Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer

Im Takt der Zeit

Katerina Poladjans hochaktueller Roman «Zukunftsmusik» erzählt vom 11. März 1985, einem kalten Tag im fernen Osten Russlands – doch ein neuer Frühling steht kurz bevor. 

Gastbeitrag von Sarah-Sophie Engel
Sarah-Sophie Engel studiert Deutsche Philologie und Kulturanthropologie an der Universität Basel. Ihr Interesse an Menschen und gesellschaftlichen Themen führt sie oft zur Literatur.

Die Zukunft ertönt im Viervierteltakt. Chopins Trauermarsch schallt durch das Radio der Kommunalka an jenem Morgen, an dem Matwej schon früh in der Küche sitzt. Diese Küche befindet sich irgendwo tausende Kilometer östlich von Moskau, in Sibirien – mit etwa drei Stunden Zeitunterschied. Die Töne verbreiten eine finale Stimmung, mit der niemand wirklich etwas anzufangen vermag, denn noch weiss keiner, wer ging und was kommt.

Mit dem Tod des Generalsekretärs wird Gorbatschow das Amt ergreifen und den Zerfall der Sowjetunion einläuten – aber noch gilt weiter, jedes Tun der Bürger und Bürgerinnen ist dem grossen Plan gewidmet. In dem steht auch: jeder Bürger der Sowjetunion hat Anspruch auf neun Quadratmeter. Maria teilt sich mit Mutter, Tochter und Enkelin ein Zimmer. Ihr heimlicher Verehrer, Matwej, wohnt gegenüber und gleich nebenan der alte Professor, der später durch die Zimmerdecke flieht. Die Bewohner:innen der Zimmer am Ende des Ganges spielen auf der häuslichen Bühne kaum eine Rolle, abgesehen von ihrem guten Essen auf dem Herd, von dem sich immer mal wieder jemand heimlich ein Schälchen füllt. 

Auf dem engen Raum der Wohnung bekommt man voneinander einiges mit – vieles auch nicht. Die eigenen Träume werden bewacht und Erinnerungen in kleine Kästchen verstaut, wo sie niemand findet, ausser man selbst. Poladjan erzählt von der Angst bestimmte Dinge laut auszusprechen, von vergangenen und neu beginnenden Leidenschaften und der Sehnsucht nach Schokolade, einer neuen Gitarre oder einfach nur Freiheit. Sie erinnert an Zeiten, in denen die Politik den Menschen nicht gehört – so wie sonst eigentlich auch nichts – und skizziert angesichts der systemischen Enge den Spielraum des Alltäglichen und den Platz in den eigenen Gedanken.

Katerina Poladjan «Zukunftsmusik», S. Fischer, 2022, 192 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397102-6

Maria gesteht Matwej, ein ganzes Lexikon der Angst könnte ich schreiben. Und doch bewahrt sie, trotz ihrer Sorgen, einen sanften Humor und eine Leichtigkeit, die sie träumen lässt von Tango unter Palmen und Ferien in Abchasien. Ihre Mutter ist erstaunt über die Naivität ihrer Tochter und stellt fest: Es gab keine Freiheit, dass das immer noch niemand begriffen hatte. Maria aber kann sie schmecken, die Freiheit. Nach langem Anstehen am Lebensmittelgeschäft, ohne erst zu wissen wofür, ergattert sie Krakauer Würste und auf dem Museumsboden entdeckt sie eine Paillette, ein Überbleibsel einer anderen Welt: Maria legte sich die Paillette auf die Zunge und hatte Gold im Mund. Ob die neue gelbe Bluse, Importware, ihr stehe, will sie wissen – jedenfalls hatte sie so eine noch nie.

Poladjan zeigt, wie unterschiedlich Menschen in ihrem alltäglichen Leben auf ein starres politisches System reagieren, das ihnen nichts schenkt und alles von ihnen verlangt. So ist Matwej stets bemüht, ein «guter Kommunist» zu sein. Und während Maria befürchtet, ihr Leben zu vergeuden und das Glück nie zu finden, schenkt Matwej ihr weiter Cognac ein, mit den Worten: Dass die Menschen immer noch nicht verstanden haben, dass persönliches Glück ohne Allgemeinwohl nicht möglich ist.

Was Poladjans Roman zugrunde liegt, ist die einfühlsame Beschreibung eines historischen Tages auf der Bühne der «kleinen Leute». Sie lässt die Leser:innen die Präsenz einer Politik spüren, die so weit weg scheint und doch eine Enge schafft, in der sich die eigenen Wünsche und Pläne nur schwer entfalten. Zwischen fein skizzierten Figuren finden sich starke Worte. Die zwanzigjährige Tochter, Janka, möchte keinen Mann, sie betet zu Gott noch viele Münder küssen zu dürfen und dafür, dass ihre Lieder gehört werden: Ich erinnere mich an ein Leben, das ich nie gelebt habe und von dem ich hoffe, dass es noch vor mir liegt.

Gegen Ende des Romans lässt Poladjan surreale Nuancen entstehen, die sich ganz ungezwungen einschleichen, was erstmal überrascht, da die Erzählung sonst so solide in der Geschichte verankert zu sein scheint. Allerdings inszeniert Poladjan damit genau diese unsichere Aufbruchsstimmung voller Möglichkeiten, die jener Frühlingstag bei den Bewohner:innen der Kommunalka auslöst.

Poladjan lässt die Leser:innen eintauchen in eine Welt, die zwar vergangen ist, sich aber auf 187 Seiten erneut für sie öffnet. Man ist umgeben von russischer Musik, einer Eiseskälte, liebevoll-witzigen und ernsthaften Dialogen, dem Duft von Schaschlik über dem Feuer. Und zwischen den Zeilen leuchtet die grosse russische Literatur hervor. «Zukunftsmusik» erinnert an die Vielschichtigkeit einer Gesellschaft, die, fernab ihrer Regierung, beim Lesen aufrichtiges Interesse weckt. 

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Katerina Poladjan wurde in Moskau geboren, wuchs in Rom und Wien auf und lebt in Deutschland. Sie schreibt Theatertexte und Essays, auf ihr Prosadebüt «In einer Nacht, woanders» folgte «Vielleicht Marseille» und gemeinsam mit Henning Fritsch schrieb sie den literarischen Reisebericht «Hinter Sibirien». Sie war für den Alfred-Döblin-Preis nominiert wie auch für den European Prize of Literature und nahm 2015 bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt teil. Für «Hier sind Löwen» erhielt sie Stipendien des Deutschen Literaturfonds, des Berliner Senats und von der Kulturakademie Tarabya in Istanbul. 2021 wurde sie mit dem Nelly-Sachs-Preis der Stadt Dortmund ausgezeichnet. «Zukunftsmusik» stand auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse 2022.

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Günter de Bruyn «Die neue Undine», illustriert von Jörg Hülsmann, S. Fischer

Die Geschichte des weiblichen Wassergeist Undine ist alt, der Name Undine indogermanisch, von „Welle“ abgeleitet. Die Urgeschichte aus dem 13. Jahrhundert wurde vielfach nacherzählt, u. a. 1811 von Friedrich de la Motte Fouqué als Märchennovelle und in verschiedenen Varianten auch in anderen Figuren wiederzufinden (Loreley). Günter de Bruyn erzählt die Geschichte neu und doch mit der Patina einer unsterblichen Sage.

