilligkeit, im besten Sinne die Offenheit des Textes, die habe ich gesucht, damit die Leser*innen ihre eigenen Wege durch das Buch gehen können. Das zumindest erhoffe ich mir.

Die Hecke wächst, das Dorf stagniert. Die Hecke als Labyrinth, das Dorf als Ort, in dem man mit aller Energie an Wachstum glaubt. Vielleicht lese ich in der Hecke auch meinen eigenen Wunsch, die Natur möge sich zurücknehmen, was man ihr entrissen hat. Aber wahrscheinlich ist es genau das, was mich an Deinem Roman fasziniert; die Vielfalt an Deutungsmöglichkeiten. Ist Dein Roman auch ein Statement in erzähltechnischer Hinsicht? Gegen die Banalität?
Es ist, denke ich, nicht ein Anschreiben gegen die Banalität. Das Schreiben ist für mich vielmehr eine Möglichkeit oder der Versuch, die Welt, der ich als Schreibende begegne und mit der ich mich auseinandersetzen möchte, zu fassen und sie dabei nicht zu vereinfachen, sondern ihr Raum zu geben. Und ganz so trennbar oder gegensätzlich ist es ja nicht, die Welt ist ja banal und unfassbar komplex zugleich.

© Gianna Molinari

Ich lese viel und wundere mich, dass der Aufbau Verlag, den ich nicht wirklich zu den experimentierfreudigen zähle, auch Deinen Zweitling druckte. Erstaunlich oder doch nicht? War die Unterstützung im Verlag einhellig?
Das würde mich natürlich jetzt auch interessieren, was der Aufbau Verlag zu Deiner Sichtweise auf ihr Programm antworten würde. Aber nein, ich bin nicht Deiner Meinung, der Aufbau Verlag hat zum Beispiel mit Blumenbar ganz klar auch eine experimentierfreudige Seite und aus meiner Wahrnehmung war die Unterstützung für meinen Roman einhellig und gross und die Zusammenarbeit im Lektorat und mit allen Verlagsmitarbeitenden finde ich grossartig. 

Bei der Bildenden Kunst hält man das Nichtverstehenmüssen aus. Auch bei der Musik. Ausgerechnet bei erzählender Literatur aber ganz offensichtlich nicht, zumindest jene, die das Buch zur blossen Unterhaltung „brauchen“. Lässt das nicht manchmal zweifeln?
Das Nichtverstehenmüssen hängt für mich auch mit dem Nichterklärenmüssen zusammen. Ich möchte nicht erklären, ich möchte die Dinge lange und gut betrachten und dann beschreiben. Ich möchte den Dingen nachgehen und ihnen so vielleicht auch nahekommen, so nahe, dass ich und im besten Fall auch Leser*innen des Textes, diese anders betrachten können, etwas Neues entdecken. Aber ja, der Text arbeitet mit Leerstellen und lässt vieles offen. Dass nicht alle Leser*innen solche Leerstellen mögen, ist absolut okay. Ich freue mich aber sehr über diejenigen, die sich auf ein Nichtverstehenmüssen einlassen.

Auch in diesem Buch finden sich wieder Illustrationen. Auch wenn diese nicht im eigentlichen Sinn illustrieren. Auch Fotos sind abgedruckt, Recherchefotos. Welche Rolle spielen das Zeichnen und Fotografieren in Deinem Sehen und Suchen?
Innerhalb des Romans gehören die Bilder zu Doras Erzählteil, sie sind gewissermassen Logbucheinträge von ihr. Die Bilder sind eine Möglichkeit, die Dinge nochmals anders zu erzählen, von einer anderen Seite zu betrachten. Der Wechsel des Mediums ist für mich im Schreibprozess auch immer ein sehr wichtiges Werkzeug, um meinen eigenen Blick zu schärfen.

Gianna Molinari wurde 1988 in Basel geboren und lebt in Zürich. Sie studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Für einen Auszug aus ihrem ersten Roman erhielt sie den 3sat-Preis beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2017. Ihr Debütroman »Hier ist noch alles möglich« war ein grosser Erfolg, wurde für das Theater adaptiert, erhielt den Robert-Walser- und den Clemens-Brentano-Preis und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.

Beitragsbild © Christoph Oeschger

Vom Kleinod bis zum Epos – Das Sprachsalz Literaturfestival in Hall im Tirol

Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.

Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.

Waltraud Haas, Sprachsalz © Yves Noir

Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren.
Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.

im siebzigsten jahr
führe ich mich
innen noch jung
hinters licht

Waltraud Haas «pfeilschnell wie Kolibris», Klever, 2023, 170 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-903110-96-0

Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.

liebst du mich?
ich werde dich immer lieben
das ist gut
sagt sie und geht

Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).

Stewart O’Nan am Sprachsalz-Galaabend © Denis Moergenthaler

Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.

Steward O’Nan «Ocean State», Rowohlt, 2022, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-498-00268-8

In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.

Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!

Sprachsalz ins Leben!

Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.

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Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh. 

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Beitragsbild © Denis Moergenthaler, Sprachsalz