Peter Stamm «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer

Manche Begegnungen sind schicksalshaft. Selbst wenn daraus kein andauerndes Beieinander wird, wenn gemeinsame Zeit längst zerronnen ist. Aber es bleibt das Bild, der Eindruck, unauslöschlich in die Erinnerung eingegraben.

Man stelle sich vor: Irgendwann begegnet man irgendwo einem Menschen, der sich in kaum etwas von dem unterscheidet, was man einst selbst war. Man erkennt sich in jemandem, fühlt sich von der Zeit, der Vergangenheit eingeholt. Man stelle sich vor, man komme mit diesem überraschenden Gegenüber ins Gespräch, Leben würden sich kreuzen, Gegenwart mit Vergangenheit, um festzustellen, dass sich die eigene Geschichte zu löschen beginnt, während man sich immer tiefer in die Geschichte des Gegenübers verstrickt.

Peter Stamms neuer Roman, nimmt etwas von dem wieder auf, was sein erster Roman „Agnes“ zu erzählen begonnen hatte. In „Agnes“ fordert eine junge Frau ihren Geliebten, einen Schriftsteller auf, ihre Geschichte, ihre gemeinsame Geschichte zu schreiben, die Geschichte ihrer Liebe. Mehr noch; Geschichte im Erzählen vorwegzunehmen. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ fügt Peter Stamm jenem Drängen aus seinem ersten Roman noch weitere Schichten hinzu.
Christoph lernt die viel jüngere Magdalena kennen, muss ihr ihre Geschichte erzählen, die vor vielen Jahren damit begann, dass er eine Frau kennenlernte, die ihr in fast allem gleiche, die er aber aus den Augen verloren habe. Magdalena wundert sich über einen älteren Mann, der ihr eine Geschichte erzählen will, die sich immer deutlicher mit der gegenwärtigen Geschichte mit ihrem Freund zu decken scheint. Christoph hatte damals, als er Magdalena verlor und mit ihr eine gemeinsame Zukunft, endlich den Stoff für seinen Roman gefunden. Den einzigen, den er je geschrieben hatte und der mit zunehmender Zeit immer mehr zur Ahnung werden sollte. So wie ihm Magdalena entglitt, tat es auch das Schreiben, selbst als er sich mit allem Elan auf die Suche nach Inspiration machte, für Jahre weg aus seinem gewohnten Umfeld zog, sich unsichtbar machte. Um im anderen Leben festzustellen, dass man nicht vorkommt, nicht einmal mehr seine eigenen Spuren, erst recht nicht das Buch, das man einst geschrieben und verkauft hatte, sichtbar bleiben.

In Peter Stamms neuem Roman geht es um existenzielle Fragen, wie immer in seinen Romanen. Auch in seinem letzten Roman „Weit über das Land“, in dem ein Familienvater scheinbar plötzlich aus seinem Leben abtaucht. In „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“ kreuzen sich Realitäten. Die eine löscht die andere. Peter Stamm heizt dort ein, wo man meint, sicher zu sein. Er reisst auf, wie sich sonst kaum mehr jemand traut zu erzählen: von Vielbödigkeit, von den trüben Rändern der Wirklichkeit. Von dem, was die Erinnerung mit der scheinbaren Wahrheit macht. Peter Stamm tut dies in so unaufgeregter Art und Weise, dass es mich wundert, wie tief mich der schmale Roman ins Grübeln stösst.

Peter Stamm verrät, wie sehr er sich Sicherheit für sein Schreiben wünscht. Man fragt sich zwar; Glaube ich, was ich lese? Nie aber; Weiss ich, was ich lese? Ein Roman, der das Zeug zur Verunsicherung hat. Ein Roman, der Fragen stellt, die ich für mich schon lange beantwortet zu haben glaubte. Ein Roman, der konzentriert erzählt, nie abschweift, beinahe sachlich erzählt. Peter Stamm kocht nicht Altes auf. Dafür spritzt er mit heissem Wasser!

Foto: Gaby Gerster

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt «Agnes» 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane «Nacht ist der Tag» und «Weit über das Land» sowie unter dem Titel «Die Vertreibung aus dem Paradies» seine Bamberger Poetikvorlesungen.

Webseite des Autors

Peter Stamm „Agnes“, Film (2016) und Buch, Arche (1998)

Diesen Monat erscheint Peter Stamms neuster Roman „Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt“. Grund genug, seinen ersten Roman, der bei Erscheinen seines neuen vor 20 Jahren Kritiker und Leser ins Staunen versetzte, „Agnes“ noch einmal zu lesen. Damals war „Agnes“ eine literarische Überraschung. Heute ist „Agnes“ Schullektüre, so etwas wie ein Klassiker. Und der Film vom Regisseur Johannes Schmid?