Undine, eine junge Frau aus der Wasserunterwelt, will das Menschsein ergründen, verliebt sich und muss ihren Geliebten warnen. Denn einmal verheiratet, muss der Geliebte seine Untreue mit seinem Leben bezahlen und Undine wird verschwinden. Beide Geschichten, jene von Friedrich de la Motte Fouqué und die von Günter de Bruyn sind in dem überaus schmucken Band zusammen mit den Illustrationen von Jörg Hülsmann abgedruckt. So etwas wie der dritte Band, nach „Effi Briest“ von Theodor Fontane und „Sternstunden der Menschlichkeit“ von Stefan Zweig, die alle von Jörg Hülsmann illustriert in jede Bibliothek von BuchliebhaberInnen gehören.

Günter de Bruyn «Die neue Undine», illustriert von Jörg Hülsmann, S. Fischer, 2021, 160 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-10-397041-8

Ein einsames Fischerpaar am Ufer eines grossen Sees geniesst das späte Familienglück bis die Tochter an einem stürmischen Tag verschwindet. Todunglücklich ergeben sich die beiden ihrem Schicksal bis urplötzlich ein Mädchen an ihre Haustüre klopft, tropfnass, unbeeindruckt vom Unwetter in ihrem Rücken. Das Mädchen ist blond, gleich alt wie ihre verschwundene dunkelhaarige Bertalda. Die beiden nehmen das Mädchen auf und sie bleibt bei ihnen, wenn auch immer fremd und dem Wasser zugeneigt. Jahre später verschlägt es einen jungen Ritter zu den Fischern an das Ufer des Sees. Und weil dieser durch ein Unwetter gezwungen ist zu bleiben, verlieben sich die beiden jungen Leute. Der Ritter hält um die Hand Undines an, die ihm gerne in seine heimatliche Burg folgt mit der Warnung, dass er etwaige Untreue teuer zu bezahlen hätte. Zurück am Hof des Ritters wird klar, dass das Mädchen, dem er vor seiner Reise seine Hand versprochen hatte, die verschollene Tochter des Fischerpaars ist, eine junge Frau, die ihre Vergangenheit vergass. Es kommt, wie es kommen muss.

Warum eine alte Geschichte nacherzählen? Weil Sagen mehr als bloss Geschichten sind. Weil sie zum Erbmaterial einer ganzen Kultur gehören. Und wenn solche Geschichten bis zu Ariellefilmen aus dem Hause Disney verniedlicht werden, ist bitternötig, dass man dem alten Erbe kein neues Gesicht, aber ein neues Gewand gibt, keine Adaption in die Moderne, aber in einer Sprache erzählt, die nichts vom sagen-haften Zauber der Urfassungen eingebüsst hat. Und wer kann ein solches Kunstwerk besser als ein alter Meister seines Fachs.

Dass der Verlag S. Fischer bei dieser Veröffentlichung den Illustrator Jörg Hülsmann mit ins Boot nahm, macht aus der Sage einen Buchschatz erster Güte. Kein Buch, das man nach der Lektüre so einfach zwischen andere Bücher ins Regal schieben will. Ein Buch, das Raum nimmt und Raum braucht, dass sich zeigen lassen will, das zur Verführung aufruft, so wie die schöne Wasserfrau aus den Tiefen des Sees. „Die neue Undine“ ist eine literarische Sirene!

Der letzte vom Autor zu Lebzeiten abgeschlossene Text!

Günter de Bruyn wurde am 1. November 1926 in Berlin geboren und lebte seit 1969 im brandenburgischen Görsdorf bei Beeskow als freier Schriftsteller. Er wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u.a. dem Heinrich-Böll-Preis, dem Thomas-Mann-Preis, dem Nationalpreis der Deutschen Nationalstiftung, dem Eichendorff-Literaturpreis und dem Johann-Heinrich-Merck-Preis. Zu seinen bedeutendsten Werken gehören u.a. die beiden kulturgeschichtlichen Essays «Als Poesie gut» und «Die Zeit der schweren Not», die autobiographischen Bände «Zwischenbilanz» und «Vierzig Jahre» sowie die Romane «Buridans Esel» und «Neue Herrlichkeit». Günter de Bruyn starb am 4. Oktober 2020 in Bad Saarow.

Jörg Hülsmann, geboren 1974, studierte Illustration in Düsseldorf und Hamburg. Seit 2003 zeichnet er als freier Illustrator für Buchverlage wie S. Fischer, Suhrkamp Insel, DuMont oder die Büchergilde Gutenberg und für Magazine wie das mare-Magazin, die Frankfurter Rundschau und Das Magazin des Tages-Anzeigers, Zürich.

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Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer

In Kellern lässt sich vieles lagern, verbergen, vergessen. Aber für eine ganz besondere Sorte Mensch kann ein Keller zu einem Lebensraum, einem Lebensspeicher werden, in dem sie horten, schichten, stapeln und selbst in einem scheinbaren Chaos zu ordnen versuchen.

„Das Archiv der Gefühle“ ist ein Roman der Entmaterialisierung, denn was bleibt, ist weder bedrucktes, noch beschriebenes Papier, selbst in der kurzen Einheit eines Lebens. Das einzige, was bleibt, ist der Nachhall von Gefühlen, etwas, das sich weder schichten, stapeln, noch horten lässt. Der Nachhall ist flüchtig.

Man hat den Icherzähler entlassen, nachdem er über Jahrzehnte verantwortlich war über das Recherchearchiv einer grossen Tageszeitung. Einst war er Vorgesetzter einer ganzen Equipe in den Kellerräumen des Unternehmens. Irgendwann war er übrig geblieben, der Letzte, den man entlassen musste. Und weil es in der digitalisierten Gegenwart weder Verwendung für ein Archiv, noch für die Rollregale gibt, liess man das Ganze, nachdem er seinen eigenen Keller im ehemaligen Wohnhaus seiner Mutter geräumt hatte, für wenig Geld und gegen vertraglich abgesicherte Nutzungsbestimmungen in sein Heim abtransportieren. Nicht der letzte Grund, warum ihn seine Frau Anita irgendwann aufgab und verliess.

„Das Archiv verweist nicht nur auf die Welt, es ist ein Abbild der Welt, eine Welt für sich. Und im Gegensatz zur realen Welt hat es eine Ordnung, alles hat seinen festgesetzten Platz…“

Seither spielt sich das Leben des Einzelgängers in den Mauern seines Hauses ab. Was sich nicht durch die wenigen Spaziergänge erledigen lässt, ordert er per Internet. Die Tagesabläufe blieben immer gleich, die Arbeitsstunden am Morgen, das karge Mal zu Mittag, die Arbeitsstunden am Nachmittag, das Buch am Abend.

Peter Stamm «Das Archiv der Gefühle», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-10-397402-7

Aber so sehr er Hüter seines Archivs ist, Hüter gegen das Vergessen, ein Manischer, der immer wieder neue Dossiers anlegt, beseelt davon, Ordnung in sein Leben zu bringen, wird er bedrängt von seinen Gefühlen, den Erinnerungen, der Ahnung, sein Leben verwirkt, vergeudet zu haben. Damals, noch in der Schule, war Franziska seine Freundin. Eine Freundin, in die er verliebt war, die seine Liebe nie verlor, auch als sie sich aus den Augen verloren und sein Leben den Anschein machte, in geordneten Bahnen zu verlaufen. Aber eine Liebe, der er sich nie offenbarte, die immer in der Schwebe blieb, auch als man sich später immer wieder einmal traf und das eine oder andere Mal geschwisterlich in Hotels ein günstiges Zimmer teilte.

