Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper

Mit ihrer Trilogie „Liebesleben“, „Mann und Frau“ und „Späte Familie“ hat sich die israelische Schriftstellerin Zeruya Shalev tief ins Bewusstsein vieler geschrieben. Nicht nur weil sich die Romane eindringlich lesen, nicht nur weil „Liebesleben“ wie ein Komet einschlug und sieben Jahre später erfolgreich in die Kinos kam, sondern weil die Autorin mit ihren Themen den Nerv der Zeit trifft.

Dass man nun Zeruya Shalevs Erstling, der bereits 1993 unter dem Titel „Dancing, Standing Still“ in Israel erschien und damals im Vergleich zu „Liebesleben“ niemals jene Resonanz erreichte, jetzt auch auf den deutschsprachigen Markt wirft, erscheint zuerst als geschickter Schachzug des Verlags, nach der Lektüre des Buches aber als echtes Geschenk. 

Als Zeruya Shalev diesen Roman in Israel schrieb, kannte man die Autorin in ihrem Heimatland in einem kleinen Kreis als Lyrikerin. Im Vorwort der Autorin erzählt Zeruya Shalev, wie sie in einem Café mit dem Manuskript eines Schriftstellers auf diesen wartete. Und weil er sich verspätete, begann sie auf den Rückseiten der Manuskriptseiten zu schreiben. Was damals im Café begann, war wie ein Dammbruch. Zeruya Shalev war 32, verheiratet und Mutter einer vierjährigen Tochter. Als sie den Roman in einem wilden Rausch nach eineinhalb Jahren zu Ende geschrieben hatte, zerbrach ihre Familie. Und als der Roman 1993 erschien, liess die Presse die Autorin „verwundet und verängstigt zurück“, so sehr dass sie ihren Glauben an sich als Schriftstellerin beinahe verloren hatte.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer,

Zwei Jahrzehnte später, mit dem Erfolg einer ganzen Reihe Bestseller im Rücken, einer getreuen Leserschaft und dem Umstand, dass die Geschichte ihr Land und die Zeit ihre Themen in den Brennpunkt stellt, ist es nicht verwunderlich, dass „Nicht ich“ derart Wellen verursacht, eben darum, weil der Umstand seines Erscheinens viel mehr ist als ein geschickter Schachzug des Verlags. Als Zeruya Shalev den Roman schrieb, war die Autorin ein Niemand. Da waren keine Erwartungen, da war keine Linie, keine Marke „Zeruya Shalev“. Sie schrieb sich in einen Taumel, der aus jeder Seite schreit. Sie reizt aus, gibt sich unbeeindruckt von Konvention und Tradition. „Nicht ich“ ist der buchlange Monolog einer Frau, die sich verloren, ihre kleine Tochter verloren hat, ihren Mann, ihre Familie, ihre Eltern, ihr Zuhause, das Gesicht in ihrem Spiegel. Und mit dem Titel „Nicht ich“ macht sie unmissverständlich klar, dass es nicht ihre Geschichte ist, auch wenn es trotzdem die ihre ist, eine universelle Geschichte von jemandem, der aus der Spur gerissen wird. 

„Wie kann man etwas verlieren, was man nie besessen hat?“

Zeruya Shalev lebt und schreibt in einem Land, das seit seiner Entstehung von Krieg und Terror gebeutelt ist. Am 29. Januar 2004, also vor mehr als 20 Jahren, wurde Zeruya Shalev selbst Opfer eines Selbstmordattentäters und verletzte sich dabei sehr. Eine kollektive Verunsicherung, die im ganzen Roman spürbar ist. So wie ein Land, eine Zivilisation, eine Religion nach Rechtfertigungen sucht, tut es im Roman eine „zerstörte Frau“, der man ihr Kind genommen, die Mann und Familie verloren hat, die sich bewusst ist, vieles in ihrem Leben „falsch“ angegangen zu sein. „Nicht ich“ ist ein lauter Roman aus wilden Träumen und Erinnerungen, aus Bildern, die zwischen Wahn und Realität flirren. Eine Frau voller Schuldgefühle, voller Anklage und Verzweiflung, permanent am Rand ihrer Existenz, von sich selbst und ihrer Wahrnehmung bedroht. Eine Frau, die sich selbst so wenig traut wie ihrer Umgebung. Zu viele unterirdiche Gänge führen zu diesem Kindergarten, da laufen mir zu viele Leute rum. Ich bin mir sicher, ab und zu verschwindet in diesen Gängen unbemerkt ein Kind. Sätze, die wie Messerschnitte die Lektüre zerschneiden.

