Arno Dahmer «Die Nüchternheit der Nullerjahre», ein Kapitel

1. Januar 2019, 10.00 Uhr

Was mag die Essenz des Felskletterns sein? Wenn ich die gesamte Zeit bilanziere, von 1994 bis heute, könnte die Antwort lauten: das Licht.

Licht, das mich die Wand emporträgt wie ein Aufwind. An einem sonnigen, nicht zu heißen Tag, an einem abgelegenen Felsen.

Licht dringt durch Stirn und Schädeldach in mich; erhellt die Nacht, die dort über Jahre geherrscht hat, bis ich nur mehr Licht bin; Licht, Licht, Licht, ein unendliches Strahlen und Gleißen.

Doch ist das Dunkel nun außen, fast überall, jenseits der Felsen; als wäre es in die Welt emittiert.

Wenn ich damals, während meines kurzen Studiums, etwa durch einen Korridor an der Uni gehe, in irgendeinem Hörsaal sitze, scheint Mangel an Licht mein Denken zu beeinträchtigen; ich merke, wie ich in dem Dämmer um mich her nur immer wieder „ja, ja, ja …“ sage – man hält mich für einen Idioten.

Lange Zeit später ist dann – aber nun werde ich gleich pathetisch – das Dunkel mein Schicksal geworden. Mein Augenlicht schwindet. Ich bin fast blind. Trotzdem klettere ich noch immer.

Wie geht das überhaupt? Und vor allem: Wie kam es dazu? Dass ich zu klettern anfing und weiterhin klettere. Davon handelt dieser Blog.

Er handelt allerdings in ein Dunkel hinein, wie jenes, das mich mehr und mehr umgibt. Wer werden seine Leser sein? Wird es welche geben? Liest jemand noch längere Texte oder scrollt man nur durch Newsfeeds?

Noch kann ich am Computer arbeiten. Weiße Buchstaben auf schwarzem Grund, zwei bis drei Zentimeter hoch. Aber lange werde ich es nicht mehr können, es sei denn, ich erlerne die Blindenschrift. Dagegen sträube ich mich. Ein Behinderter will ich nicht sein. Doch wenn man eine eigens für Behinderte erdachte Schrift benutzt, ist man es dann nicht unleugbar und endgültig? Behinderte sind weder alt noch jung, weder Mann noch Frau. Sie sind einfach nur behindert. Sie gehen nicht auf Herren- oder Damentoiletten, sie gehen auf Behindertentoiletten. Sie parken nicht im Parkverbot, sie parken auf Behindertenparkplätzen. Jedoch: Ich schweife ab.

Was ich sagen wollte, ist: Mir bleibt nicht mehr viel Zeit für meinen Bericht. Einen Blog könnte man prinzipiell unendlich fortsetzen; das Web ist geduldig. So aber werde ich mich aufs Wesentliche beschränken müssen.

Ich habe vor, die Namen aller Personen, die hier vorkommen werden, zu ändern. Eine Ausnahme bilden berühmte Kletterer. Man würde ja auch nicht schreiben: „Gerald Röder“ oder „Der Kanzler, der Deutschland von 1998 bis 2005 regierte“. Das wäre ebenso albern wie verwirrend.

Ich selbst werde mich, einer Eingebung folgend, Markus Dengler taufen. Das klingt erdverbunden und mein Lebensweg mag zeigen, dass dies tatsächlich eine Facette meiner Persönlichkeit ist. Der Name im Impressum dieser Seite ist – allen Schlaubergern sei es gesagt – natürlich nicht meiner, sondern der eines entfernten Bekannten, der sich damit einverstanden erklärt hat, dort genannt zu werden. Er liest seine Mails übrigens nicht, geschweige denn Briefe.

Doch tue ich all dies nicht aus Angst vor Verwicklungen, juristischen oder auch nur privaten. Ich hoffe lediglich, auf diese Weise unbefangener schreiben zu können. Vielleicht kann ich überhaupt nur so schreiben, über mich selbst und im Internet. Entweder weil ich ein zurückhaltender Mensch bin oder, wahrscheinlicher, weil ich zur Zeit der Floppy Disks und Wählscheibentelefone geboren wurde, im Jahr 1977. Solche wie mich nennt man heutzutage „digital immigrants“. Und es stimmt: Das Internet ist uns etwas fremd geblieben.

Aber bin ich nicht andererseits ein Inbild des Zeitgeists? Der Unbekannte mit seinem Drang, sich einer virtuellen Öffentlichkeit zu präsentieren, um sich – ja, was? – seiner selbst zu vergewissern?, sich zu behaupten?, darzustellen?, vielleicht gar zu überhöhen? Der letztlich ungreifbare, geradezu unkörperliche Einzelne. Dieses Sich-Zeigen und Doch-nicht-zeigen-Wollen. Ob jemand sich dabei namentlich zu erkennen gibt, mag nicht der entscheidende Punkt sein. Denn ob einer durch Masken spricht, das wissen wir im Netz ja ohnehin nie.

Ihr könnt mich also für lächerlich modern oder peinlich altmodisch halten – das bleibt ganz euch überlassen.

[Der Text ist geplant als eines der ersten Kapitel des in Arbeit befindlichen Romans „Die Nüchternheit der Nullerjahre“. Dieser spielt in der Subkultur der Felskletterer und erzählt die Geschichte einer schwierigen Jugendfreundschaft. Der Roman hat die Form eines fiktiven Blogs.]

 

Arno Dahmer wurde 1973 in Frankfurt am Main geboren. Heute lebt er in Mainz. Er studierte Germanistik, war danach u. a. journalistisch tätig und arbeitet zurzeit als Lehrbeauftragter an der Goethe-Universität in Frankfurt. Er veröffentlichte kurze Prosa in Anthologien und Literaturzeitschriften sowie den Erzählband Manchmal eine Stunde, da bist Du (Mirabilis, Klipphausen/Miltitz, 2017). Arno Dahmer nahm an der von Kurt Drawert geleiteten Darmstädter Textwerkstatt teil und erhielt für seine literarische Arbeit einige Stipendien sowie einen Sonderpreis beim Uslarer Literaturpreis. Bei kul-ja! publishing erschien im März 2023 sein Roman «Ein Mythos von mir». Aktuell arbeitet Arno Dahmer an seinem neuen Roman, der voraussichtlich 2026 bei kul-ja! publishing erscheint.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Julia Kulewatz

J. M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer – Sprachsalz Kufstein

Ein alt gewordener Maestro, dessen Chopin-Interpretationen den Pianisten berühmt machten, wird nach Barcelona an ein Konzert eingeladen. Zwischen Beatriz in den Mitvierzigern, Mitorganisatorin und Ehefrau eines Bankiers, und ihm entfacht eine Beziehung aus gnädiger Zuwendung und leidenschaftlicher Liebe. Der Nobelpreisträger überrascht mit einer «Künstlernovelle», die zwischen Befremden und Faszination pendelt.

Der Pole hätte einen Namen. Witold Walczykiewicz. Aber weil ihn niemand in dem gediegenen Kreis, in der Sala Mompou in Barcelona aussprechen kann, nennen ihn alle nur den Polen. Witold Walczykiewicz ist Pianist, eingeladen nach Barcelona, um ein Konzert zu geben, einer der bekanntesten Chopininterpreten, auch wenn er mit seinen 70 Jahren seinen Zenit wahrscheinlich schon überschritten hat. Man beauftragt die Mitorganisatorin Beatriz, sich dem Pianisten anzunehmen, mit ihm nach dem Konzert den Abend mit einem Essen zu beschliessen. Beatriz ist sich nicht sicher, was sie von dem Auftrag halten soll, erst recht nicht, weil sich schon vom ersten Moment an, selbst während des Konzerts, ein seltsames Gefühl der Distanziertheit dem um eine Generation älteren Künstler einschleicht.

Der Pole erweist sich als galant, wenn auch etwas hölzern, was auch daran liegt, dass er die einzig gemeinsame Sprache, das Englische, bei weitem nicht so gut beherrscht wie Beatriz. Beatriz spürt, dass ihr Gegenüber weit mehr in dem Zusammentreffen sieht als sie selbst. Aber man verabschiedet sich höflich. Wenig später treffen immer wieder Nachrichten ein. Nach etlichen sprachlichen Umgarnungen, auf die Beatriz meist nicht einmal antwortet, schreibt Witbold: Sie beschützen mich. Ich spüre Frieden in mir. Ich sage zu mir, ich muss sie finden, sie ist mein Schicksal. Eine Nachricht, die sie gleichermassen verunsichert wie schmeichelt und betört. Sätze, die in ihrer erkalteten Ehe Lichtjahre entfernt liegen, die mehr Resonanz finden, als ihr lieb ist, versucht sie doch mit allen Mitteln, Witolds Begehren kleinzureden.