Und als in der Gegenwart das Virus das Leben zeitweise zum Erliegen bringt, er seine Spaziergänge aus den Tiefen seines Archivs wieder länger werden lässt, wird auch Franziska immer mehr zu einer Begleiterin seiner Tage, manchmal so real, dass ihr Abbild beinah greifbar wird. Sollte er noch einmal Kontakt aufnehmen? Nach 40 Jahren?

Peter Stamms schrulliger Einzelgänger wendet sich immer mehr ab von jener Welt, die er zu schützen glaubte, immer mehr zu, jenem Gefühl noch eine letzte Chance haben zu müssen, seinem Leben einen Sinn zu geben. Ich mag ihn. Eigentlich hat er alles richtig gemacht und doch droht er, alles zu verlieren. Der Eigenwillige hat etwas von einem Künstler, einem Kämpfer, der sich nicht um ein Publikum schert.

Aus Franziska wurde Fabienne, ein Name, der sich auf der Bühne als Sängerin besser verkaufen liess. Aber auch ihr Leben ist aus der Spur geraten, vielleicht schon viel länger, als die Berichte in den Medien erahnen liessen. Durch einen ehemaligen Kollegen bringt er den Wohnort seiner ehemaligen Freundin in Erfahrung. Und während sich ihr Abbild immer mehr materialisiert, beginnt sich der Mann von der tonnenschweren Last seines Archivs zu entfernen.

Peters Stamms Sprache ist glasklar, seine Geschichte beinahe schlicht. Es ist das, was er mit seinem Erzählen in mir als Leser auslöst. Was machen Erinnerungen mit mir? Welches Bild von mir und der Welt trage ich in mir? Lebe ich das Leben, dem ich zugesprochen bin? Habe ich die Chancen genutzt, die sich mit stellten? Ist Ordnung alles oder letztlich das, was uns vom Leben trennt? Ergeben wir uns dem Konjunktiv unseres Lebens? Peter Stamms Protagonist lässt sich auf ein imaginäres Gegenüber ein. Dann jeweils kippt die Zeit. Peter Stamms Roman wird einmal mehr polarisieren. Erst recht, weil er so unspektakulär ist. Trotzdem, oder eben darum – ein starkes Buch!

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt »Agnes« 1998 erschienen sechs weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken. «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde ausgezeichnet mit dem Schweizer Buchpreis 2018.

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Judith Hermann «Daheim», S. Fischer

Dreissig Jahre nachdem sie beinahe mit einem Zauberer und einer Kiste, in der sie dreimal pro Woche zersägt worden wäre, auf eine Kreuzfahrt nach Singapur gegangen wäre, erinnert sich die Frau. Sie erinnert sich in einem Haus, in dem sie sich einrichtete, das ihr Daheim werden sollte. Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist voller überraschender Wendungen, ein einziger Strudel, der Gegenwart und Vergangenheit vermengt.

Ein kleines Haus nicht weit vom Meer. Im Erdgeschoss eine Küche, ein Wohnzimmer, ein Schlafzimmer und im ersten Stock ein weiteres Zimmer, das sie aber gar nicht braucht. Es ist das letzte Haus. Danach ist der Weg bloss noch Sand. Sie wohnt in dem baufälligen Haus, weil nicht weit davon ihr Bruder eine Kneipe, einen Schuppen direkt am Meer betreibt, weil er im Frühling die Bretter von den Fenstern nimmt und er eine Hilfskraft braucht, die den Laden am Laufen hält. Ihr Bruder ist Arbeitgeber, vielleicht auch ein bisschen Asylgeber, denn sonst hält sie nichts an dem Ort, schon gar nicht die neue Freundin ihres Bruders, mehr als dreissig Jahre jünger als er, unstet und verschroben, unergründlich, ihren Bruder quälend. Eine junge Frau, die er zwischendurch zur Trailersiedlung fahren und auf sie warten muss, bis sie eine halbe Stunde später einen der Trailer wieder verlässt. Sie heisst Nike!

Judith Hermann «Daheim», S. Fischer, 2021, 192 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-10-397035-7

Im Frühling gibt es in der Kneipe noch nicht viel zu tun. Sie freundet sich mit ihrer Nachbarin an, mit Mimi, die auch eines der freistehenden Häuschen bewohnt, das sie einst von einer alten Frau übernahm, vollgestellt mit Möbeln und Dingen, die aus der Zeit gefallen sind. Mimi ist nicht weit von den Häusern auf einem Hof aufgewachsen, den ihr Bruder Arild seit dem Auszug seiner Frau alleine führt. Er allein mit tausend Schweinen. Mimi nimmt ihre Nachbarschaft so selbstverständlich wie ihr Bruder die Tatsache, dass sie nun irgendwie dazugehört. Obwohl die Erzählerin eigentlich ihre Ruhe will, tagsüber ihre Arbeit in der Kneipe, die Abende und Wochenenden für sich, für eine Flasche Wein und ihre Erinnerungen.

Sie hatte Familie. Hat sie eigentlich noch immer. Aber nachdem ihre Tochter Ann ausgezogen war, sich auf eine Reise machte ohne Ziel und Rückkehrdatum, gab es keinen Grund mehr bei Otis, ihrem Mann zu bleiben. Auch wenn sie Otis noch immer Briefe schreibt, auch wenn ihr die Erinnerungen an die Zeit als Familie noch immer weh tut, auch wenn Otis irgendwie noch immer ihr Mann ist. Ein Sammler, ein Messi, unter einem Dach, dass er sein Archiv nennt, in dem er alles hortet, was man dereinst, wenn die Welt vor die Hunde geht, brauchen wird. Auch wenn von Ann nur ein paar kurze Mitteilungen kommen, eigentlich bloss Koordinaten von irgendwelchen Orten. Die Liebe aber ist geblieben.

Mimi ihre Nachbarin, Arild ihr Bruder auf dem Hof mit seinen Schweinen, der manchmal rüberkommt, um in der Marderfalle hinterm Haus den Köder zu ersetzen. Und vielleicht noch die Eltern von Mimi und ihrem Bruder, ihr eigener Bruder mit „seiner“ Freundin, der er sich verschrieben hat. Und die Otis und Ann. Eine Welt, die nicht mehr ihr gehört und sie trotzdem in eine Kiste einsperrt, eine Kiste, aus der sie es nicht schafft, trotz der Distanz.

Sie erinnert sich. An die gute Anfangszeit mit Otis, an die Familienzeit, an jenen Moment zuvor, als sie mit dem Zauberer und der Kiste nach Singapur hätte fahren können und es im letzten Moment mit schon gepackten Koffern sausen liess. Ein anderes Leben. Ein Leben ohne Otis, ohne Ann, ohne die Kiste jetzt. Aber dafür mit einer Kiste, mit der der Zauberer sie dreimal pro Woche in zwei Hälften zersägt hätte. Zwei Hälften, in die sie auch ohne den Zauberer damals geworden ist. Eine Hälfte, die existiert und eine Hälfte, die sich erinnert.

Judith Hermanns Roman „Daheim“ ist unkonventionell, überraschend, verunsichernd, kaum je vorhersehbar. Mit einem Mal eröffnen sich Bilder, die mich ebenso faszinieren wie verstören. Und hinter dem ganzen Roman steckt latent eine Endzeitstimmung, etwas Fatalistisches. Als hätte man allem die Zukunft geraubt. „Daheim“ bleibt hängen!