Agnes ist Physikstudentin in Dallas. Sie schreibt an einer Dissertation über die «Symmetrien der Symmetriegruppen von Kristallen». In der gleichen Bibliothek der Universität recherchiert ein doppelt so alter Mann über amerikanische Luxuseisenbahnen. Eine Auftragsarbeit. Die beiden kommen sich schnell näher. Als Agnes erfährt, dass er sich einst auch mit Prosa versuchte, fordert ihn Agnes auf, eine Geschichte über sie zu schreiben. Mehr aus Gefälligkeit, vielleicht auch um Agnes Eindruck zu machen, beginnt er wirklich zu schreiben. Über Agnes, über sie beide, über das Aufkeimen einer Beziehung. Aber beide bleiben einander ein Geheimnis. Agnes bleibt fahrig, von Stimmungen getrieben, er ist mehr verunsichert als verliebt, angezogen von der Abenteuerlust eines kühlen Entdeckers. Eines Tages öffnet er mit Agnes Schlüssel ihre Wohnung, bleibt eine Weile, beginnt zu schreiben, kramt in den Sachen, sieht den einzigen Schmuck an der Wand, ein Poster mit einer Figur des Künstlers Kokoschka mit dem  Titel «Mörder, Hoffnung der Frauen», die Karte eines Freundes und in einer Schublade Tabletten. Während die Geschichte um Agnes auf Papier immer weiter gesponnen wird, er Idylle spriessen lässt, wird die Beziehung der beiden immer gereizter. Erst recht, als Agnes ihm erklärt, sie sei schwanger. Erst recht, als er darauf nicht mit Freude reagiert. Während sie enttäuscht und zornig seine Wohnung verlässt, sie, die schon von ihrer eigenen Familie abgeschnitten lebt, bleibt er, paralysiert, perplex. Er schreibt weiter, in verschiedenen Varianten. So, dass es für den Leser nie ganz klar ist, auf welche Seite die Geschichte nun wirklich kippt.

Der erste Satz im Roman ist: Agnes ist tot. Eigentlich gibt es keinen Zweifel. Und doch gelingt es Buch und Film, ein eigentliches Vexierbild entstehen zu lassen. Film und Buch schaffen es, viel mehr nicht zu erzählen und nur anzudeuten, als es bis in die Feinheiten auszumalen. Peter Stamm deutet vieles nur an, lässt mehr Leerstellen, Lücken, genug Raum für Mutmassungen und Interpretationen. Vielleicht liegt genau hier der Grund, dass der Erstling von Peter Stamm zur Mittelschul- und Hochschullektüre im In- und Ausland gehört.

«Agnes» erzählt von der Einsamkeit der Menschen. Da sind zwei, die lieben und doch nicht zueinander finden. Da sind zwei, die in einer Grossstadt  leben, aber weitgehend isoliert sind. Alles scheint sich nur um die Individuen zu drehen. Es bleibt spürbar kalt. Nicht nur weil Agnes nachts in den Schnee hinausgeht und sich entkleidet. Ein unterkühltes Erzählen, dass man Peter Stamm auch in seinen folgenden Büchern nachsagt.

Buch und Film lohnen sich auf jeden Fall. Ich mag es, wenn ich mit einer ordentlichen Portion Ratlosigkeit zurückgelassen werde. Warum sollen Geschichten alles erklären, alles zu deuten versuchen. Das Leben lässt genauso Lücken, Unerklärliches, Unfertiges, bloss Begonnenes.

Ich bin gespannt auf den neuen Roman von Reter Stamm!

Eine Inhaltsangabe des neuen Romans, der im kommenden Februar erscheinen soll: Christoph verabredet sich in Stockholm mit der viel jüngeren Lena. Er erzählt ihr, dass er vor 20 Jahren eine Frau geliebt habe, die ihr ähnlich, ja, die ihr gleich war. Er kennt das Leben, das sie führt, und weiß, was ihr bevorsteht. So beginnt ein beispiel­los wahrhaftiges Spiel der Vergangenheit mit der Gegenwart, aus dem keiner unbe­schadet herausgehen wird.
Können wir unserem Schicksal entgehen oder müssen wir uns abfinden mit der sanf­ten Gleichgültigkeit der Welt? Peter Stamm erzählt auf kleinstem Raum eine andere Geschichte der unerklär­lichen Nähe, die einen von dem trennt, der man früher war. (aus der Vorschau des Verlags)