J.M. Coetzee «Der Pole», S. Fischer, aus dem Englischen von Reinhild Böhnke, 2023, 144 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-10-397501-7

Aber als Witold sie einlädt, sie nach Brasilien mit auf seine Konzerttour zu begleiten und ihr Mann, nachdem sie diesem vom Ansinnen des Pianisten erzählt, dem nur wenig Beachtung zu schenken scheint, bricht sie vorerst den Kontakt ab, bis sie den Künstler dann doch in die Finca ihres Mannes auf Mallorca einlädt, auf neutrales Terrain, in ein Anwesen mit einem Nebengebäude, in das sie den Gast einquartiert. Das seltsame Gefühl der Verunsicherung, des Misstrauens dem um mehr als 20 Jahre älteren Besuch bleibt, auch wenn dieser zurückhaltend bleibt. Aber an einem der Abende, sie essen gemeinsam in der Finca, sagt Beatriz: Ich werde die Hintertür nicht abschliessen. Wenn du dich einsam fühlst in der Nacht und einen Besuch machen willst, bitte. Es werden vier Nächte, die sie gemeinsam verbringen. Nächte in bedeckter Leidenschaft. Nächte, die für Witold alles bedeuten und für Beatriz nur Gabe sind. Beatriz macht nach der letzten Nacht Schluss, kühl und unmissverständlich. Witold reist ab und die beiden sehen sich nie wieder. Es treffen zwar noch immer Nachrichten ein, die Beatriz aber meistens nicht einmal liest.

Jahre später erreicht sie die Nachricht, Witold Walczykiewicz sei nach langer Krankheit in Polen, in seiner Heimatstadt Warschau gestorben. Telefonisch erfährt sie von dessen Tochter, dass in der Wohnung ein Karton auf sie warte, eine Hinterlassenschaft. Und weil sich die Überführung dieses Kartons komplizierter erweist als angenommen, reist Beatriz nach Polen, lässt sich die Wohnungstür öffnen und findet einen Karton mit einem Manuskript. Fast hundert Gedichte und Begleittext. Beatriz verbringt eine Nacht in der kalten, überraschend einfach eingerichteten Wohnung des Verstorbenen und beschliesst die Gedichte übersetzen zu lassen. Liebesgedichte an sie, leidenschaftliche Anbetungen an eine Liebe, die so nicht sein konnte. 

Beatriz fühlt sich vom Umstand, dass da ein Mann war, der seine letzte Lebenszeit an den Tasten einer Schreibmaschine verbrachte und stets sie vor Augen hatte, mit eigenartigem Befremden und einem Glück, das sie verunsichert. Als Witold lebte, erbarmte sie sich seiner, gab ihm, was er begehrte, auch seinen Tod scheint das Schicksal Beatriz viel tiefer zu bewegen, bis hin zu einem seltsamen Gefühl des Glücks.

„Der Pole“ ist ein seltsames, überraschendes Buch, vor allem dann, wenn man schon mehr von J.M. Coetzee gelesen hat. Aufgegliedert in kurze, durchnummerierte Texte, bleibt was geschieht in einem eigenartig kühlen Licht. „Der Pole“ ist keine Liebesgeschichte, weil sie aus der Sicht der Katalanin geschrieben ist und einem der alte Mann während des Lesens eigentlich bloss Leid tut. Beatriz mag seine Chopininterpretationen nicht, sie mag sein Auftreten nicht, seinen alten Körper, nicht einmal seine Gedichte, seinen ganz persönlichen, leidenschaftlichen Nachlass. Und trotzdem gab sie ihm Anlass genug zu glauben, sie wäre der angestrebte „Frieden“ in seinem Leben. Man mag Beatriz nicht während des Lesens, man versteht sie nicht einmal, so wenig wie sie sich selbst.

„Der Pole“ ist ein kurzer, konzentrierter, äusserst raffiniert komponierter Roman, der mich mit einer guten Portion Ratlosigkeit zurücklässt, die den Roman nachhaltig macht.

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren wurde und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für «Leben und Zeit des Michael K.» und 1999 für «Schande». 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Reinhild Böhnke wurde 1944 in Bautzen geboren und ist als literarische Übersetzerin in Leipzig tätig. Sie ist Mitbegründerin des sächsischen Übersetzervereins. Seit 1998 überträgt sie die Werke J. M. Coetzees ins Deutsche, ausserdem hat sie u.a. Werke von Margaret Atwood, Nuruddin Farah, D.H. Lawrence und Mark Twain ins Deutsche übertragen.

Beitragsbild © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenes feld

Jane Wels Gedichtband «Schwankende Lupinen» ist eine Sammlung ganz zarter Gedichte, durch die man den Wind der Erfahrung spürt, die Fähigkeit, in die Stille hineinzuhören. «Schwankende Lupinen» begleitete mich eine wunderbare Weile auf meinem Nachttisch und im Zug und ist zu einem Freund geworden.

Ich mag Gedichte, zu denen ich keinen Schlüssel brauche, die sich nicht restlos erschliessen müssen, aber denen ich mich mit jedem Mal Lesen näher fühle. Gedichte, die mich mit offenen Armen empfangen und sich mir nicht spröde verweigern oder mit Geheimniskrämerei auf Abstand bleiben. Die Gedichte von Jane Wels sind Blicke durch aussen ins Innen, spiegeln Aussenwelten in Innenwelten und umgekehrt. Sie ergründen das Schreiben, die Zeichen der Welt, der Natur. Man glaubt im Rücken der Dichterin zu sitzen, mit ihr hinaus in den Garten zu schauen und manchmal über die Schulter auf das Blatt Papier, auf das sich die Spur ihrer Gedanken legt.

Ich will die Sprache vernähen
zu einem Quillt aus Worten,
die keinen Schatten werfen
und schweigen,
wie ein fliegendes Papiertaschentuch
oder der rote Faden,
der sich verliert.

Ihre Gedichte sind Erinnerungen, Gedanken, manchmal schaftkantige Beobachtungen. Bilder, Geräusche, Gerüche und Düfte, die sich in filigranen Sprachgebilden offenbaren, die nacherleben lassen, was in den Traumfängern der Dichterin hängen bleibt. Bilder, die sich manchmal abstrahieren, die feinen Skizzen gleichen, auf Japanpapier gezeichnet, meist nur kurz, als wären es ein paar wenige, vieldeutige Schriftzeichen.

Diese Tage schreiben
neue Ränder in die Zeit,
lösen Schichten, 
die Gespinste tragen
und Nachtpfauenaugen.

Jane Wels «Schwankende Lupinen», edition offenses feld, 2024, 80 Seiten, CHF ca. 27.90, ISBN 978-3-7597-2115-0

Lupinen sind aufrechte Gartenblumen, in vielfältigen Farben. Der Name stammt vom lateinischen lupus. Blumen, deren Samen giftige Bitterstoffe enthalten, die bei der wilden Gartenlupine zu Atemlähmungen führen können. So schön und üppig die Blume, so heimtückisch ihre Frucht. Ganz anders die Wirkung dieser Gedichte. Auch sie erzeugen Wirkung, nehmen einem zuweilen durch ihre Dichte, ihre Intensität den Atem.
Sie sind keine vergeistigten Konstrukte. Es ist, als würde die Dichterin im Traum leise flüstern. Es sind weder Rätsel noch Abgründe. Jane Wels nimmt mich mit in ihre feine Art des Sehens.

Leere Mengen
streuen Fragen
in die trauernden Felder
des existierenden Nichts
wuchern Suchbewegungen.
Wer ist Ich?

Wenn Sie es mögen, dass sie Sprache begleitet, wenn ein Büchlein das richtige Format hat, um im Herbst in der Brusttasche ihres Sakkos mitzureisen oder wenn sie stille Bilder brauchen, die sie aus den Wirren eines Tages lotsen – oder darüber hinaus, dann lesen sie «Schwankende Lupinen» von Jane Wels!

Der frühe Morgen zieht einen Scheitel in den Tag,
kämmt ihm die Knoten aus dem Schlaf.
Unschärfen mischen sich
mit dem Duft von weissem Tee.
Als wir ein Sternbild waren,
nannten sie uns Wolf.

(Die vier Gedichte sind aus dem Band «Schwankende Lupinen». Ich danke der Autorin für die Erlaubnis, diese zu veröffentlichen.)

Jane Wels, geb. 1955 in Mannheim, lebt im Nordschwarzwald. Sie studierte Entwicklungspsychologie, Pädagogik und Medienwissenschaften und arbeitete als Sozialtherapeutin, Sexualpädagogin, Heilpraktikerin Psychotherapie. Wels veröffentlichte in Zeitschriften und auf Onlineplattformen. Der vorliegende Band ist ihr Buchdebüt.