Judith Hermann wurde 1970 in Berlin geboren. Ihrem Debüt «Sommerhaus, später» (1998) wurde eine ausserordentliche Resonanz zuteil. 2003 folgte der Erzählungsband «Nichts als Gespenster». Einzelne dieser Geschichten wurden 2007 für das Kino verfilmt. 2009 erschien «Alice», fünf Erzählungen, die international gefeiert wurden. 2014 veröffentlichte Judith Hermann ihren ersten Roman, «Aller Liebe Anfang». 2016 folgten die Erzählungen «Lettipark», die mit dem dänischen Blixen-Preis für Kurzgeschichten ausgezeichnet wurden. Für ihr Werk wurde Judith Hermann mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter dem Kleist-Preis und dem Friedrich-Hölderlin-Preis. Die Autorin lebt und schreibt in Berlin. Der Roman «Daheim» war für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert.

Beitragsbild © Michael Witte

Roland Schimmelpfennig «Die Linie zwischen Tag und Nacht», S. Fischer

Roland Schimmelpfennig inszeniert perfekt. Ich vergesse mich, wenn ich seine Romane lese. Er reisst den Schorf weg, bis es blutet. Sein neuer Roman „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist ein Höllentripp im Berlin der Gegenwart.

Sie stehen morgens auf, gehen zur Arbeit, kommen abends zurück, trinken nach dem Essen noch ein Glas Wein und gehen nach dem Krimi ins Bett? Sie wohnen in einer Stadt, bummeln am Samstag durch die Gassen und lesen auf den Litfasssäulen, was so läuft (oder eben nicht)? Sie haben ein schlechtes Gewissen oder zumindest ein ungutes Gefühl, wenn sie zu viel getrunken haben und erst in den Morgenstunden ins Bett schlüpfen?

In „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ erzählt Roland Schimmelpfennig von mehreren Linien; von der Grenze zwischen vorder- und rückseitigem Leben, von der weissen Linie auf dem Spiegel, die man durch die Nase hineinzieht, von der Spur, die einmal leuchtet und im Dunkel verschwindet.

Ich lebte in meiner Vergangenheit einmal kurze Zeit in Berlin. Etwas länger, als dass man mich bloss als Tourist hätte bezeichnen können, immerhin hatte ich dort meine Arbeit, aber zu wenig lange, dass ich einer von dort gewesen wäre. Mein Leben streifte das Leben dort nur. Ich habe die weisse Linie zwischen Tag und Nacht nie überschritten, schon allein aus lauter Rechtschaffenheit, biederer Normalität.

Roland Schimmelpfennig «Die Linie zwischen Tag und Nacht», S. Fischer, 2021, 208 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397410-2

Tommy war einst ein gefeierter und von höchster Stelle gepushter Drogenfahnder. Man feierte ihn und seine Erfolge, obwohl man ahnte, dass nicht jede Ermittlung sauber war. Tommy, Sohn eines Tischlers, lebte mit seiner Partnerin in der zur Wohnung umfunktionierten Tischlerei, die er von seinem Vater geerbt hatte. Alles lief, mit reichlich Alkohol, einer Pille hier und einer Linie dort. Bis zu jenem Tag, als er hinter dem Steuer einen Jungen zu Tode fuhr, einen Unschuldigen, Unbeteiligten. Bis offensichtlich wurde, dass Tommy zu Ermittlungszwecken die weisse Linie zwischen Tag und Nacht längst überschritten hatte. Man suspendiert ihn. Tommy sackt ab. Seine Lebenspartnerin kann nicht mehr. Man wendet sich von ihm ab, zumindest jene, die einstmals applaudierten. Was blieb, sind die Verbindungen zur Unterwelt und ein kleiner Streifen Papier von einem Glückskeks an der Tür zu seiner Werkstatt. Vinh, ein Mädchen aus der Vergangenheit, mittlerweile Studentin weit weg, hatte ihm den Glückskeks gekauft: „Unforgettable moments will enlighten your journey.“ Ein Versprechen? Oder mehr?

Nach einer durchzechten Nacht zieht Tommy eine junge Frau aus der Spree. Sie schwimmt auf dem Rücken in einem weissen Brautkleid, mit Blumen geschmückt – und sie ist tot. Während er ins Wasser springt, geht das Feiern weiter. Tommy genügt es nicht, die junge Frau dem Krankenwagen zu übergeben. Er will wissen, warum sie im Wasser auf ihn zuschwebte, will der Namenlosen einen Namen geben, will das Rätsel dieses seltsamen Todes knacken. Tommy taucht in die Welt hinter der Sonne, hinter der weissen Linie, in menschenverlassenes Gewerbegebiet, Brachen und grosser, leerer Parkplätze einstiger Industriekolosse, dorthin wo das Leben im Rausch pulst, wo die Nacht lauter als der Tag ist und der Rechtsstaat das Heft schon lange aus der Hand gegeben hat. Tommy taucht ab, weil er getrieben ist vom einzigen, dass er wirklich kann, von den Bildern, die ihn nicht loslassen, vom Rausch, der ihn aufrecht gehen lässt.

„Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist kein Krimi und schon gar kein Thriller. Roland Schimmelpfennigs dritter Roman ist ein Alptraum, aus dem es kein Erwachen gibt. Ein Tripp in eine Welt, in der alles Rausch sein soll und muss, in dem der Rave den Puls taktet und der Stoff zum Elixier wird. „Die Linie zwischen Tag und Nacht“ ist aber auch die Geschichte von jungen Menschen, die chancenlos verloren sind, denen nie jemand eine Hand reicht, die jene Linie in Pulver- oder Pillenform zur Lebenslinie wird. Man liest den Roman mit angehaltenem Atem! 

Roland Schimmelpfennig, 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit grossem Erfolg gespielt. 2016 erschien sein erster Roman «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts», der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand, und 2017 sein zweiter Roman «Die Sprache des Regens». Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin und Havanna.

Rezension von «An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Adriana Jacome

Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», S. Fischer, Erzählungen

Es hätte nur ganz wenig gebraucht und ich hätte den neuen Erzählband Peter Stamms nicht zur Hand genommen. Aber dann schnappte ich ihn mir doch, begann im Zug zu lesen und wäre schon beim ersten Eintauchen in Peter Stamms literarischen Tauchgang durch die Dunkelheit fast an meinem Ziel vorbeigefahren.

In seiner letzten Erzählung „Schiffbruch“ sitzt ein in den Bankrott geratener Spekulant in seiner Dolder-Suite hoch über Zürich in seinen Bademantel gehüllt. Die Tür zu seiner Suite ist verrammelt, das Abenteuer konnte beginnen. Robinson hatte es zwanzig Jahre durchgehalten.
In allen Erzählungen erkennt man das stamm’sche Erzählmuster all jener Männer und Frauen, die an die Ränder ihrer Existenz geraten. Die einen springen, andere verharren. Eine Polizistin, die sich nach der Trennung von ihrem Lebenspartner in die Berge versetzen lässt, um sich auf der Suche nach ihrer „Verdoppelung“ einer Art Spiegelung in den Bergen beinahe zu verlieren. Oder Adrian, arbeitslos geworden, verliert sich in einer Parallelexistenz. Oder der Ehemann, den seine Frau mit seinen Kindern, ungeduldig und wütend geworden auf dem Weg in den Winterurlaub an einer Raststätte im Nirgendwo stehen lässt.