160 Seiten, bei S. Fischer, ab 22. Februar im Buchhandel, am 21. Februar Buchtaufe im Kaufleuten Zürich, Moderation Jennifer Khakshouri

Peter Stamm, geboren 1963, studierte einige Semester Anglistik, Psychologie und Psychopathologie und übte verschiedene Berufe aus, u.a. in Paris und New York. Er lebt in der Schweiz. Seit 1990 arbeitet er als freier Autor. Er schrieb mehr als ein Dutzend Hörspiele. Seit seinem Romandebüt ›Agnes‹ 1998 erschienen fünf weitere Romane, fünf Erzählungssammlungen und ein Band mit Theaterstücken, zuletzt die Romane ›Nacht ist der Tag‹ und ›Weit über das Land‹ sowie unter dem Titel ›Die Vertreibung aus dem Paradies‹ seine Bamberger Poetikvorlesungen.

Mit „Kraft“ zum Sieg! Jonas Lüscher ist Träger des Schweizer Buchpreises 2017.

Ein Fest des Buches, literarische Feinkost, leise Stimmen und sprachliches Trommelfeuer, unüberhörbare Gehässig- und Peinlichkeiten, Musik in der Sprache und Besucher, die sich begeistern liessen – das war die BuchBasel 2017. 


Was zu einer Jubiläumsveranstaltung hätte werden sollen, begann schon am Abend vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises 2017 zu stolpern. Mit einem Mal gerieten das Buch, die Literatur, das Lesen, die Autorinnen und Autoren, ihre Verlage und die Absicht, das Buch mit all der Medienpräsenz in den Blick der Öffentlichkeit stellen zu wollen in den Hintergrund. Man liess sich zu Emotionen hinreissen, hätschelte die eigene Empörung. Ausgerechnet in der Literatur, bei der man sich sonst gerne „in der höheren Warte“ weiss, bei der man sich sonst gerne eloquent und wissend gibt, ausgerechnet an einem Fest, das man mit Würde hätte feiern sollen.

Jonas Lüscher ist verdienter Preisträger des 10. Schweizer Buchpreises. Ich gratuliere ihm nicht nur zu seinem Preis, auch für sein literarisches Schaffen und nicht zuletzt für die würdige Art, wie er den Preis entgegengenommen hat. Sein Buch „Kraft“, ein literarisches Schwergewicht, hat alles, was ein Buch für einen solchen Preis braucht; eine bestechende Sprache, eine intelligente Geschichte, den Blick in ein „fremdes Land“, Mehrbödigkeit und genug Fleisch, um sich daran die Zähne auszubeissen.

Speziell hervorheben möchte ich zwei Namen; einen, den ich schon lange kenne und der mich mit nicht nur überraschte, sondern mit seiner Art des Erzählens förmlich verzückte – und eine, deren Namen ich bislang nicht kannte, einen Namen, den es aber unbedingt zu entdecken gilt.

Der 1962 in Dresden geborene und in Berlin lebende Ingo Schulze, schon lange eine Grossmacht in der deutschen Literaturszene, schrieb mit seinem neusten Roman „Peter Holtz – Sein glückliches Leben erzählt von ihm selbst“ die Geschichte eines reinen Tors. Peter Holtz ist einer, der das Gute will, nur das Gute. 1974, kurz vor seinem 12 Geburtstag haut er ab aus einem sozialistischen Kinderheim auf der Suche nach der besseren Welt, auf der Suche nach Menschen wie ihm, die ungebrochen an den real existierenden Sozialismus glauben. Der überaus witzige und tiefsinnige Roman erzählt in einem langen Bogen bis ins Jahr 1998, als aus dem bettelarmen Jungen ein wider Willen schwerreicher Mann geworden ist, dessen Tun und Lassen sich ohne Absicht in Gold und Geld verwandelt. Ingo Schulzes Roman beschreibt die Wendezeit der deutschen Geschichte. Er erzählt aber nicht bloss, sondern stellt mit seinem Erzählen ganz grundsätzliche Fragen. Ingo Schulze erzählt leicht, lädt mich ein, an der Seite eines Andersartigen die Suche nach dem Glück aufzunehmen. Lesen!