Das 67. Literaturblatt macht sich flugfertig.

Die Schnepfenvögel sind eine Familie der Vögel aus der Ordnung der Regenpfeifer. Die vor allem auf der Nordhalbkugel brütenden Arten sind durch ihre meist langen Schnäbel und Beine gekennzeichnet. Viele Schnepfenvögel sind Langstreckenzieher, die auf der Südhalbkugel überwintern. Die Pfuhlschnepfe fliegt auf Ihrem Weg in das Winterquartier bei Neuseeland oder Australien die Strecke von Alaska nonstop. Einige Arten, wie das Thorshühnchen, überwintern in planktonreichen Zonen der großen Ozeane weitab von der Küste. Die Bezeichnung Schnepfe leitet sich vermutlich aus dem althochdeutschen «snepho», «sneppe» für Schnabel ab und hebt das markante Merkmal dieser Vögel, der lange und biegsame Schnabel, der auch als Tastorgan eingesetzt wird, hervor. 

Douglas Stuart „Young Mungo“, Hanser Berlin – Sprachsalz Kufstein

Der heilige Mungo ist Schutzpatron einer Kathedrale in der schottischen Stadt Glasgow. Aber die Heiligen scheinen Glasgow vergessen zu haben. Im zweiten Roman des in Glasgow aufgewachsenen Autors Douglas Stuart stemmt sich der nicht einmal 16jährige Mungo gegen grassierende Gewalt, toxische Männlichkeit und selbstzerstörerische Ausweglosigkeit.

In den 1970er und 1980er Jahren wurden in der Arbeiterstadt Glasgow eine ganze Reihe Minen und Fabriken geschlossen. Eine ganze Stadt rutschte in Massenarbeitslosigkeit. Noch heute gilt Glasgow als eine jener Städte mit massiver Jugendkriminalität und überdurchschnittlich hohem Drogenkonsum. In Douglas Stuarts preisgekrönten Debüt „Shuggie Bain“ war dieses düstere Szenario schon einmal Kulisse für einen Roman, der zwischen Zartheit und Brutalität hin- und herpendelte.

Mungos Mutter ertrinkt in ihrer Alkoholsucht und schnappt nach den Resten eines Lebenstraums. Nichts ist geblieben nach einer frühen Ehe, drei Kindern, dem Tod des Mannes, bevor Mungo, der Jüngste, zur Welt gekommen war und der Aussichtslosigkeit, der Familie den erhofften Halt geben zu können. Hamish, der älteste, gibt den Ton in seiner Gang ein, vertickt Drogen und lechzt dauernd nach der nächsten Konfrontation mit den verfeindeten Gangs, den Katholiken, wilden Gewaltorgien, bei denen keine Regeln gelten und man bis zum Äussersten geht. Mungos Schwester Jodie versucht ihrem jüngeren Bruder das zu geben, was die meist abwesende Mutter längst vergessen hat, ein Nest, ein bisschen Wärme, in all der Grobheit etwas Zärtlichleit. Die Mutter nicht da und wenn doch im Suff, der Bruder in Sorge, dass aus Mungo kein richtiger Mann werden würde, denn alle um Mungo herum spüren, sehen und wissen, dass der grosse Junge mit dem tiefen Blick und den schmalen Händen anders ist als die meisten anderen.

Douglas Stuart «Young Mungo», Hanser Berlin, 2023, übersetzt aus dem Englischen von Sophie Zeitz, 416 Seiten, CHF ca. 37.90, ISBN 978-3-446-27582-9

Mungo lernt James kennen, einen Jungen aus der Nachbarschaft, Halbwaise wie er. Aber James ist Katholik, kaum ein Steinwurf von ihm weg und doch in einer anderen Welt. James eigentliches Zuhause ist ein Taubenschlag auf dem Dach seines Hauses, den er einst, nach dem Tod seiner Mutter, zusammen mit seinem Vater gebaut hatte. Zwischen Mungo und James wächst eine Schicksalsgemeinschaft. Zum einen, weil sie beide hoffen, dereinst diesen Ort verlassen zu können. Zum andern, weil sie spüren, dass zwischen ihnen etwas zu wachsen beginnt, eine Liebe, ein Begehren, dass dort nicht sein kann und darf.

Mungo hat in seiner Welt keinen Platz. Auf einem Ausflug, zu dem man ihn mehr zwingt als drängt, zusammen mit zwei zwielichtigen Gestalten, wird Mungo nicht bloss aufs Übelste missbraucht und in eine ausweglose Rolle gezwängt, sondern in Situationen manövriert, die ihn zu dem zwingen, was ihm eigentlich widerstrebt, woraus er sich halten will, nicht zuletzt darum, weil ihm sein Freund James unmissverständlich zu spüren gibt, dass es eine gemeinsame Zukunft nur dann gibt, wenn er aus dem scheinbar Vorgegebenen, Unausweichlichen aussteigt.

Am Schluss des Romans kehrt Mungo abgekämpft, blutverschmiert und verwundet in seine Strasse zurück in ein Leben ohne Hoffnung und Perspektive. „Young Mungo“ liest sich nicht leicht. Eine beinah dystopische Welt, die aber in den 80ern spielt, in einer Stadt, die den Menschen die Zukunft genommen hat, in einer Gesellschaft aus Gewalt und verbaler Gewalt, einer Welt, in der es keine Entscheidungen mehr gibt nur den von den Zwängen des Überlebens vorgezeichneten Pfad. Der Roman lebt von Gegensätzen, dort die Momente des Friedens zwischen Mungo und seiner Schwester Jodie oder die Zartheit in den zaghaften Zärtlichkeiten zwischen Mungo und seinem neuen Freund James. Dort die Entgleisungen der Mutter, die Gewalt in verkommenen Mietskasernen, die Schlachtzüge der verfeindeten Gangs, die Vorstellungen dessen, was Männer und Frauen sein müssen.

Was an Liebe und Zärtlichkeit in einem stinkenden Meer aus roher Gewalt und tiefem Hass schwimmt, reicht nicht aus, um sich zu befreien. „Young Mungo“ ist von shakespearescher Kraft und apokalyptischer Intensität.

Douglas Stuart, geboren und aufgewachsen in Glasgow, studierte am Royal College of Art in London. Nach seinem Abschluss zog er nach New York, wo er als Modedesigner arbeitete. Für seinen ersten Roman, Shuggie Bain, der in 40 Ländern erschien und zum Weltbestseller wurde, erhielt er den Booker Preis 2020. «Young Mungo» (2023) ist sein zweiter Roman.

Sophie Zeitz, 1972 geboren, lebt in Berlin. Sie übersetzt aus dem Englischen, u. a. Werke von Henry David Thoreau, Joseph Conrad, John Green und Marina Lewycka und ist dafür mehrfach ausgezeichnet worden.

Beitragsbild © Clive Smith

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller

Bei vielen Leserinnen und Lesern scheint die Frage, ob ein Buch ein Stück abgebildeter Realität sei, eine wahre Geschichte, oder reine Fiktion, ein Spiel mit Realem, so zentral wie nie zuvor. Evelina Jecker Lambreva treibt eben diese Spiegelungen zwischen Realem und Fiktionalem bis auf die Spitze – erfrischend und mit tiefgründigem Scharfsinn.

Fabiana Bianchi ist eine angesagte Krimiautorin. Ihre Bücher scheinen ein nach Crime hungerndes Publikum längst von selbst zu finden. Wo sie auftritt, füllt sie Säle, ihre Bücher verkaufen sich sensationell. Sie geniesst ihren Erfolg, ist sich ihrer Wirkung auch auf der Bühne sicher, geniesst die Zuwendungen ihrer Fans. Aber bei der Präsentation ihres neusten Romans meldet sich während der Lesung ein Mann in der ersten Reihe und behauptet, sie habe die Geschichte im Buch gestohlen, das sei seine Geschichte und er sei nie gefragt worden, ob sie so einfach Gegenstand eines Buches werden dürfe; die Geschichte einer zerrütteten Familie, eines Verbrechens. Und als er ihr beim Signieren mit einem Prozess droht und sie auch auf den darauf folgenden Lesungen in den Metropolen Europas verfolgt, wird aus dem Vorwurf, den Drohungen ein Alp, der Fabiana Bianchi bis ins Mark erschüttert. Fabiana weiss nicht, wie ihr geschieht.