Peter Stamm «Wenn es dunkel wird», Erzählungen, S. Fischer, 2020, 192 Seiten CHF 29.90, ISBN 978-3-10-002226-4

Peter Stamm erzählt von Kippmomenten, in denen sattes, in fixen Bahnen geschientes Leben aus den Fugen gerät oder zumindest zu entgleisen droht. Und Peter Stamm überrascht, wie plottorientiert er zu schreiben versteht, mich als Leser in Katastrophenfantasien hineinmanövriert, die mir selbst offenbaren, wie empfänglich ich für die schlechten Varianten des Lebens bin. Peter Stamm führt mich ganz nah an jene Momente, an denen sich das Leben öffnet, wenn auch nur in Spiegelungen. Es brechen die Grenzen des eigenen Seins auf, Grenzen werden transparent, Abgründe offenbar.

In der ersten seiner Erzählungen mit dem Titel „Nahtigal“ duckt sich ein junger Mann krank gemeldet während Tagen mit einer Maske in seiner Tasche vor einer Bankfiliale herum. Tun oder nicht. Jetzt oder nie. „Es ging darum, sein Leben in die Hand zu nehmen, um die Freiheit, selbst zu bestimmen, was geschah“. Peter Stamms Erzählungen kreisen immer wieder um diesen einen Moment, von dem wir wissen, dass er überall lauert, dass wir ihn meist nicht wahrhaben wollen, um uns selbst vor möglichen Konsequenzen zu schützen.

Vielleicht spiegeln sich in Peter Stamms neuem Erzählband „Wenn es dunkel wird“ aber auch Veränderungen seines Schreibens selbst. Denn wenn man ihm in diesen Erzählungen eines nicht nachsagen kann, dann ist es Unterkühlung. In seinem Buch werde ich als Leser ganz nah an den heissen Kern des Lebens geführt, dort hin, wo sich die Banalität des Alltags mit der drohenden Katastrophe zu reiben beginnt. Peter Stamms Erzählungen sind nicht einfach Kurzfutter fürs Nachttischchen, sondern tiefe Einblicke mit dem Brennglas eines feinen Beobachters.

Peter Stamm, (geboren 1963) aufgewachsen in Weinfelden im Kanton Thurgau. Nach einer kaufmännischen Lehre einige Semester Studium der Anglistik, Psychologie und Psychopathologie an der Universität Zürich. Seit 1990 freier Autor und Journalist. Peter Stamm schrieb Reportagen und Satiren unter anderen für die Neue Zürcher Zeitung, den Nebelspalter und das Magazin des Tages-Anzeigers. Längere Auslandaufenthalte, u.a. in Paris, New York und Berlin. Lebt mit seiner Familie in Winterthur.
Peter Stamm schrieb zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke. 1998 erschien sein erster Roman «Agnes». Seither sind vier Erzählsammlungen und fünf weitere Romane erschienen, zuletzt 2016 «Weit über das Land». Werke von Peter Stamm wurden in 37 Sprachen übersetzt. Lesereisen in viele Länder, unter anderem nach China, Mexiko, Russland, in die arabischen Emirate, nach Kolumbien und in den Iran.

Webseite des Autors

Rezension «Marcia aus Vermont» auf literaturblatt.ch

Rezension «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Anita Affentranger

«Was bleibt? Die Geschichten, der Wahnsinn.» Es floss an der Literaare!

Christoph Geiser, Träger des Schweizer Literaturpreises 2020, über den es auf der Webseite des Bundesamtes für Kultur heisst: Ein scharfzüngiger, sprachmächtiger Erzähler zeigt sich als Chronist, Museumsbesucher, Leser, Beobachter, Tourist, Gourmet und verhinderter Gerichtsreporter, bot mit der jungen «Literaturaktivistin» Svenja Gräfen aus Leipzig und der in Moskau geborenen Katerina Poladjan ein vielseitiges Kontrastprogramm.

Katerina Poladjan «Hier sind Löwen», S. Fischer, 2019, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397381-5

Katerina Poladjan schreibt von «unbekannten Gebieten», nicht Kartographiertem, jenem Unerschlossenen, Unentdeckten in uns. In ihrem aktuellen Roman «Hier sind Löwen» erzählt Katerina Poladjan von Helen, die wie die Autorin selbst einen armenischen Familiennamen trägt. Helen ist auf der Suche nach Spuren, verwickelt sich in neuen Zugehörigkeiten, in einer Geschichte, die weit in die tragische Geschichte des armenischen Volkes zurückgreift. Helen ist Buchrestauratorin, flickt aber nicht einfach alte Folianten. Sie macht Geschichte und Geschichten sichtbar. Die Geschichte Armeniens, ihrer Familie, ihre eigene Geschichte. Katerina Poladjan nennt ihren Roman ein Erinnerungsfenster, ihr Fenster in die Erinnerung eines Landes. «Hier sind Löwen» löste in Armenien selbst ganz gemischte Reaktionen aus, war es doch den einen zu zahm, zu wenig dramatisch. Die Autorin selbst zeigt sich aber überrascht, dass ihr Roman sowohl ins Türkische wie ins Armenische übersetzt wurde, dass es das Buch schaffte, auf «beiden Seiten» gelesen zu werden. Etwas, das nur gelingen konnte, weil die Autorin es schafft über den Genozid zu schreiben ohne in das übliche Täter-Opfer-Muster zu verfallen.

Christoph Geiser «Verfehlte Orte», Secession, 2019, 176 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-906910-51-2

Christoph Geiser ist mit vielen seiner Romane als Familienchroniker, als Seismograph und Kritiker der «heiligen» Familie in die Literaturgeschichte eingegangen, genauso wie als Stimme der Verbannten und Verstossenen. Christoph Geiser ist ein «Entfesselungskünstler», sprachlich, formal und inhaltlich.
Sein preisgekrönter Erzählband «Verfehlte Orte» ist der Schnittpunkt seiner Motive, ein Band, in dem Christoph Geiser sämtliche Register seines Könnens zeigt, seine Radikalität, seine Lust zu fabulieren genauso wie jene zu provozieren.
Selbst in seinem neuen Romanprojekt, seinem «letzten Manuskript» ist der Ursprung des Schreibens eine Art Provokation. Der Protagonist, Christoph Geiser sitzt auf seiner Grabkiste und räsoniert. Aber der Schriftsteller Christoph Geiser ist zurückgebunden, denn sein neuer Roman über seine jüdische Grossmutter la grandmama russe verlangt nach Recherche in Minsk, Moskau, Gorki und Nazareth. Aber wer fährt jetzt dorthin. 

Christoph Geiser ist auf der Suche nach den «Hasen», einer Familie, deren Name sich verloren hat in Geschichte, Verfolgung, Verbannung und Genozid. Die Geschichte einer verrückten Grossmutter, wieder eine Familiengeschichte, die sich nach der jüdischen Apokalypse verlor. Über eine Frau, die in der Engelgasse in Basel die letzten beiden Jahre ihres Lebens verbrachte, nachdem sie aus dem Irrenhaus entlassen wurde.
Christoph Geiser ist ein lustvoll Massloser, dessen Virtuosität und sprachliche Leidenschaft in krassem Gegensatz steht zu seinem Gehstock, der hinter ihm am Türknauf zum Nebenraum hängt. «Was bleibt? Die Geschichte. Der Wahnsinn.» In seinem kommenden Roman «Die Spur der Hasen» wird Christoph Geiser von der Tragödie des Ostjudentums erzählen, die Opfergeschichte eines Kollektivs, sich einmal mehr mit dem Vergessen auseinandersetzen.