Und Rosa Yassin Hassan, eine aus Syrien geflohene Schriftstellerin und Bloggerin, die seit 2012 in Hamburg lebt und arabische Literatur unterrichtet. Vom Schriftsteller Yusuf Yeşilöz im Namen des DeutschSchweizer PEN Zentrums eingeladen ist Rosa Yassin Hassan auf einer Lesereise mit ihren Romanen „Ebenholz“ und „Wächter der Lüfte“. Am 15. November, am Writers in Prison Day wird in vielen Ländern verfolgter Schriftstellerinnen und Schriftsteller gedacht. Wäre Rosa Yassin Hassan 2012 nicht aus Syrien geflohen, wäre sie wegen ihrer ganz offenen Kritik in ihrem Blog an der Syrischen Regierung und ihrem Diktator Baschad al-Assad mit Sicherheit eingesperrt und gefoltert worden, wie viele ihrer Freunde, Verwandten und Gesinnungsgenossen. „Schreiben ist meine Krankheit und meine Therapie, die Erinnerung eine tödliche Last“, verrät die Autorin im Interview mit Michael Guggenheimer, Schriftsteller und Journalist. Rosa Yassin Hassan will eine Brücke sein zum Verständnis der arabischen Kultur, die alles andere als deckungsgleich mit islamischer Kultur ist. Sie schreibt und spricht über Tabus; Religion, Politik und nicht zuletzt über Sex. Schreiben in einer Umgebung, die in Europa vollkommen anders ist als in ihrer Heimat Syrien, einem Land, dessen Infrastruktur heute zu 70% zerstört ist. Die Autorin entschied wie viele andere, die aus Syrien flohen, nie, Flüchtling zu werden. Sie sei schlicht zur Flucht gezwungen worden, aus einem Land, in dem nichts mehr funktioniert, in dem man in jedem Augenblick mit dem Tod bedroht ist. Was im Büchlein „Eine fatale Sprayaktion – Die Geschichte dreier Freunde in Syrien“ als Revolution die Welle zum Überschwappen brachte, ist längst zu einem verlorenen Bürgerkrieg geworden. Rosa Yassin Hassan kämpft mit Worten weiter.

Illustration von Benjamin Güdel zum Büchlein „Eine fatale Sprayaktion – Die Geschichte dreier Freunde in Syrien“ SJW 2544 von Rosa Yassin Hassan

Webseite von Ingo Schulze
Webseite des Illustrators Benjamin Güdel

Titelfoto: Werner Biegger

Carmen Stephan «It’s all true», S. Fischer

Orson Welles, 1941 mit «Citizen Kane» eben berühmt geworden, dreht 1942 verschiedene Dokumentarfilme über Lateinamerika. Darunter auch «Jangadeiros» (auch bekannt als «Vier Männer auf einem Floß»), die Geschichte armer Fischer, die sich gegen Unterdrückung und Ungerechtigkeit auf einen langen Weg übers Meer aufmachen. Eine zweimonatige Reise auf einem Floss, ohne Kompass, aber mit dem Willen, ihre Welt zu verändern.

Nachdem Jacaré, ein einfacher Fischer aus dem Nordosten Brasiliens, zwei Jahre mit seinen Gedanken und Plänen im Kopf die Idee zur Tat werden liess, fuhr die Janganda São Pedro am 14. September 1941 mit Kurs auf Rio hinaus aufs Meer. Eine Reise, die 2381 km und 61 Tage lang dauern sollte und Jacaré mit seinen drei Gefährten in Gebiete führen sollte, die sie zuvor mit ihren einfachen Flossen nie befahren hatten. Ein waghalsiges Unternehmen, um in Rio vor dem brasilianischen Präsidenten und Diktator Getulio Vargas ihr Recht einzufordern. Als die erfolgreiche Reise in der Presse ihre Runde machte, erfuhr auch der junge Schauspieler und Filmemacher Orson Welles von dem mutigen  Unternehmen und wollte mit den Akteuren selbst dieses Abenteuer nachspielen. «Ich will, dass ihr es genauso macht, wie es war», soll Orsen Welles die vier Männern beschworen haben. Doch bei den Dreharbeiten zu dem Film reisst eine Welle Jacaré von seinem Floss – und er verschwindet im Meer. Zurück bleibt Jacarés Frau mit ihren gemeinsamen Kindern und Orson Welles, ohne dessen Ansinnen es diesen Tod so nie gegeben hätte.

Carmen Stephan hätte die Geschichte einfach nacherzählen können. Sowohl das einfache Leben der Fischerfamilien, die ungeheure Reise entlang der brasilianischen Küste auf einem Gefährt, das uns Europäer zur Hochseefahrt kaum geeignet erscheint, wie der Wille und die Entschlossenheit von vier Fischern, die ihr Leben riskieren, um auf einer Reise ins Ungewisse ihr Recht einzufordern – alles wäre Stoff genug gewesen für eine Abenteuergeschichte. Eine Story, der man gerne den Untertitel «nach einer wahren Geschichte» dazusetzt. Aber auch die tragische Geschichte der Entstehung dieses Films, der scheinbar lange als verschollen galt und die Wirkung, die er auf den jungen Orson Welles gehabt hatte, wärs wert gewesen, nacherzählt zu werden. Zumal es diese Ungerechtigkeiten, dass Menschen mit ihrer gefährlichen Arbeit kaum ihr eigenes oder das Leben ihrer Familien ermöglichen können, noch immer gibt, nicht nur in Brasilien.