Evelina Jecker Lambreva «Mein Name ist Marcello», Braumüller, 2024, 240 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-99200-362-4

Eine sehr plausible Situation, gibt es doch im Literaturbetrieb immer wieder solch wirre und unkontrollierbare Situationen, die nicht nur ein Buch verhindern, sondern Schreibenden ihre Existenz rauben können. Aber während der Lektüre wird sehr schnell klar, dass es Evelina Jecker Lambreva nicht in erster Linie darum geht, wie Literatur mit Realem umzugehen hat. Sie erzählt auch die Geschichte von Paolo Privoli, eines erfolgreichen Kunsthändlers, der es mit Geschick und Glück von ganz unten bis nach ganz oben geschafft hatte. Er, der sich auch für Literatur interessiert, ein leidenschaftlicher Leser der Kriminalromane von Fabiana Bianchi ist, sitzt in seiner Stadt in der ersten Reihe und muss feststellen, dass die Frau, die er nur aus Büchern kennt, seine Geschichte erzählt. Eine Geschichte, von der niemand, höchstens seine engsten Vertrauten wissen sollten. Die Geschichte eines Mannes, der als Kind seinen kleineren Bruder durch seine unstillbare Lust nach Macht ins Unglück treibt. Von einer Mutter, die nicht zu lieben vermag, einem Vater, der sich in seiner Verzweiflung umbringt und einem Grossvater, der zum Tyrannen wird. Eine Vergangenheit, eine Geschichte, die er nicht nur durch fünf Jahre Gefängnis hinter sich lassen wollte.

Fabiana Bianchi kann sich die Vorwürfe des Mannes nicht erklären und sämtliche Versicherungen, die Geschichte sei ganz und gar ihrer Fantasie entsprungen, perlen an dem aufgeschreckten Mann ab. Im Laufe des Romans entwickelt sich eine Art Duell. Dort die Frau, die sich an den Alp in ihrer Kindheit zurückgedrängt fühlt, dort der Mann, der glaubte, sein Leben in absolute Kontrolle getaucht zu haben und feststellen muss, dass ein Buch sein ganz eigenes Trauma offenbart.

Aber dabei bleibt es nicht. Evelina Jecker Lambrevas Roman zwischen Krimi und Verwirrspiel, zwischen Familiengeschichte und Vergangenheitsbewältigung stellt zwei Menschen einander gegenüber, die sich beide auf ihre Weise mit ihrer Kindheit, den dunklen Flecken in ihrer Vergangenheit konfrontiert sehen. Bin ich der, den ich mit Akribie selbst inszeniere oder doch nicht durch die Poren meiner Fassade das, was ich nie zu verdauen in der Lage war? Evelina Jecker Lambrevas Wissen um die Vielschichtigkeit menschlichen Seins macht das Spiegellabyrinth, durch das ich mich als Leser winde, verständlich. Unser Innenleben ist verschachtelt, voller dunkler Sackgassen und tückischer Geheimnisse.

„Mein Name ist Marcello“ ist voller Überraschungen, liest sich wie ein Thriller, der sich immer und immer wieder meinen Interpretationen verweigert. So wie die menschliche Seele ein Labyrith ist, so gibt sich die Lektüre dieses Romans.

Interview

 „In each of us there is another whom we do not know…“, ein Zitat von C. G. Jung, ist Deinem Roman vorangestellt. Wären wir uns dessen mehr bewusst, wäre das Verständnis für die Schattenseiten anderer wohl viel grösser. Du bist Psychiaterin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und damit prädestiniert, den Spalt hinter Fassaden zu finden. Ist das Schreiben auch ein Ventil?
Ein Ventil? Mein Beruf hat mich zwar schon immer zum Schreiben inspiriert, mit den Themen, die sich aus den Gesprächen mit meinen Patientinnen und Patienten ergeben, aber das Schreiben als Ventil habe ich noch nie gebraucht. Ich wüsste auch nicht, wozu ich ein Ventil bräuchte. Viel mehr dient mir das Schreiben für die persönliche Auseinandersetzung mit mir selbst, indem ich versuche, eben diese „andere“, die in mir verborgen ist, kennenzulernen. Für mich habe ich sogar die Worte von C.G. Jung so perephrasiert: „In jedem von uns lebt noch einer/eine, den/die wir nicht sein wollen.“ Genau diese möchte ich durch das Schreiben besser kennenlernen: die ich nicht sein möchte, die aber trotzdem irgendwo (auch) mein Inneres bewohnt.

Fabiana Bianchi ist eine überaus erfolgreiche Krimiautorin. Derer gibt es viele, man denke an Donna Leon oder Charlotte Link. Autorinnen, die Buch an Buch veröffentlichen, Bestseller an Bestseller reihen und mehr als gut von ihrem Schreiben leben können. Doch eigentlich die Ausnahme, denn die meisten AutorInnen leben mehr schlecht als recht von ihrer Schriftstellerei. Aber wie jede Person, die sich im Focus einer breiten Aufmerksamkeit bewegt, hat diese Popularität auch seinen Preis. Verkauft eine erfolgreiche Künstlerin, ein erfolgreicher Künstler mit seinem Ruhm nicht auch ein Stück seines Lebens?
Natürlich tut er/sie das. Vermarktung der Intimität ist heutzutage hoch im Trend. Für mich ist es jedoch unklar, wie bewusst ein Künstler/eine Künstlerin so was macht. Ich glaube kaum, dass es viele Schriftsteller und Schriftstellerinnen gibt, die ganz gezielt ihr Leben für Geld an das Lesepublikum verkaufen. Vielleicht ist es bei einigen eher ein Bedürfnis, das eigene Leben in die Welt hinauszuschreien, hinauszuweinen, auszukotzen, mitzuteilen? Man kann dieses Bedürfnis aber auch diskret verschlüsselt und eingepackt in Figuren, Metaphern oder Allegorien ausleben, derart, dass nur der Künstler/die Künstlerin weiss, dass es sich um sein/ihr Leben handelt. Somit wird auch der finanzielle Profit eines Verkaufs fern vom Bewusstsein gehalten.

Naviglio Grande, Milano @ Evelina Jecker Lambreva

In den unendlichen Möglichkeiten menschlichen Lebens ist die Wahrscheinlichkeit, dass man mit seinem Schreiben die Wirklichkeit eines fremden Menschen trifft, nicht so verschwindend wie man glaubt. Du als Schriftstellerin hoffst doch auch, dass Leserinnen und Leser sich in Deinen Geschichten gespiegelt sehen oder sogar wiedererkennen. Ist das nicht genau die Resonanz, die man als Schreibende erhofft?
Schriftsteller/Schriftstellerin sein, ist ein einsames Schicksal, so denke ich. Wenn ich schreibe, denke ich nie an die potentiellen Leserinnen und Leser, nicht an Rezensentinnen und Rezensenten, nicht an die Medien. Ich bin allein in der Auseinandesetzung mit meinen Gedanken, Stimmungen, Atmosphären, Heldinnen und Helden. Die Lesenden müssen sich nicht unbedingt in meinen Geschichten wiedererkennen oder sich darin gespiegelt sehen. Von mir aus können meine Figuren auch befremdend, schrecklich, sogar abstossend auf das Lesepublikum wirken. Das würde mich gar nicht stören, wenn es so wäre. Viel wichtiger ist es mir, dass ich durch meine Figuren die Leserschaft zu neuen Gedankenanstössen anregen kann. So hoffe ich auf eine Resonanz zu den Lebensthemen, die ich in meinen Werken durch meine Heldinnen und Helden behandle. Dies aber erst, wenn das Buch veröffentlicht ist, nicht während des Schreibens.

Beide Protagonisten kommen aus Familien, die ihnen nicht geben konnten, was man jedem Kind wünscht. Beide tragen einen Alp mit sich herum. Ich bin Sohn und Vater und weiss sehr genau, wie tief die Schluchten sein können, an denen man sich als Mutter oder Vater vorbeihangelt. Mittlerweile lebt eine ganze Industrie von den Auswirkungen dieser Untiefen. Und auf der anderen Seite die Literatur; Bücher, die sich in den Untiefen tummeln, Bücher, die bewusst machen. Du schreibst Deine Bücher ja auch nicht zur blossen Unterhaltung und Zerstreuung. Wo liegt das Urmotiv dieses Romans? Wie kamst Du zu dieser Idee?
Beziehungen zwischen Eltern und Kinder haben einen zentralen Platz in all meinen Werken. Vielleicht hängt das mit meinem Beruf als psychoanalytisch orientierte Psychotherapeutin zusammen, denn bei mir gehen Medizin und Literatur Hand in Hand. Das Urmotiv meines Romans kam von einem Mord, den ich als Falldarstellung an einem Studentenunterricht präsentiert habe. Während ich den Studentinnen und Studenten den Fall schilderte, lief plötzlich im Hintergrund der ganze Romanplot in meinem Kopf ab, wie in einem Film. Mehr dazu möchte ich nicht sagen, da ich nicht in eine Situation der Arztgeheimnisverletzung geraten möchte.