Svenja Gräfen «Freiraum», Ullstein, 2019, 304 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96101-037-0

Ein wunderbar angenehmer Kontrast zu Christoph Geiser bot Svenja Gräfen mit ihrem 2019 erschienen Roman «Freiraum». Er, der sich an seiner Geschichte, seinem Leiden abarbeitet, sie, die sich locker und flockig mit dem Personal einer ganz besonderen Bühne beschäftigt; einer Hausgemeinschaft, einem Versuch alternativen Wohnens am Stadtrand, von den Träumen einer noch offenen, vielversprechenden Zukunft und den Ernüchterungen in den aufkommenden Zwängen. Svenja Gräfen macht ein Haus zu einem eigentlichen Experimentierfeld, witzig mit starken Dialogen – eine eigentliche Soziostudie über Lebens- und Wohnentwürfe.

Und am Sonntag? Elsie Schmit liest aus ihren Erzählungen «Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen», Miku Sophie Kühmel aus «Kintsugi», einem flimmernden Roman über die Liebe in all ihren Facetten, Kirstin Köhler aus ihrem Roman «Schöner als überall», der bei Suhrkamp erschien und Simone Lappert aus ihrem Bestseller «Der Sprung»! Unbedingt hingehen! (Festivalprogramm)

Webseite Katerina Poladjan

Webseite Christoph Geiser

Webseite Svenja Gräfen

 Illustrationen © leafrei.com

Eröffnung der Literaare «Tage wie Hunde» mit Ruth Schweikert

Ruth Schweikert eröffnete das 15½. Literaturfestival Literaare in Thun. Was bräuchte es, um den Kilimandscharo zu bezwingen? Was stände auf der To-do-Liste? Ruth Schweikert schrieb mit «Tage wie Hunde» ein Buch, das sich mit Radikalität und Offenheit mit ihrer Krebserkrankung auseinandersetzt. Ein Buch, das unter die Haut fährt und in seiner Lesart nicht wenig verunsichert.


Ruth Schweikert bezwang einen solchen Berg, auch wenn die Metapher nicht wirklich taugt, da es ja bei jenen, die den Berg nicht bezwingen, meist nicht an der Liste oder der fehlenden Orientierung bis zum Gipfel fehlte und schon gar nicht an der Ausrüstung. Ruth Schweikert schildert die Konfrontation mit Brustkrebs vom Beginn der Diagnose weg bis tief in die Krankheit hinein, in Rückblenden weit zurück und in Vorblenden bis weit über die Gegenwart hinaus. Ruth Schweikerts Erzählen, ihr Nachdenken ohne Pathos der Genesenen nimmt mich mit, ganz nah, als ob ich neben und mit ihr sehen, leben und denken würde; wenn sie nach der Mammographie im Besprechungszimmer des Arztes sitzt oder die Staatsbürgerschaft im Reich der Gesunden verliert. Wenn sie beim Arzt zugibt, wie sehr sie die Angst packt, als ob es möglich wäre, keine zu haben.


Ruth Schweikert, eine Grosse der Schweizer Literatur, protokolliert nicht, erzählt keine Leidensgeschichte. Sie spürt scharfsinnig nach, was sich nach einer verhängnisvollen Vermessung ihres Körpers unausweichlich aufdrängt. «Tage wie Hunde» ist aber auch eine Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, über die Veränderungen des Schreibens, die Befreiung des Schreibens. Über das Übersetzen von «Erfahrungen, die sich dem Punkt entziehen», Empfindungen, die Ruth Schweikert ähnlich einer Mathematikerin in Beziehung zu setzen versucht, um sie in Sprache übersetzen zu können.


«Krankheit ist eine ganz spezifische Zeiterfahrung», sagte Ruth Schweikert im Gespräch mit der Moderatorin und Festivalchefin Tabea Steiner. Eine Literatur gewordene Zeiterfahrung darüber, was sich beispielsweise im Moment einer Diagnose zeitlich ausbreitet. So wie man ein ganzes Leben in einen einzigen Satz packen kann, konzentriert Ruth Schweikert in ihrem Buch jene Momente, die das Leben ausweiten, die Zeit zerreissen. «Tage wie Hunde» ist nicht blosses Abbilden, sondern der Versuch, eine andere Art des Beschreibens der Krankheit entgegenzusetzen, eine Ordnung, denn Krebs ist Chaos, Unordnung, Wucherung. Sprache ist Ordnung.

Ruth Schweikert «Tage wie Hunde», S. Fischer, 2019, 208 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-10-397386-0

Ruth Schweikert erzählte, das Buch sei auch Resultat eines Zu-fallens. Während sie am Text arbeitete, starb Ruth Schweikerts Vater. «Tage wie Hunde» ist ein Buch über das Drinnen und Draussen, das Leben und den Tod, das Davor und Danach, das Beginnen und drohende Ende.

Ruth Schweikert las nicht allein zur Festivaleröffnung. Links von ihr sassen abwechselnd zwei Frauen, lautlos gestikulierend mit Händen und Gesicht, mit Blick auf die erste Reihe im Rathaussaal, wo Gehörlose nicht der Schriftstellerin lauschten, sondern den Simultanübersetzungen zuschauten. «Eine Parallellesung» leicht versetzt, als wären die Gesten ein Echo der Sätze.

«Stoff für den Shutdown» mit Anaïs Meier, Benjamin von Wyl, Aleks Sekanic und Mariann Bühler


Ob mit Mundschutz und Social Distancing Festivalstimmung aufkommt, muss sich noch erweisen. Das Festivalteam hat angerichtet! Heute Samstag lesen Sandra Künzi, die GewinnerInnen des Textstreich-Wettbewerbs, Katerina Poladjan, Stef Stauffer, Christoph Geiser, Thomas Rötlhisberger, Svenja Gräfen, vier Studierende des Schweizerischen Literaturinstituts in Biel und Hengameh Yaghoobifarah. Und am Abend um 21 Uhr ein ganzer Strauss: Meral Kureyshi, Demian Lienhard, Daniel Mezger, Elio Pellin, Regula Portillo, Giuliano Musio, Laura Vogt und Benjamin von Wyl. Möge Thun strömen! (Festivalprogramm)

Mariann Bühler liest «Lang, lang lebe die Weile» aus «Stoff für den Shutdown, Vol 2, Ausdauer»


Begleitet wird das Festival von der jungen Illustratorin Lea Frei, die im Foyer des Rathauses die Zeichnungen zeigt, die sie fürs ursprüngliche Festivalprogramm im März dieses Jahres erstellte. Zeichnungen aller beteiligten Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Zeichnungen, die man sich nicht nur von ganz Nahem ansehen kann. Zeichnungen, die man sich gönnen, kaufen kann!

Aleks Sekanic liest «im sommer, vielleicht.» aus «Stoff für den Shutdown, Vol 2, Ausdauer»

 

 

 

 

Stoff für den Shutdown

Illustrationen  © leafrei.com

Thorsten Nagelschmidt «Arbeit», S. Fischer

Es geht nicht immer gut aus. Manchmal ist es wenigstens knapp. Oder es steht noch nicht fest, ob sich die Sache nicht doch noch zum Guten wendet. Wie bei Bederitzky, dem Taxifahrer, der nachts unterwegs ist, weil es sich dann wenigstens ein bisschen lohnt im Gegensatz zu tagsüber, wo es sich nicht mehr lohnt. Und in dessen Taxi wir immer wieder lesend einsteigen, der uns so durch eine Berliner Nacht führt wie fährt, durch den Prenzlauer Berg, durch Charlottenburg, durch Berlin Mitte und all die Strassen dazwischen. Also, wenn neben oder hinter ihm ein Fahrgast sitzt.