Aber Carmen Stephan, die schon mit ihrem Erstling «Mal Aria» Kritik und LeserInnen überzeugte, macht aus diesen Geschichten viel mehr. Carmen Stephan scheint durchdrungen zu sein von Bildern, Symbolik, dem Mut der Fischer, dem Leid der Familien und dem Hunger eines jungen Hollywood-Regisseurs. Was sie in ihrem Buch «It’s all true» tut, ist die Umsetzung all dieser Geschehnisse in eine Parabel auf die Wahrheit. In einer Sprache, die poetisch und verdichtet wie in Stein gehauen von den Urgeschichten der Menschheit erzählt; der Liebe zur Familie, dem Kampf ums Überleben, der Faszination des unmöglich Scheinenden, dem Mut der Verzweifelten. Carmen Stephan kommt in dem schmalen Roman ihren Gestalten dabei so nah, dass es mir nach der Lektüre des Buches fast unmöglich erscheint, so einfach zur Tagesordnung überzugehen. Das Buch ist voller Weisheit, voller Sprachmusik, intensiv und expressiv. Ein Buch mit Sätzen, die sich tief einbrennen. Ein Buch, das in meinem Regal einen ganz besonderen Platz bekommen wird!

Gekauft habe ich das Buch im «Bücherschiff» in Konstanz, einer ausgezeichneten Buchhandlung im Herzen der Altstadt. Einer Oase des guten Geschmacks in vollkommener Umgebung!

Carmen Stephan, 1974 im bayrischen Berching geboren, arbeitete mehrere Jahre als Autorin in Brasilien. Heute wohnt sie in Genf. 2005 erschien der Geschichtenband «Brasília Stories» und 2012 ihr erster Roman «Mal Aria», für den sie mit dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung 2012 und dem Debütpreis des Buddenbrookhauses 2013 ausgezeichnet wurde.

Film: «Vier Männer auf einem Floss»

Titelfoto: Sandra Kottonau

PS Noch immer wünsche ich mir Freundinnen und Freunde von literaturblatt.ch, die beim 1. Buchblog Award diesem Blog ihre Stimme schenken. All jenen, die sich bereits an der Abstimmung beteiligten vielen herzlichen Dank!

Ilija Trojanow «Nach der Flucht», S. Fischer

Ilija Trojanow, Weltbürger und Weltenbummler, Schriftsteller und Verleger, Streiter und erklärter Optimist weiss, dass es «nach der Flucht» nicht gibt. Mein irriger Glaube, dass es der junge Syrer im Zugabteil gegenüber geschafft habe, ist Resultat einer Selbsttröstung und Selbsttäuschung. Sie haben es nicht geschafft, sind längst nicht dort, wovon sie träumen. Sie sind abgeschnitten von all dem, was Heimat bedeutet.

Den zwei Mal 99 Gedanken darüber, ob es ein Leben nach der Flucht geben kann, sind zwei Zeilen vorangestellt:
Meinen Eltern,
die mich mit der Flucht beschenkten
was angesichts des Elends vor, während und nach der Flucht fast zynisch klingen mag, ist bei Ilija Trojanow das Bewusstsein, dass man aus einem «Mangel» Reichtum schöpfen kann. Vielleicht ist genau das der Optimismus, der dem Autor auch nach vielen Reisen ans Mark des Geschehens, Begegnungen und Gesprächen mit Fliehenden und Geflohenen trotz allem geblieben ist. Das Wissen darum, dass man den Kampf auf- und annehmen kann, statt sich hinter dem Tropfen auf den heissen Stein zu verstecken.