Das Städtchen mit dem Namen einer Heiligen in Ligurien @ Evelina Jecker Lambreva

In Deinem Roman geht es viel um Macht. Paolo Privoli kompensiert die Machtlosigkeit, die ihn als Kind ins Abseits drängte mit der Sehnsucht, Macht auszuüben. Macht ist ein grosser Antrieb, der in Politik und Wirtschaft aber allzuoft, hauptsächlich von Männern, zu Katastrophen führt. Geniessen die Schriftstellerin die „Macht“ über ihre Leserschaft?
Ich habe nicht das Bewusstsein, Macht in irgendeiner Form auf die Leserschaft auszuüben. Wenn ich über Macht schreibe, dann ist das, weil mich Macht interessiert, insofern sie fast immer als unbewusster Kompensationsversuch von in der Kindheit erlebter Ohnmacht auftritt. Die Ohnmacht eines Kindes bewegt mich zutiefst, und was später im Verlauf des Lebens aus dieser Ohnmacht entstehen kann – diese Frage entzündet meine künstlerische Fantasie enorm. Wie sich aus einem ohnmächtigen, systematischer Gewalt ausgelieferten Kind später eine Ärztin, eine Schriftstellerin, eine Mörderin oder eine Rechtsextremistin entwickelt, das ist die Frage, die mich in meinen Texten beschäftigt. Denn das ist und bleibt für mich eines der grossen Geheimnisse des Lebens: Wieso machen psychische Traumata von in der Kindheit erlebter physischer und/oder psychischer Gewalt manche Menschen krank und (selbst)zerstörerisch, andere zu autoritären Herrschern oder gar zu monströsen Diktatoren, und andere wiederum zu hochbegabten Künstlerinnen und Künstlern, sowie zu hervorragenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Dieses Geheimnis, so denke ich, wird wohl nie von der Wissenschaft gelüftet werden.

Evelina Jecker Lambreva, 1963 in Stara Zagora, Bulgarien, geboren, lebt seit 1996 in der Schweiz. Sie arbeitet als niedergelassene Psychiaterin und Psychotherapeutin in Luzern und als Klinische Dozentin an der Universität Zürich. Ihr literarisches Schaffen in deutscher Sprache begründete sie mit dem Gedichtband «Niemandes Spiegel» sowie den Erzählbänden «Unerwartet» und «Bulgarischer Reigen». Bei Braumüller erschienen: «Vaters Land» (2014) «Nicht mehr» (2016) «Entscheidung» (2019) und «Im Namen des Kindes» (2022)

Beitragsbild © Alexander Jecker

Daniel Gräfe «Wir waren Kometen», Danube Books

Liebesgeschichten und „ernsthafte Literatur“ scheinen sich fast auszuschliessen. Die Gefahr, in Kitsch und Sentimentalität zu kippen, ist gross. Die Vergleichswerte an den ganz grossen Liebesgeschichten der Weltliteratur sind hoch gesteckt. Daniel Gräfe hat es gewagt – und gewonnen. Auch wenn in seinem Debüt der Bogen bis an die Grenzen gespannt ist, überzeugt sein Roman mit viel Intimität, grossen Gefühlen, reichen Bildern und überraschenden Sätzen. Auf jeden Fall ein Gewinn!

Zwischen der deutschen und der rumänischen Grenze liegen nicht einmal tausend Kilometer. Und trotzdem sind es Welten. Beide Länder kauen bis in die Gegenwart am Erbe einer menschenverachtenden Diktatur, auch wenn zwischen dem Suizid Hitlers und der Erschiessung Ceaușescus fast ein halbes Jahrhundert liegt. Während die Schatten des Dritten Reiches immer matter werden und man in Deutschland unter einem kollektiven Vergessen leidet, sind viele der rumänischen Schergen von damals noch immer da.

Luba hat es in ihrem rumänischen Dorf nicht mehr ausgehalten, nicht zuhause, nicht in der Schule, schon gar nicht in ihrer gesellschaftlichen Isolation. Im Streit, verraten und enttäuscht verlässt sie Rumänien, mit wenig Gepäck Richtung Deutschland, in der Hoffnung ihr Studium an der Hochschule der Bildenden Künste abschliessen zu können. Aber Geldsorgen zwingen die junge Frau, ihr Studium aufzugeben. Luba streunt durch Berlin, immer auf der Kippe zwischen Sehnsüchten und Hoffnungslosigkeit. Aber der Sommer 2007 soll eine Wende in ihrem Leben bringen. Auch im Leben von Lukas, einem erfolglosen Schreiberling, der sich mehr schlecht als recht in einer Werbeagentur über Wasser hält.

„Sie nickt. Schüttelt den Kopf, schaut aus dem Fenster, doch ihre Pupillen bewegen sich nicht.“

Daniel Gräfe «Wir waren Kometen», Danube Books, 2024, 248 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-946046-41-7

In eben diesem Sommer rettet Lukas Luba durch unerklärliche Entschlossenheit und Mut, der sonst so gar nicht seine Sache ist. Die beiden, eine Schicksalsgemeinschaft Gestrandeter, verbringen einen Sommer der zaghaften Annäherung. Vor allem Luba ist eine Gezeichnete. Was sie in Rumänien erleben musste, will sie um jeden Preis hinter sich lassen, irgendwann nach Italien ziehen, ins Land ihrer Sehnsüchte. Lukas verliebt sich in die fahrige junge Frau. Luba hat, was ihm fehlt; Entschlossenheit und Kompromislosigkeit. Er dümpelt in einem Leben, das nicht in die Gänge kommt und Luba weckt in ihm, was beinahe erloschen wäre.

Aber trotz aller Leidenschaft und Liebe scheitert, was so wundersam begonnen hatte. Sie will weg, weiter, dorthin, wo all ihre Träume in Erfüllung gehen sollen, er traut sich nicht, den Anker aus dem Schlamm zu ziehen. Sie trennen sich, auch wenn die Liebe nicht erloschen ist. Sie reist ab nach Italien, er bleibt. 

„Ich möchte , dass mein Leben kein Missverständis war.“

Jahre später meldet sie sich wieder, ernüchtert, ohne Geld und Aussichten, gestrandet bei einer Freundin. Und weil alle Stricke gerissen sind, reisst Luba zurück in ein Land, dass sie nie mehr betreten wollte. Lukas zu allem entschlossen mit seinem alten Fiesta macht sich auf den abenteuerlichen Weg auf die Suche nach einer Verlorenen. Ein Roadtripp durch die rumänische Pampas, mitten in ein Leben, das von seinem Alltag ebenso weit entfernt ist wie der leidenschaftliche Sommer damals mit Luba.

Kometen kreisen in ganz eigenen Bahnen, scheinen nicht den üblichen Gesetzen zu folgen. Und trotzdem sieht man von ihnen nur den Schweif, das, was sie hinter sich herziehen. Daniel Gräfes Debüt „Wir waren Kometen“ ist mit erstaunlicher Leichtigkeit geschrieben, unverkrampft und erfrischend. Ein vielschichtiger Roman über zwei Leben, die die Gravitation ihrer Vergangenheit auseinandereisst, über Verwundungen, die nie wirklich vernarbten.

© Daniel Gräfe

Interview

Rumänien und seine Geschichte spielen in ihrem Buch eine zentrale Rolle. Was verbindet sie mit diesem Land.
Reisen. Menschen, die ich kennengelernt habe, manche, die mir zu Freund*innen wurden. Eine Liebesbeziehung. Ich mag die Kontraste, das Brüchige und Unfertige des Landes, in das man sich sprichwörtlich noch selbst einschreiben kann. Ich mag den Witz und die Bodenständigkeit vieler Menschen.

Luba und Lukas tragen in ihren Namen zwar die ersten beiden Buchstaben gemeinsam, aber sonst trennen die beiden Welten. Eine der Gemeinsamkeiten, die sie aber doch verbindet, wenn auch zuerst verborgen, sind ihre Verwundungen. Eigentlich ist ihr Roman nicht zuletzt die Aufmunterung, in einer Liebe mit wirklich offenen Karten zu spielen, sich ganz zu öffnen, weil die dünne Haut dieser Vernarbungen doch irgendwann reissen kann.
Zu lieben heisst für mich auch, sich in seiner Verletzbarkeit und Imperfektion zu zeigen und den anderen so liebevoll zu sehen. Sich selbst so anzunehmen und lieben zu lernen, ist die Voraussetzung dafür. Wäre das bei Luba und Lukas bereits so, wäre es für den Roman völlig langweilig. Deshalb verbergen Lukas und Luba nicht nur ihre Verwundungen, sondern kommen selbst nicht mit ihnen zurecht. Dafür projizieren sie, als sie sich ineinander verlieben, ihre Sehnsüchte und Wünsche auf den anderen. Diese liebevoll-brutale Vereinnahmung muss natürlich scheitern. So gebe ich ihnen zwei Drittel des Romans Zeit, selbst ihren Weg zu suchen und den anderen in einem zweiten Anlauf verstehen und kennenzulernen. Ein Prozess, der nie zu Ende ist, aber der richtige Anfang. Ich mag, dass die beiden sich in einem zweiten Anlauf zu finden suchen. Der Roman beginnt dort, wo das Happy End gemeinhin endet.