Alles, was die namenlose Frau hatte, wurde ihr genommen. Selbst die Erinnerung droht in Unsicherheiten zu zerbröseln. Eine Frau, die nicht versteht, was mit ihr geschah und geschieht, die an ihrem Hunger nach Liebe leidet und nicht versteht, wie ihr passieren konnte, was ihr den Boden unter den Füssen wegzieht. Das Erstaunliche an diesem Roman ist die sprachgewordene Verzweiflung und Verunsicherung, der Taumel, die Selbstzerfleischung und der Schmerz. Unglaublich, wie tief Zeruya Shalev in die Wunden blicken lässt. Ich bin mit El Ii Ee Be Ee nicht zurechtgekommen. Für mich war das eine stinkende Verbindung von Schweiss und Sperma, Stechen im Bauch vom Ärger und Kopfschmerzen vom Weinen. Und trotzdem ist „Nicht ich“ eine Liebesgeschichte, wenn auch eine verzweifelte. Da schreibt jemand, der die rosa Brille auf dem Asphalt zertrampelt. „Nicht ich“ ist das literarische Zeugnis einer damals noch unbekannten Autorin und Dichterin, die alles auf eine Karte setzt. Ein Text, der sich in seiner Kraft wie ein Beben liest, der sich auch 30 Jahre nach seinem Entstehen passgenau in eine Zeit fügt, in der alles unter den Bomben der Gegenwart erzittert.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

Anne Birkenhauer, 1961 geboren, studierte Germanistik und Judaistik in Berlin und Jerusalem und lebt seit 1989 in Israel. Sie arbeitete als wissenschaftliche Assistentin an der Universität und übersetzt u.a. Aharon Appelfeld, Chaim Be`er, Daniella Carmi, David Grossman, Dan Pagis und Yaakov Shabtai.

Beitragsbild © Jonathan Bloom

„Für jede Mutter ist Krieg die Hölle“ Zeruya Shalev in St. Gallen

Der israelischen Schriftstellerin Zeruya Shalev fehlen die Worte, wenn es um den Angriff der Hamas geht. Trotzdem setzt sich die dreifache Mutter, die selbst einmal Opfer eines Anschlags war, für Versöhnung ein.

Gastbeitrag von Manuela Tschida-Swoboda

Ihr Debütroman «Nicht ich» erschien schon vor 30 Jahren auf Hebräisch, aber erst jetzt auf Deutsch. Beim Lesen hat man das Gefühl, in einen seltsamen Traum geraten zu sein.
ZERUYA SHALEV: Ja, das Buch unterscheidet sich in vielem von meinen späteren. Manchmal ist es realistisch, manchmal nicht, manchmal ist es ein Traum, dann wieder ein Albtraum. Das Buch ist bruchstückhaft, aber die seelischen Inhalte sind dicht gepresst.

Erzählt wird die Geschichte einer Frau, die Mann und Tochter für einen Geliebten verlässt, mit dem dann aber nichts wird. Das Thema des Verlusts zieht sich von Beginn an durch Ihr Werk. Wieso eigentlich?
Hm. Ich denke, weil es eines der wesentlichsten Themen im Leben ist. In meinem Roman trägt die Frau besonders schwer an der Last des Verlusts, weil es vermutlich auch noch ihre Schuld war. Auf der anderen Seite gibt sie ihrem großen Traum nach, findet sich letztlich aber in einer unglaublichen Leere wieder. Sie hat alles verloren und muss fortan mit den Konsequenzen ihrer Entscheidungen leben, und das bringt sie fast um.

Ihr Roman ist wie eine Traumnovelle, die von Sigmund Freud interpretiert werden will, oder?
Ja, vielleicht. In gewisser Weise ist das Buch auch ein innerer Monolog, ein Bewusstseinsstrom. Als ich den Roman nach 30 Jahren noch einmal gelesen habe, mochte ich die Zerbrechlichkeit meiner Hauptfigur sehr, und auch ihren Galgenhumor.

Der Holocaust und der Konflikt mit den Palästinensern durch- dringen diesen Roman, ohne dass beides explizit erwähnt wird. Ge- schah das bewusst oder unbewusst?
Alles in diesem Roman ist hauptsächlich unbewusst passiert. Ich schrieb das Buch als junge Mutter. Meine Tochter war drei, vier Jahre alt. Und ich erinnere ich mich noch gut daran, wie ängstlich ich als Mutter plötzlich wurde. In Israel gab es immer schon Krieg, Terror und schreckliche Erinnerungen, aber für eine Mutter ist das alles ein Albtraum.

Als Sie das erste Mal Mutter wurden, brach die erste Intifada aus, der Aufstand der Palästinenser gegen Israel. Wie war das?
Ich sehe noch die Schlagzeilen der Zeitungen, die auf meinem Bett im Krankenhaus lagen, während ich meine Tochter stillte. Der Terror rundum wurde von da an immer stärker. Als meine Tochter drei wurde, kam es zum Golfkrieg. Und ich weiß noch, wie ich versuchte, eine Gasmaske auf ihren kleinen Kopf zu bekommen.

Zeruya Shalev «Nicht ich», Piper, 2024, aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer, 208 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-8270-1476-4

Es gibt eine starke politische Komponente in Ihrem Buch. Die Tochter wird entführt, sie wird von Soldaten vom Spielplatz weggeholt. Sie schreiben von unterirdischen Gängen unter dem Kindergarten, in denen Kinder verschwinden – unheimlich aktuell. Wie geht es Ihnen jetzt damit?
Es schockiert mich, dass etwas, das ich eigentlich nur metaphorisch verwendet habe, plötzlich Wirklichkeit geworden ist. Im Buch spielt sich alles in der Fantasie der Mutter ab, aber jetzt, nach der schrecklichen Attacke der Hamas, ist plötzlich alles real. Was soll ich sagen? Es ist alles so traurig.