Ilija Trojanow zwingt den Leser, sich aufzutun, sich nicht hinter dem Wahn zu verbergen, es gäbe eine gelungene Flucht, es sei schon alles irgendwie gut gegangen. «Nach der Flucht» ist kein Lesevergnügen. Wer sich der Thematik nicht stellen will, lässt das Buch besser liegen. Das Leben nach der Flucht bleibt ein Leben auf der Flucht. Selbst jene, die sich hinter Zäunen und Mauern, Ideologien und Strategien verstecken, sind auf der Flucht; auf der Flucht vor der Realität, auf der Flucht davor, zum Hinsehen und Hinhören genötigt zu werden. Ilija Trojanow schont mich nicht. Im Buch geht es nicht darum, was nach der Flucht geschieht, sondern um das Gefühl des Fremdseins, ob daraus ein Mangel oder eine Kraft wird. Trojanows Miniaturen reichen von «einfachen» Fragen, Einsichten, Prosaminiaturen bis hin zu Stichen mitten ins Herz. Keine Nachttischlektüre, wenn man sich den Schlaf nicht rauben lassen will. Aber ein Brevier für unterwegs, um an Bahnhöfen, in Parks und vor Bushäuschen nicht wegzuschauen. Vielleicht als Hilfsmittel stehenzubleiben, wenn nicht physisch, dann zumindest gedanklich, um jenen zuzuhören, die man sonst kaum versteht. Trojanow will verstehen und ist davon überzeugt, das Verstehen-wollen der einzige Weg ist, um nicht in Lethargie oder gewaltsame Ausbrüche zu verfallen. Das schmale Büchlein ist mit Sicherheit Anlass genug, sich in Zeiten neu erstarkendem Nationalismus Gedanken über «Heimat» zu machen. Dringend notwendig!

Ein kleines Interview

Lieber Herr Trojanow, Es ist doch erstaunlich, dass überall gewettert, geschimpft, gelästert und verbal geknebelt wird. Nicht nur in der Politik, sondern immer mehr in der Kultur. Da gibt es Musik, die geisselt und Wut über alles erbricht. Bildende Kunst, sie aufschrecken lässt und einem mit ihrer Wucht erschlägt. Im öffentlichen Raum grassiert der Zorn. Gerichte beklagen sich über Ehrverletzungsklagen wie noch nie.
In Gesprächen und ihren Büchern beschreiben sie den wachsenden Nationalismus als eines der grossen Probleme, die ungehemmte Argumentation von Populisten, die sich nicht an Fakten und schon gar nicht an Respekt und Toleranz halten. Hat die Literatur als letzte die Wut und den Zorn im Griff oder ist es eine Frage der Zeit, bis es auch zwischen Buchdeckeln keift und lästert, weil es die einzige Sprache ist, die «man» noch versteht?
Keifen und Lästern kann auch eine Kunst sein (in Österreich etwa literarisch weit verbreitet). Die Frage ist nur; spricht jemand gegen das (Vor)Herrschende oder reiht er/sie sich ein in den Chor der gegenwärtigen Dummheit, die ja stets existiert, nur ihren Gestank gelegentlich ändert. Wer nicht im Geist des Widerstands schreibt, sollte es gleich sein lassen. Affirmative Wortklauberei gibt es mehr als genug. 

Woher nehmen sie angesichts der globalen Zustände, seien sie nun politisch, gesellschaftlich oder ökologisch, die Zuversicht, den Optimismus? Die Diskussionen darum, ob es angesichts der Weltlage angemessen sei, Kinder zu kriegen, werden nicht leiser.
Die inneren Widersprüche des Kapitalismus sind enorm. Er wird sich nur apokalyptisch halten können. Ich bin zuversichtlich, dass die Menschen erkennen werden, wie viele schönere, bessere, freiere und gerechtere Alternativen es geben könnte als das jetzige brutale, zerstörerische Regime.

«Nach der Flucht» ist ein Aufruf. Und wenn sich viele Menschen nicht trauen, aktiv an den Lösungen rund um die Flüchtlingsproblematik teilzunehmen, dann zumindest gedanklich. Dass sie in ihrem Denken versuchen, neue Positionen einzugehen. Reicht das? Ist es nicht zu sehr Selbsttröstung?
Das Denken und das Reden über Flucht zu verändern ist zentral, als poetisches und als politisches Projekt. Ob Literatur auch tröstend wirkt, wird jeder Leser, jede Leserin selbst empfinden müssen.

Ist all das Geschrei um die nicht enden wollenden Flüchtlingsströme nicht ein Ablenken von den wirklichen Problemen. Es gibt lösbare Probleme und solche, an denen wir, vor allem in ökologischer Hinsicht, wohl nur noch korrigieren können. Ist es nicht einfach die Angst davor, dass Veränderungen unvermeidbar sind?
Es ist ja nicht einmal klar, dass Migration ein Problem ist. Es gibt Ökonomen, die genau das Gegenteil behaupten. Ich antworte ihnen aus England, hier sind zwei Artikel erschienen: der erste Berichtet von der Analyse eines think tanks, dass Grossbritannien jährlich 100.000 Immigranten benötige und der zweite stellt fest, dass Migration wesentlich zum Wirtschaftswachstum der letzten Jahre beigetragen habe (Hier eine Vielzahl an Statistiken:  http://www.economicshelp.org/blog/6399/economics/impact-of-immigration-on-uk-economy/). Zweifelsohne sind ökologische Verwüstung und soziale Ungerechtigkeit viel größere Probleme, als die Diktatur des neoliberalen Wirtschaftswesens.