Luba und Lukas sind nicht dort, wo sie sein wollen. Auch am Schluss des Romans sind sie es nicht. Sie sind noch immer in einem Dazwischen. Zwischen Traum und Realität klafft allzu oft ein tiefer Graben. Luba möchte zeichnen, Lukas schreiben. Beiden droht die Realität, den Traum zu zerstören. Warum ist das ewige Hinterherrennen ebenso zerstörerisch wie der nie gewagte Versuch?
Träume tragen immer auch etwas Radikales in sich – zum Beispiel das Versprechen, eine Version seiner selbst zu sein, die man selbst gestalten darf. Das ist nichts, das man in Gleichmut betrachtet: Man will es unbedingt schaffen oder zaudert ob der Grösse der Aufgabe. Beides bringt einen nicht in den Fluss und Flow, den der Traum in der Realität benötigt. Es braucht die kleinen, konkreten Schritte, die Gelassenheit – aber das ist nur meine Sicht darauf.

© Daniel Gräfe

Im ersten Teil ist Berlin der Schauplatz, ein flirrender Sommer 2007, im zweiten Teil ein abenteuerlicher Roadtripp durch Rumänien und im letzten ein Finale in der Wildnis des Donaudeltas. Dazwischen immer wieder Rückblenden in die Leben der beiden Protagonisten und Auszüge aus Lubas Tagebuch. Wann wird im Schreibprozess klar, wie der Roman gebaut sein muss?
Beim Schreiben muss ich den Moment spüren, warum ausgerechnet dieses Buch auf diese Weise geschrieben werden muss. Ein gutes Zeichen ist, wenn ich mich der Figur und ihrer Besonderheit ganz nah fühle, und wenn ich so konkret zu schreiben beginne, dass im Kleinen ein Metathema auf leichte Art mitschwingt. Wenn das stimmt, kann ich den Roman bauen – und das auf unterschiedliche Weisen. Bei „Wir waren Kometen“ war mir wichtig, dass der Bau Imaginationsräume für die Leser*innen schafft, die sie selbst erkunden müssen, der Roman aber auch spannend bleibt. Ich habe aber auch gemerkt, dass ich meiner zweiten Hauptfigur Luba noch mehr Platz einräumen muss und lasse sie deshalb zeichnen, Tagebücher und Mails schreiben, dass man sie ungefiltert sieht.

Ist „Wir waren Kometen» ein Komet im Leben Daniel Gräfe?
Der Roman ist ein sehr wichtiges Buch für mich, weil auch viele eigene Erfahrungen darin stecken und Themen wie Reisen, Ost-West, Kulturaustausch oder der Culture Clash in der Liebe auch meine eigenes sind. Und natürlich ist er ein dicker Brocken, weil ich einen halben Roman aus ihm herausgeschrieben habe, um ihn trotz der Vielschichtigkeit einfach zu halten, und es bis zur Veröffentlichung so lange dauerte. Aber gerade deshalb hoffe ich, dass sich „Wir waren Kometen“ auch in zehn Jahren noch gut lesen lässt und damit in der Umlaufbahn bleibt.

© Daniel Gräfe

Was mich sehr beeindruckte, waren die kleinen Geschichten in der grossen Geschichte. Manchmal auch bloss einzelne Szenen oder Sätze. Sind Sie im Schreiben ein Sammler oder ein Jäger?
Jäger wissen, was sie jagen und erlegen wollen, das scheint mir zum Schreiben nicht zu passen, so ein Buch wäre vorhersehbar und die Spannung nur behauptet. Ich bin vor allem ein Beobachter, der Eindrücke sammelt, Dinge erst einmal für sich stehen und gelten lässt. Und ich bin ein Empfindender, der Beziehungen herstellt, die eigenen Erfahrungen verknüpft und hinterfragt, sich abermals herantastet, im besten Fall auszusetzen sucht, dass mir der Schreibprozess auch persönlich mehr abverlangt, als ich anfangs zu geben bereit bin. Erst dann würde ich es schreiben nennen.

Daniel Gräfe, geb. 1971 in Biberach, arbeitete in sozialen Projekten in den USA und Ägypten und bereiste nach dem Studium in London recherchierend und schreibend Afrika, Asien und den Nahen Osten. Er arbeitete als Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Ost und West und ist Reporter der Stuttgarter Zeitung. Seine Erzählungen, Reportagen und Lyrik wurden mehrfach ausgezeichnet.

Beitragsbild © Dominique Brewing

Iris Wolff «Einladung ins Ungewisse. Wurzeln uns Einbäume» Chamisso-Preis & Poetikdozentur, Thelem

Neben vielen Beiträgen in Anthologien verfasste die 1977 in Siebenbürgen geborene Schriftstellerin Iris Wolff fünf Romane. Ihr Debüt „Halber Stein“ erschien 2012, ihr letzter „Lichtungen“ im Frühling 2024, der nicht nur bei der Kritik grosse Begeisterung auslöste. Mit „Einladung ins Ungewisse“ macht sich die Autorin Gedanken über das Schreiben.

Für ihre fünf Romane, ihr literarisches Engagement, krönte man Iris Wolff mit mehr als einem Dutzend Preise, darunter den Eichendorff und Solothurner Literaturpreis für ihr Gesamtwerk oder 2024 für „Lichtungen“ den Uwe-Johnsen-Preis. Im Zuge der Verleihung des Chassimo-Preises 2023 hielt Iris Wolff zwei Vorlesungen zu ihrer Poetik und eine Dankesrede, die nun in einem schmucken Bändchen unter dem Titel „Einladung ins Ungewisse“ nachzulesen sind.

Iris Wolff «Einladung ins Ungewisse. Luftwurzeln und Einbäume» Thelem Universitätsverlag, 2024, 74 Seiten, CHF ca. 21.90, ISBN 978-3-95908-715-5

Es mag viele Gründe geben, dass die einen Schreibenden einen Nerv treffen, bei Leserinnen und Lesern, in der Buchbranche und in der Kritik und andere, selbst wenn sie über Jahrzehnte Buch um Buch veröffentlichen, tapfer, auch wenn die Verkaufszahlen ihrer Bücher nie und nimmer für ein Leben als Autorin oder Autor reichen. Iris Wolff lebt von ihrem Schreiben. Was ist an ihrem Schreiben, dass Iris Wolff nicht nur die Sympathien ihrer Leserinnen und Leser entgegenfliegen? Auch dafür gibt es viele Gründe, auch solche, die mit Schreiben direkt nicht einmal etwas zu tun haben. Wer der Autorin bei einer Lesung begegnet, lernt eine Frau kennen, die ohne jegliche Allüren, ihrem Gegenüber mit viel Empathie begegnet und in einer Mischung aus Zurückhaltung und Ehrlichkeit selbst jene für sich gewinnt, die ihren Büchern skeptisch begegnen.

„Schlimmer als das Verschwinden ist das Vergessen.“

Iris Wolffs Schreiben ist wie ihre Erscheinung, ihr Auftritt; authentisch, ehrlich, direkt und unverkrampft. So auch ihre Gedanken über das Schreiben. In „Einladung ins Ungewisse“ theoretisiert Iris Wolff nichts. „Einladung ins Ungewisse“ ist eine Selbstvergewisserung, eine Schule des Sehens, der Versuch, Fragen nicht endgültig zu beantworten, sondern sie schreibend einzukreisen. Vielleicht ist die Umschreibung „Schule des Sehens“ auch deshalb nicht ganz falsch, weil Iris Wolff einen tiefen Bezug zur Malerei hat, weil es scheint, als würde für sie das Schreiben eine Art des Malens sein. Wer malt, erinnert sich. Wer malt, stülpt nach aussen, was verinnerlicht ist.