Frank Keil

Stimmt so.
von Frank Keil

Willkommen in Berlin – der, wenn man als Deutscher ehrlich ist – einzigen Grossstadt Deutschlands, wenn man mehr erwartet, als nur eine grosse Stadt. Und versprochen ist ein Berlin-Roman und das ist jetzt eine ganz hohe Hürde, die da genommen werden will; ist ein heikles Versprechen. Aber Thorsten Nagelschmidt schafft es, leitet er uns doch mit leichter Hand, klarem Blick und einer wortwörtlichen Unermüdlichkeit in seinem rasant-brachial-empfindsamen Roman „Arbeit“ durch die Berliner Nacht und stellt uns deren Bewohner vor: die einen schlafen, aber die anderen arbeiten. Arbeiten, damit die anderen schlafen können. Ob es sich für sie lohnt, also für die, die arbeiten? Finden sie wenigstens ein bisschen Glück?

Und dazu wieder eingestiegen bei Bederitzky (der eigentlich aus der DDR stammt, diesem anderen deutschen Staat, also, als es ihn noch gab, fest und unwidersprochen, nicht, als er schon sinnbildlich in Trümmern lag, wie wir noch erfahren werden und der auf den Vornamen Heinz-Georg hört, Heinz-Georg Bederitzky). Dabei ist gerade – Funkstille; Pause, niemand will mit, niemand will irgendwohin und Bederitzky ist dennoch unterwegs. 60 Minuten kurvt er bereits durch die Stadt, fährt durch Kreuzberg und Neukölln, schaut und sucht, aber niemand braucht ihn und dann will doch einer mit. Steigt dazu ein, riecht nach Parfüm, viertel nach Zwölf ist es auf der Uhr. Und wo will er hin, der parfümierte Fahrgast, mit einem Stück Pizza vom Pizzaschnellimbiss in der Hand? Eine weite Strecke, eine lange Strecke soll es werden. Nach Halle an der Saale, weil Zugausfall. Halle an der Saale, sieh‘ an, denkt sich Bederitzky, da warst du lange nicht mehr. 

Und auch endlich eine Fahrt durch die Nacht, die lohnt, aber so richtig, denkt er. Und dann klingelt Bederitzkys Telefon, Freisprechanlage, versteht sich. Anna ist dran, seine Liebste, die einen der legendären und besonders bei Touristen so beliebten Späti betreibt, dabei hatte sie in diesem Leben eigentlich was anderes vor, als hinter dem Tresen eines Spätverkaufs bis eben spät zu stehen, aber was will man machen. Und nun zum zweiten Mal in diesem Jahr überfallen, von so einem Bubi, einem Jugendlichen mit einem Messer, ein halbes Kind noch, aber Überfallen ist nun mal Überfallen. Sie bräuchte jetzt seine starke Schulter, selbst wenn die nicht stark ist, Hauptsache Schulter, seine. Aber er hat doch jetzt einen Bord, der nach Halle an der Saale will, für 350 Euro, immer geradeaus. Soll er den raussetzen? Und Anna schreit ins Telefon, bricht das Gespräch ab, sie wird sich schon wieder beruhigen, aber was, wenn nicht?

Ein Kapitel heißt: Sag jetzt nichts. Ein Kapitel heisst Zwölf Stunden sind kein Tag. Ein anderes hört auf den Namen Wenn’s um Geld geht Arschkarte.

Thorsten Nagelschmidt «Arbeit», S. Fischer, 2020, 336 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-10-397411-9

So fahren wir durch die Nacht, sind mal kurz und dann mal länger bei Bederetzky ausgestiegen, keine Sorge: man trifft sich wieder. Lernen Leute kennen, die zur Nacht gehören wie die Nacht zu diesen Leuten. Felix etwa, 39 Jahre jung. Der Drogen vertickt, aber selbst keine nimmt, also er hat sich vorgenommen, dass er besser die Finger lässt von all dem Zeug, dass er da verkauft, seine Wohnung ein Drogenumschlagplatz und was sind das immer für Typen, die bei ihm in der Küche sitzen und schon mal probieren, was sie kaufen wollen oder gekauft haben in grösseren Mengen, wieso gehen die nicht wieder, wieso quatschen die sich immer fest und hocken auf seinen Küchenstühlen wie angeklebt und haben beste Laune, während seine immer schlechter wird? 

Wir lernen Marcela kennen, die sich in Berlin ein besseres Leben erträumt als daheim in Kolumbien und die per Fahrrad Essen ausliefert für die, die keine Lust zum Kochen haben und keine Lust zum Einkaufen oder gleich beides, und es ist doch irre praktisch, da gibt es so eine App, da tippt man was ein und dann kommt Marcela und bringt das Gewünschte (Sushi, Italienisch, vielleicht auch was vom Spanier), hoffentlich dauert es nicht so lange und ist noch warm. Wir lernen Tanja kennen, die Rettungssanitäterin, die neben dem Studium jobbt, dabei müsste sie lernen ohne Ende, denn was studiert sie, Medizin natürlich. Weshalb sich Tarek, ihr Kollege, mehr als Sorgen macht, wie sie das schaffen soll, nachts arbeiten, tagsüber studieren und dazwischen noch lernen, das funktioniere doch nicht, sagt er ihr immer wieder, während sie unterwegs sind, mit Sondersignal, um zu retten, was noch zu retten ist, aber Tanja will das nicht hören, was wäre denn die Alternative und überhaupt: Was will Tarek von ihr? Doch nicht etwa? Oh, je! Und noch immer ist die Nacht nicht zu Ende, so eine Nacht ist lang, sie ist verdammt lang. Besonders für die, die arbeiten müssen, für die, die nicht wissen, wohin sonst. 

Nagelschmidt (der gleichzeitig Musiker der Berliner Band „Muff Potter“ ist) geht nah heran, er bleibt seinen Protagonisten nah, er verlässt sie nicht und er verrät sie nicht. Egal, wie schräge sie drauf sind, wie seltsam sie mit sich umgehen und wie mit anderen, er will wissen, wie es ihnen geht und er will erkunden, warum sie tun, was sie tun und wie es ihnen dabei geht. Und er schaut nicht von oben herab auf sie herunter, er ist in einem fast schon christlichen Sinne bei ihnen, wobei man das „fast“ ruhig streichen kann.

Und das alles drückt sich auch in seiner Sprache aus: direkt, schnörkellos, alltagsnah und manchmal fast protokollhaft. Schnelle, kurze Sätze, viele und vor allem gute und sehr Dialoge. Ein stetes Ineinanderfliessen von Beobachtetem, Kommentiertem und dem, was im Moment geschieht, während die verschiedenen Protagonisten und Helden, von vielleicht Gewinnern und vielleicht Verlierern sich in dieser einen Nacht begegnen, mit einander sprechen, manchmal auch kreuzen sich nur kurz ihre Wege, ohne dass ein Wort fällt. Und nie ist der Autor derbe dabei oder obszön oder künstlerisch aufgeladen tabuverletzend, wie das oft genug vorkommt, wenn da ein Schreibender aus besserem Stall sich mal auf die Strasse wagt oder das, was er für die Strasse hält. Und dann so richtig vom Leder zieht, weil es ihm gut tut, egal, was die Menschen, über die da einer schreibt und die einer schreibend erfasst, damit anfangen können und ob es ihnen hilft oder ob es ihnen wenigstens ihre Würde lässt.