Vielen Dank für das Interview.

Ilija Trojanow, geboren 1965 in Sofia, floh mit seiner Familie 1971 über Jugoslawien und Italien nach Deutschland, wo sie politisches Asyl erhielt. 1972 zog die Familie weiter nach Kenia. Unterbrochen von einem vierjährigen Deutschlandaufenthalt lebte Ilija Trojanow bis 1984 in Nairobi. Danach folgte ein Aufenthalt in Paris. Von 1984 bis 1989 studierte Trojanow Rechtswissenschaften und Ethnologie in München. Dort gründete er den Kyrill & Method Verlag und den Marino Verlag. 1998 zog Trojanow nach Mumbai, 2003 nach Kapstadt, heute lebt er, wenn er nicht reist, in Wien. Seine bekannten Romane wie z.B. «Die Welt ist groß und Rettung lauert überall», «Der Weltensammler» und «Eistau» sowie seine Reisereportagen wie «An den inneren Ufern Indiens» sind gefeierte Bestseller und wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Zuletzt erschienen bei S. Fischer sein großer Roman «Macht und Widerstand» und sein Sachbuch-Bestseller «Meine Olympiade: Ein Amateur, vier Jahre, 80 Disziplinen».

Titelfoto: Sandra Kottonau

Drei Perlen aus dem 22. Literaturfestival Leukerbad

Die Literatur riss in Leukerbad den Himmel auf!

Literaturfestival Leukerbad, ein literarisches Gipfeltreffen inmitten der Walliser Steilwände und Felszähne. 3’800 Eintritte während drei Tagen! Das Programm aus Lesungen und der «Perspektiven»-Gesprächsreihe war dicht und sehr international: Aus Europa, Asien, Nord- und Südamerika reisten 37 Autoren und Protagonisten ins Bäderdorf.

Liao Yiwu, einer der bedeutendsten chinesischen Avantgarde-Dichter, 1987 in politische Ungnade gefallen, veruteilt, für Jahre ins Gefängnis gesteckt, gefoltert und von seiner Frau zwangsgeschieden, weil die Familie nichts mehr von ihm wissen wollte, spielte Tsiao, eine chinesische Flöte. Ein Instrument, das er während seiner Haft von einem ebenfalls eingesperrten Mönch erlernte. Er spielte, sang und las aus seinem neuen und ersten Roman «Die Wiedergeburt der Ameisen», in dem er die Geschichte seiner Familie mit der seines Heimatlandes verknüpft, das ihn verstossen hat. Er, der kaum je wieder einen Fuss in sein Heimatland setzen wird, las, während auf dem Platz draussen chinesische Touristen vorbeiflanieren.
Robert Menasse, der grosse Europäer, der sich nicht scheut, bei einer Rede an das Europäische Parlament den Anwesenden die Leviten zu lesen und man gespannt auf seinen im September erscheinenden grossen Roman «Die Hauptstadt» wartet. Er bannt mit seinem Erzählen über Europa, während die Pizza im Dorf von Ukrainerinnen serviert wird.
Oder der irakisch-kurdische Schriftsteller und Dichter Bachtyar Ali, der 20 Jahre unentdeckt in Deutschland lebte und in seinem Roman «Der letzte Granatapfel» die gefährliche Reise auf einem Flüchtlingsboot übers Mittelmeer erzählt, eine bildgewaltige Parabel über Unterdrückung und Bruderzwist. Abends dann geniesst man im Restaurant mit Aussicht mediterrane Küche. International – auf jeden Fall.