Iris Wolff Buchlandschaften gründen in ihren Jahren im rumänischen Siebenbürgen, Bildern aus ihrer Kindheit, Räumen und Landschaften, die sich tief einbrannten. Aber Iris Wolff will nicht einfach abbilden, weder Geschichten, noch Leben, weder Landschaften noch Kulissen. Dass ihr vierter Roman „Die Unschärfe der Welt“ heisst, ist literarisches Programm, denn ihre Bücher reissen schon deshalb mit, weil sie Spielraum lassen, weil sie reiben, weil sie mehr Fragen aufwerfen als Antworten geben. Aber auch weil man in ihren Büchern den Respekt vor dem Leben, das Bewusstsein eines unschätzbaren Geschenks spürt. Weil nichts am Schreiben der Autorin abgehoben, vergeistigt oder elitär erscheint. Weil sie mich als Leser ernst nimmt, kein Spiel mit mir treibt. Weil mich die Autorin mitnimmt, denn ihre Erinnerungen sind gespiegelt auch meine Erinnerungen. Weil sich Iris Wolff bewusst ist, wie viel auf dem Spiel steht, wenn das Vergessen zum Programm wird.

„Einladung ins Ungewisse“ macht Mut, nicht zuletzt um die Bücher von Gerhard Meier, Philippe Jaccottet und anderer wiederzulesen.

Iris Wolff, geboren in Hermannstadt, Siebenbürgen. Die Autorin wurde für ihr literarisches Schaffen mit zahlreichen Auszeichnungen geehrt, darunter mit dem Marieluise-Fleißer-Preis und dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für ihr Gesamtwerk. Zuletzt erschien 2020 der Roman »Die Unschärfe der Welt«, der mit dem Evangelischen Buchpreis, dem Eichendorff-Literaturpreis, dem Preis der LiteraTour Nord und dem Solothurner Literaturpreis ausgezeichnet sowie unter die fünf Lieblingsbücher des Deutschen als auch des Deutschschweizer Buchhandels gewählt wurde. Die Autorin lebt in Freiburg im Breisgau.

Iris Wolff «(Er)zählen», Plattform Gegenzauber

Rezension «So tun, als ob es regnet»

Rezension mit Interview von «Lichtungen»

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Max Goedecke

Tom Zürcher «Unberührt», Plattform Gegenzauber

Mein erstes Interview gab ich mit zehn. Ich weiss nicht mehr, wo es war, ob im Garten, im Wohnzimmer oder im Bad vor dem Spiegel, aber ich weiss noch den Anlass: Ich hatte soeben meinen ersten Roman geschrieben. Der Held meiner Geschichte hiess Tschivers Cambel und suchte einen grossen Schatz. Der «Tages-Anzeiger» widmete Tschivers Cambel oder vielmehr mir die Titel-Schlagzeile der Wochenendausgabe:

«Bub schreibt Buch!»

Und so wurde ich selbst zu einem Schatz, nämlich zu dem meiner Mutter, die mich auf ein Podest hob und von unten bis oben anhimmelte – ein Gefühl wie tausend Glühwürmchen im Bauch, selbst wenn man es sich nur vorstellte.

Seither verging kein Tag ohne Interviews. Ich gab sie auf dem Schulweg, auf dem­ Arbeitsweg, im Fernsehen, im Bett und im Radio. Am liebsten im Radio. Ich beantwortete hundertmal Herrn Schawinskis Frage, wer ich sei, und war so oft zu Gast in der­ Sendung «Musik für einen Gast», dass derRedaktion die Platten ausgingen.

Dass ich einmal berühmt werden würde, ahnte ausser mir niemand. Obwohl es schon früh Anzeichen gab, schon mit acht. Ich ging in die zweite Klasse, und die Lehrerin sagte, wer wolle, dürfe nach vorn kommen und ein Märchen erzählen. Sie meinte eines, das man mal gehört hatte, zum Beispiel «Der Froschkönig» oder «Das hässliche Entlein», aber ich hatte nicht aufgepasst und redete einfach drauflos. Als ich fertig war, fragte die Lehrerin, woher ich die Geschichte hätte, die sei neu für sie, und ich sagte, ich hätte sie soeben erfunden. Und dann bat ich, noch einen anderen Schluss erzählen zu dürfen, der mir gerade eingefallen war, und sie war einverstanden, obwohl es geklingelt hatte.

Als ich 18 war, blitzte meine Geniehaftigkeit ein zweites Mal auf. Wieder in der Schule. Wir nahmen gerade den Dadaismus durch, und ich behauptete, solche Gedichte könnte ich auch schreiben, mit links. Mein Deutschlehrer, ein untersetzter, humorvoller Mann, sagte:

«Beweisen Sie es!»

In der nächsten Stunde hatte ich zwei Dada-Gedichte an die Tafel geschrieben und bat den Lehrer, herauszufinden, welches ein echtes Dada-Gedicht sei und welches von mir. Er las und sagte, ihm gefielen beide Gedichte, aber das links sei von mir. Ich musste ihm recht geben. Ich wollte wissen, woran er das erkannt habe, und er sagte, das echte Dada sei eben noch eine Spur raffinierter. Er ging die beiden Gedichte Zeile für Zeile durch und zeigte die Unterschiede auf. Dann wollte er wissen, von wem das echte stamme, von Hans Arp, Max Ernst, Hugo Ball? Ich sagte: auch von Tom Zürcher.

Ich musste 30 werden, bis ein Verlag sich für eine meiner Geschichten interessierte. Er hiess Eichborn, was sich reimt auf: a Star is born. Als der Roman dann im Buchladen stand, wurden auch spezialisierte Kreise auf mich aufmerksam. So lud mich das Literarische Quartett ins ZDF ein, weil Herr Reich-Ranicki mich und mein Werk persönlich in die Mangel nehmen wollte. Doch statt energisch den Kopf zu schütteln und miserabel, ganz miserabel! zu schimpfen, hielt er das Cover in die Kamera und sagte, Mann, krass wie Grass, und es war das erste Mal, dass er krass im Fernsehen sagte.

Ich wollte nie ein Schriftsteller werden. Ich wollte immer ein Texter sein. Während Schriftsteller unter der Bürde wohlformulierter Intelligenzigkeit mit der Zeit bitter und finster werden, bleiben Texter unbekümmerte Handwerker, die alles texten können, was sie wollen. Wenn sie Geld haben, texten sie Theater, Comics und Romane, wenn sie kein Geld haben, texten sie für teures Geld billige Reklame. Aber auch Texter wollen berühmt werden. Ganz besonders, wenn sie schon mit zehn ihren ersten Roman ins Schulheft gekritzelt haben.

Ich wollte einen Bestseller texten, den man nicht mehr weglegen konnte. Ich wollte in aller Munde sein mit einem Buch, das man von der ersten bis zur letzten Seite frass. Ich wollte einen Hit landen, der mich berühmt machte. So berühmt, dass ich auch mal ausserhalb meines Kopfes ein bedeutendes­ Interview geben konnte. Wo es auch andere hörten, allen voran meine Mutter, die dann sagen würde:

«Nun hat er doch noch etwas Vorzeigbares geschafft, wer hätte das gedacht, ich nicht.»

Im Februar letzten Jahres, kurz bevor mein neuer Roman herauskam, starb meine Mutter und machte ihn damit zu meinem letzten. Denn nun gab es keinen Grund mehr, Bücher zu texten, das Feuer war erloschen unter der Asche meiner Mutter. Wozu noch berühmt werden? Das Leben war auch so anstrengend genug, ich war mittlerweile 55. Die fixe Idee, die mich seit klein auf begleitet hatte, löste sich in einem verheissungsvollen Regenbogen auf, an dessen Ende ich endlich Ruhe und Bescheidenheit fand.

Und nun kommt der kulturtipp und bietet mir die Carte blanche an. Die grüne Wiese. Die freie Bühne! Ich dürfe machen, was ich wolle, und natürlich weiss ich sofort, was ich machen will. Ein Interview. Mit mir:

Tom, das ist einfach unglaublich. Du im kulturtipp! Nun scheinst du doch noch berühmt zu werden.

Tja. Wo ich es nicht mehr brauche.

Das nehme ich dir nicht ab.

Ist aber so. Ich bin geheilt.

Du träumst kein bisschen mehr vom grossen Erfolg?

Nö. Sonst würd ich ja weiterschreiben.

Du hast also nicht irgendwo noch ein ­ Manuskript versteckt, an dem du heimlich rumdokterst?

Echt nicht. Ich habe meinen Traum in eine Eisen­kiste gepackt und so tief vergraben, dass nicht mal Tschivers Cambel sie finden würde.

Hat deine Mutter je etwas von dir gelesen?

Wahrscheinlich nicht. Du?

Alles. Und nicht nur gelesen, geschrieben!

Bereit für die letzte Frage?

Was, schon die letzte?

Tom. Wer bist du?

(Erstveröffentlichung: www.kultur-tipp.ch)

Tom Zürcher, 1966 geboren, ist freier Texter. Meistens textet er in Zürich. Er textet alles, was das Leben von ihm verlangt, doch am liebsten textet er Romane. Keine Mitgliedschaften, keine Jurys, keine Pläne. In festen Händen. 2019 war er mit «Mobbing Dick» für den Deutschen Buchpreis nominiert. Im Picus Verlag erschien 2021 sein neuer Roman «Liebe Rock».