Sie haben drei Kinder: Wo sind die jetzt?
Sie sind nicht in der Armee. Mein jüngster Sohn, er ist erst 17, muss erst im nächsten Jahr dahin. Und der ältere war in keiner Kampfeinheit, er war Lehrer in der Armee. Für jede Mutter ist Krieg die Hölle.

Wollten Sie nie weg von Israel, wo Trauer und Schmerz so treue Gefährten sind?
Nein. Das Leben hier ist wirklich schwierig, aber ich spüre ganz stark: Das ist mein Land, das ist mein Platz. Wir erinnern uns alle daran, was mit jüdischen Menschen passiert, wenn sie kein Land haben. Das war ja auch der Grund, warum Israel gegründet wurde. Unglücklicherweise sind wir aber auch hier nicht sicher. Aber ich kann nicht aufgeben, auch die anderen können das nicht. Ich spüre eine tiefe Verbundenheit mit diesem Land. Und ich hoffe, dass es für Israelis einmal besser wird, und auch für die Palästinenser.

Der ehemalige israelische Premier Yitzhak Rabin war davon überzeugt, dass sich Israels Konflikt mit den Palästinensern nicht lösen lasse, sondern nur managen. Wie sehen Sie das?
Aber ich denke, man muss versuchen, diesen Konflikt zu lösen, auch wenn ich mir nicht sicher bin, ob das je gelingt. Wir müssen versuchen, eine Vereinbarung zu finden, denn auf Dauer kann dieser Konflikt nicht gemanagt werden, ohne eine klare Vereinbarung. Wir haben letztlich keine andere Wahl.

Sie selbst wurden 2004 bei einem Attentat eines Palästinensers schwer verletzt, setzen sich aber trotzdem immer für die Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern ein. Wie geht es Ihnen jetzt?
Ich sehe nicht hinter jedem Araber einen Terroristen. Natürlich bin ich tief schockiert von der sadistischen, barbarischen Attacke der Hamas. Mir fehlen die Worte für dieses Grauen. Ich bin tief schockiert. Aber es gibt einen Unterschied zwischen der Hamas und der arabischen Zivilbevölkerung. Es gibt so viele Menschen, auch viele Frauen, die sich dafür starkmachen, dass der jüdisch-arabische Dialog nicht abbricht. Letztlich habe ich die Hoffnung, dass es nach diesen furchtbaren Schrecken doch auch die Chance auf Frieden gibt.

Kann aus soviel Schrecklichem je etwas Gutes entstehen?
Ich bin keine große Historikerin, aber überall in der Welt kam nach dem Krieg auch wieder der Friede. Meine Hoffnung gilt auch den nächsten Wahlen und einer neuen Regierung in Israel. Denn die ist notwendig, wenn der Staat wieder gesund werden soll. In Israel folgt auf den Krieg nicht immer gleich Friede, aber die Kriege haben immer zu Wahlen geführt. Ich hoffe, dass dieser fürchterliche Krieg dazu führt, dass sich alle in der Region gegen die extremen Fundamentalisten vereinen, auch die Bevölkerung in Gaza gegen die Hamas, die die Menschen dort als Schutzschilde missbraucht. Und ich hoffe, dass wir Netanyahu und seine Regierung loswerden.

Ein Leitmotiv in Ihren Büchern ist stets die Melancholie, a kind of blue: Ist der Sound von Shalev letztlich der Sound von Israel?
Ich habe noch nie darüber nachgedacht, aber wenn ich das jetzt so höre, kommt es mir sehr wahrscheinlich vor.

Wie ist Ihr Leben in Haifa seit dem Angriff der Hamas?
Mein Leben hat sich komplett verändert. Ich schreibe nichts, außer kleine Artikel. Die Zeit von damals bis heute fühlt sich an wie ein einziger langer Tag. Es scheint, als höre man in den Ereignissen vom 7. Oktober das Echo der gesamten jüdischen Geschichte. Und diese Geschichte ist lang und tragisch.

Zeruya Shalev, 1959 in einem Kibbuz am See Genezareth geboren, studierte Bibelwissenschaften und lebt mit ihrer Familie in Haifa. Ihre vielfach ausgezeichnete Trilogie über die moderne Liebe – «Liebesleben», «Mann und Frau», «Späte Familie» – wurde in über zwanzig Sprachen übertragen. Zuletzt erschienen ihre Romane «Schmerz» (2015) und «Schicksal» (2021). Zeruya Shalev gehört weltweit zu den bedeutendsten Erzählerinnen unserer Zeit.

erschienen in «Kleine Zeitung», Sonntagsbeilage, 14. Januar 2024
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Beitragsfotos © Jonathan Bloom