Und nicht zuletzt ist „Arbeit“ ein hochpolitischer Roman. Er fragt danach, wer des Nachts den Laden am Laufen hält, wie es heute auf neudeutsch heisst. Wer zahlt den Preis? Wer macht den Rücken krumm und macht doch immer weiter? Wer bringt uns von A nach B, wer passt auf uns auf, wer stellt im Spätverkauf rechtzeitig den Sekt kalt, damit kalter Sekt da ist, wenn uns nach kaltem Sekt ist, wer räumt den Dreck weg, die Scherben, den Müll, die Absperrbänder, rund um die Uhr und eben nachts, wenn es zwischendurch mehr als tiefdunkel ist – es ist eine nur sehr begrenzt romantische Welt, diese Nacht, für die, die dann arbeiten müssen, was immer sie auch tun und auch für die, die wenigstens in der Nacht ein wenig Halt und Schutz und Orientierung finden und haben, wenn es hell wird, wird für sie die Welt nicht unbedingt besser.

Ach ja: Ein Kapitel heisst Stimmt so. Eine Floskel, die man sich abgewöhnen sollte, dringend.

© Verena Brüning

Thorsten Nagelschmidt, geboren 1976 im Münsterland, ist Autor, Musiker und Künstler. Er ist Sänger, Texter und Gitarrist der Band Muff Potter und veröffentlichte die Bücher «Wo die wilden Maden graben» (2007), «Was kostet die Welt» (2010) und «Drive-By Shots» (2015). Zuletzt ist von ihm der Roman «Der Abfall der Herzen» (2018) erschienen. Thorsten Nagelschmidt lebt in Berlin und veranstaltet dort die Lesereihe «Nagel mit Köpfen».

Webseite des Autors

Beitragsbild © Thorsten Nagelschmidt (vom Autor selbst geschaffener Linoldruck!, hier abgebildet mit freundlicher Genehmigung des Autors)

John Ironmonger «Der Wal und das Ende der Welt», S. Fischer

Man findet ihn nackt am Strand, nicht weit von St. Pirat, einem kleinen Fischerdorf in Cornwall. Ein junger Mann, dessen Auto im Dorf am Hafen steht – nackt. Wenig später strandet am selben Strand ein Wal, ein Finnwal. Und ausgerechnet dieser junge Mann, Joe Haak, ist es, durch dessen Initiative es das kleine Dorf schafft, den Riesen zurück ins Meer zu schaffen. Es ist der Beginn einer Geschichte, die das Ende des Ganzen bedeuten kann.

«Der Wal und das Ende der Welt» ist wieder ein Buch, das ich nicht gelesen hätte, wäre es nicht in einer meiner Leserunden, die sich zehn Mal im Jahr trifft, vorgeschlagen gewesen. Ich mochte den Titel nicht, was sich auch nach dem Ende der Lektüre nicht geändert hatte. Ich mag weder Filme noch Bücher, die den Untergang der Welt mit der grossen Kelle inszenieren. Und schon gar nicht solche, die im Titel zu viel verraten. Nichts gegen Dystopien, die in den letzten Jahren zu einer eigenen Gattung geworden sind und sich mit Romanen wie «The road» von Cormac McCarthy ins Bewusstsein von Lesenden eingebrannt haben. Aber «Der Wal und das Ende der Welt» überraschten und belohnten mich.

Joe Haak ist Analyst einer Londoner Bank, die sich darauf spezialisierte, dann die grossen Gewinne zu verzeichnen, wenn alle andern in Panik ihre Aktien abstossen. Zusammen mit einem Team entwickelt er «Cassie», ein Programm, das mit Hilfe von Algorhithmen aus dem Meer von Netzinformationen Vorhersagen generiert, die die Bank stets einen Schritt voraus reagieren lassen. Ein Programm, das riesige Gewinne erzielen soll. Aber als dem jungen Mathematiker bewusst wird, welche Auswirkungen ein solcher Rechner haben kann und erste Ergebnisse ihn das Fürchten lehren, kappt er das Wenige, was ihn in jener Welt hält, fährt los bis zu dem kleinen Fischerdorf, an dem die Strasse am Meer endet.

In das kleine Fischerdorf, in dem man an nur ganz wenigen Stellen eine Internetverbindung findet, in dem Jon Haak als Retter des Wals vom ersten Tag an als Fremder einen Sonderstatus innehat, dringen immer mehr Meldungen vor, wie eine Grippepandemie das globale Gleichgewicht durcheinanderbringt. Und weil Joe Haak mehr weiss als alle anderen im Dorf und er ein Versprechen mit sich herumträgt, kauft er mit dem, was er auf seinem Bankkonto verflüssigen kann, einen Nahrungsmittelvorrat, den er mit Hilfe von Eingeweihten im Turm der Kirche des Dorfes einlagern kann. Lebensmittel für 300 Dorfbewohner, die ein paar Wochen Aufschub leisten können. Während sich ein globales Desaster wie ein Flächenbrand auszubreiten beginnt, rüstet sich ein Dorf an der Küste gegen die drohende Anarchie nach einem «Kollaps».

«Der Wal und das Ende der Welt» ist zum einen die Geschichte dieses jungen Mannes, der die Büchse der Pandora öffnete und jene eines kleinen Dorfes und ihrer Mechanismen. Ein Buch über Hoffnung und Ängste, dass sich Menschlichkeit und Unmenschlichkeit nicht vorhersagen lassen. Ein grosser Teil des Buches beschreibt jene Wochen, in denen sich der Analyst Joe Haak zusammen mit dem Pastor Alvin Hocking in der Kirche nach dem Kontakt mit einer an der Grippe Sterbenden einschliessen, eine selbst gewählte Quarantäne. Der Mathematiker und der Theologe, beide Hüter von Geheimnissen, Analysten der Zukunft. Während sie hoffen und bangen, in den kommenden Tagen nicht von der aggressiven Grippe oder einer anderen Welle der Gewalt dahingerafft zu werden, entwickeln sich zwischen all den Kisten, Schachteln und Säcken voller Nahrungsmittelvorräte Gespräche über Existenzielles. Ein fein komponiertes Kammerspiel einer Annäherung.

Urteil der Leserunde: 4 Stimmen sind angetan bis begeistert. 2 Stimmen gaben beim Lesen auf.

«Der Wal und das Ende der Welt» ist bestens erzählte Unterhaltung, gütlich das Ende, von einem Optimisten geschrieben.

John Ironmonger kennt Cornwall und die ganze Welt. Er wuchs in Nairobi auf und zog im Alter von 17 Jahren mit seinen Eltern in den kleinen englischen Küstenort, aus dem seine Mutter stammte. John promovierte in Zoologie; nach Lehraufträgen wechselte er in die internationale IT-Branche. Schon immer hat er geschrieben; seine Romane wurden in viele Sprachen übersetzt. Inspiriert zu «Der Wal und das Ende der Welt» haben ihn unter anderem die biblische Geschichte von Jonas und dem Walfisch, das Werk des Gesellschaftsphilosophen Thomas Hobbes, Jared Diamonds Sachbuch «Kollaps» und viele andere Quellen der Phantasie und des Zeitgeschehens. John Ironmonger lebt heute in einem kleinen Ort in Cheshire, nicht weit von der Küste. Er ist mit der Zoologin Sue Newnes verheiratet; das Paar hat zwei erwachsene Kinder und zwei kleine Enkel. John Ironmongers Leidenschaft ist die Literatur – und das Reisen auf alle Kontinente.

John Ironmongers Blog

Eine Empfehlung für einen wunderschönen Sommerabend am Bodensee: «Haus zum Schiff«, ein mit viel Herzblut geführtes Restaurant direkt am See.

Beitragsbild © Andrew Richardson