 «Der Spartaner» Rezension

Beitragsbild © CH Media/Sandra Ardizzone

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (9)

Siebzig Jahre nach Babyn Jar, dem Massaker nazideutscher Spezial- und Polizeieinheiten unter Mithilfe ukrainischer Milizen an über 33000 Jüdinnen und Juden, Frauen, Männern und Kindern nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiev, gibt Marianna Kijanowska den Opfern in «Babyn Jar.Stimmen» Identität und Würde zurück.

Lieber Gallus

Babyn Jar, ein Wort, das in mir Sprachlosigkeit, Erschütterung, Wut und Erinnerungen auslöst. Zusammen mit unseren Freunden aus Kiev hatten wir vor über 20 Jahren in der Ukraine viele Stätten besucht, wo in Kriegen Leute kaltblütig ermordet wurden. Aber dieses Tal Babyn Jar hat mich am tiefsten beeindruckt, beschäftigt und ist sofort wieder vor meinem inneren Auge präsent.

Der ukrainischen Autorin Marianna Krijanowska ist es gelungen, mit «Babyn Jar.Stimmen» 65 fiktive Menschen sprechen und ihre beklemmenden Momente auf dem Weg zur Ermordung erleben zu lassen. Lesend erinnere ich mich an den Besuch dieser Stätte vor über 20 Jahren, an das erst 1991 errichtete Denkmal und den damals noch kaum zu findenden Weg. Später hatte ich die 13. Sinfonie Schostakowitschs für Orchester, Bass und Männerchor mit dem Namen Babyn Jar auf Schallplatte angehört.

Schostakowitsch, Kondraschin (Dirigent der Uraufführung) und Jewtuschenko am 18.12.1962 (von links)

Der junge russische Dichter Jewgeni Jewtuschenko hatte 1961 ein Gedicht über die Tragödie der Juden in dieser Schlucht veröffentlicht:

«Es steht kein Denkmal über Babi Jar.
Die steile Schlucht gemahnt als stummes Zeichen.
Die Angst wächst in mir.
Es scheint mein Leben gar bis zur Geburt des Judenvolkes zu reichen.»….

das 1991 errichtete Denkmal

Die politischen Schwierigkeiten im poststalinischen Russland konnten die Uraufführung am 18. Dezember 1962 in Moskau nicht verhindern. Die gesamte kulturelle Elite Moskaus erwartete sie mit Ungeduld. Es wurde ein Riesenerfolg. Trotz frenetischem Applaus der Zuhörerinnen und Zuhörern war anderntags in der «Prawda» nur eine knappe Zeile über das Konzert zu lesen. Leider wäre das heute kaum anders!

«Eine Sprache finden für die Sprachlosigkeit» (Ilma Rakusa zu «Stimmen»)

Der Band «Stimmen» macht mich sprachlos, weil hier eine einmalige Sprache von solcher Wucht, aber auch tiefer Schönheit und von musikalischem Klang vorliegt. Dies dank der wunderbaren Übersetzung:

«……und die sonne steht so hoch als wäre sie aufgestiegen
um die stadt von oben zu sehen und wie wir darin sterben
und wie wir zum fluss gehen zu schauen
weil wir getötet werden adelka miriam debora
liegen erschossen in der schlucht ich bin so traurig
das herz ist ein stein und die seele ist durchsichtig
und wird dünner und dünner und das heisst tod………..

Marianna Kijanowska «Babyn Jar. Stimmen» Gedichte, Suhrkamp, 2024,Ukrainisch und deutsch, aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe, mit einem Nachwort der Übersetzerin, 155 Seiten, CHF ca., ISBN 978-3-518-43176-4

Claudia Dathe (Übersetzerin von «Stimmen») schreibt im Nachwort, der Gedichtband sei der Auftakt zu einer Auseinandersetzung der Autorin mit den Mechanismen entfesselter Gewalt und ihrer Auswirkung auf das Dasein. Es soll eine Trilogie entstehen, wo auch die Schrecken des aktuellen Angriffskrieges Putins literarisch in Sprache umgesetzt werden soll.
Auch wenn die Auseinandersetzung und die Beschäftigung mit entfesselter Gewalt anspruchsvoll sind und weil weiterhin weltweit Kriege und Terror unsere menschliche Existenz bedrohen, ist meines Erachtens die Beschäftigung mit dieser dunklen Seite der Menschheit in der Literatur, in der Musik oder im Film sinnvoll und wichtig.

Was denkst du zu diesem Buch?

Herzlich
Bär

***

Lieber Bär

Am 29. September 1941 wurden bei Kiev 33000 Menschen bestialisch ermordet, viele von ihnen aus nächster Nähe, unter gütiger Mithilfe vieler Menschen aus der Stadt, ihrer Nachbarn. Die Prozesse nach dem Krieg waren ein Hohn, eine Aufarbeitung kam erst nach Jahrzehnten schleppend in Gang. Selbst ein Dammbruch 20 Jahre später, der die Knochen jener freilegte, die man nach dem Krieg nicht «entsorgte» und vor die Häuser der Nachbarn spülte, war noch nicht Grund genug, sich dem apokalyptischen Schrecken zu stellen.

Vom 11. bis 19. Juli 1995 verübten serbische Soldaten und paramilitärische Einheiten im bosnischen Srebrenica ein unfassbares Massaker unter den Augen niederländischer Blauhelm-Soldaten. Über 8000 Menschen fanden durch Massenerschiessungen den Tod. Obwohl die Drahtzieher und Organisatoren des Massakers Mladić und Karadžić noch im gleichen Jahr verurteilt wurden und man die Tat als Völkermord taxierte, blieben viele der Täter ungeahndet.

Im Frühling 2022 besetzten russische Truppen den ukrainischen Ort Butscha. Die russischen Soldaten töteten innerhalb wenige Tage wahllos fast 500 wehrlose Zivilisten. Die Toten, die nicht eiligst verscharrt wurden, liess man tagelang liegen. Und selbst nachdem westliche Journalisten den Ort des Grauens erreichten, versuchte die russische Propaganda das Massaker als ukrainische Inszenierung herunterzuspielen.

Die Liste der Ungeheuerlichkeiten liesse sich beliebig erweitern, ob in biblischen Zeiten, im Mittelalter, in den Kolonien … ob im Krieg oder in angeblichen Friedenszeiten, ob unter „Barbaren“, im Namen von Kirche oder Krone … der Mensch, meist männlich, benötigt nicht einmal Raserei. Es reicht Kalkül. Dass sich der Schrecken, ob aufgearbeitet oder nicht, in der kollektiven Erinnerung der Opfer über Generationen festsetzt, wird allzu schnell vergessen. Dass sich die Untaten bis in die Gegenwart ausdehnen und in Nachfolgekonflikten, die sich wie Flächenbrände zu Kriegen auswachsen, ausgeblendet.

Die ukrainische Schriftstellerin Marianna Kijanowska

Ein Denkmal mag zur Erinnerung mahnen, eine Symphonie das Erinnern verstärken. Selbst das 2003 veröffentlichte Dokudrama „Das vergessene Verbrechen“, eine deutsch-belarussische Koproduktion des US-amerikanischen Regisseurs Jeff Kanew, vermag nie das zu erzeugen, was Literatur vermag. Marianna Kijanowska lässt die Stimmen in meinem Kopf sprechen. Ich bin während des Lesens unmittelbar bei ihnen. Die Resonanz dieser Texte ist atemraubend.

Ich war noch nie in Kiev und es wird wohl noch eine ganze Weile so bleiben. Aber mit diesem Buch und der ganzen Auseinandersetzung, die es auslöste, war ich dort. Selbst der ukrainische Text neben der deutschen Übersetzung wirkt. Es ist der O-Ton, der Verweis auf das Tatsächliche. Erstaunlich, was Lyrik zu bewirken vermag. Vor allem dann, wenn eine Autorin wie Marianna Kijanowska bei den Menschen selbst bleibt, nichts abstrahiert oder verschlüsselt. Ein starkes Buch. Und ein wichtiges Stück Selbstvergewisserung.

Soll man das lesen? Unbedingt – auch wenn es einen Schritt mehr braucht.

Liebgruss

Gallus

Marianna Kijanowska, 1973 in Schowka bei Lemberg/Lwiw geboren, debütierte 1997 als Lyrikerin. Übersetzerin aus dem Polnischen, Russischen und Englischen. Für ihren Gedichtzyklus «Babyn Jar. Stimmen» wurde sie 2020 mit dem Taras-Shevchenko-Preis ausgezeichnet. Sie lebt zur Zeit in Krakau.