Drei ganz besondere Perlen möchte ich vorstellen. Drei Bücher, eine Autorin und zwei Autoren, die es zu entdecken gilt, wenn man nicht längst auf sie gestossen ist:

100 Jahre Geschichte eines Landes, das kaum je in den Fokus Europas gerät. Ein Epos über die Folgen der Teilung der koreanischen Halbinsel, eine Spionagegeschichte und gleichzeitig ein politischer und historischer Roman multipliziert mit einer ménage à trois, die zwischen die Fronten gerät. Ein Roman mit gewaltiger und überzeugender Sogkraft. Ein Soziogramm der Lügen und Illusionen. Anna Kim ist in Südkorea geboren, dort aber weder zuhause noch beheimatet. Erstaunlich genug, dass sie immer und immer wieder als Südkoreanerin genannt wird, obwohl sie sich dezidiert gegen eine verortete Heimat ausspricht. Trotzdem beschäftigt sich die Autorin mit der Geschichte ihres Herkunftslandes, den Auswüchsen des kalten Krieges in Südostasien im Willen, diesen Konflikt zu verstehen. «Wie schreibe ich über Vergangenes und Geschichte? Reine Beschreibung reicht mir nicht aus, auch wenn ich mit Recherche tief ins Geschehen eingedrungen bin.» Eine mitreissende Geschichte um Freundschaft, Loyalität, Verrat und das unmögliche Leben in der Diktatur.

Georgi Gospodinov ist der grosse Autor der bulgarischen Literatur. Sein viertes bei Droschl auf deutsch erschienene Buch ist eine Sammlung von Erzählungen. «8 Minuten und 19 Sekunden», die Erzählung die dem Buch den Titel gibt, dauert es, bis das Licht von der Sonne die Erde trifft. Genau so viel Zeit, wie Gerogi Gospodinov dem Leser der Geschichte einräumt, um sich mit seinen gleichsam spielerischen wie apokalyptischen Spielereien auseinanderzusetzen. Vielleicht ein Markenzeichen des Autors, der sich gerne der Faszination der Apokalypse hingibt, ohne literarisch der in Mode geratenen Dystopie zu verfallen. Seine Geschichten entspringen einer Mischung aus Melancholie und Humor, Absurdem und den Erfahrungen aus der bulgarischen Diktatur. Georgi Gospodinov verknüpft Wahrnehmungen, Empfindungen auf seine ganz eigene Art. Für mich eine grosse Entdeckung und ein Versprechen: Höchster Lesegenuss!

John Wray. Ein durch und durch amerikanischer Autor, der 2007 vom Literaturmagazin «Granta» unter die 20 besten jungen US-Autoren gewählt wurde. Aber er spricht deutsch und wird in diesem Sommer in der Arena des Bachmann-Preisschreibens in Klagenfurt mit einem deutschen Text antreten. Ein Amerikaner mit österreichischen Wurzeln und kärntner Akzent. So verzwickt seine Herkunft, so verzahnt sein Roman; eine historisch eingebettete Familiengeschichte über ein ganzes Jahrhundert, wissenschaftliche Einsprengsel über Physik und die Produktion eingelegter Gurken bis hin zum bewusst «schlechten» Science- Fiction und kruden, sektiererischen Verschwörungstheorien. Ein Erzähler, der sich in einer Zeitblase wiederfindet, in der Wohnung seiner schrägen Zwillingstanten, die Tonnen von Zeitungen und anderem Strandgut sammeln. Grotesk, skurril und kompliziert, aber nie unübersichtlich, wabernd in einem natürlichen Chaos, mit Absicht weit weg aller unnatürlichen Chronologie. Ein Buch, dem ich den Spass des Autors auf jeder Seite «anhöre». John Wray, ein ausserordentlich begnadeter Geschichtenerzähler mit cineastischem Blick und liebevollem, schrulligem Witz. Und wenn er liest, wünscht man dem fabulierenden Erzähler, dass die Verpflichtung des Vorlesens nie endet würde.

Wie jedes Jahr war das Literaturfestival Leukerbad ein Ort der Begegnungen. Nicht nur mit Büchern, mit Literatur, mit Lyrik und Romanen, sondern in faszinierenden Gesprächen, solchen auf der Bühne, solchen unterwegs und den vielen vor Ort. Ganz besonders freute ich mich über die Gelegenheit, ein Interview mit der Schriftstellerin Kathy Zarnegin zu führen, über ihren gelungenen Roman «Chaya». In drei Tagen auf literaturblatt.ch!

J. M. Coetzee «Ein Haus in Spanien», S. Fischer

Booker Prize, Nobelpreis – John Maxwell Coetzee braucht keinen Beistand mehr. Schon gar nicht aus der thurgauischen Provinz. Aber es gibt drei Gründe, warum ich doch auf den grossen Schriftsteller und Essayisten hinweisen möchte. Zum einen erschien bei S. Fischer ein schmuckes Bändchen mit drei Geschichten: «Ein Haus in Spanien». Ein schmales Buch, unaufgeregt, das die Stärken des Autors auf wenigen Seiten zeigt. Ein wunderschönes Büchlein, als wäre es mir zum Geschenk gemacht. Und drei Geschichten, die zum Weiterdenken anregen!

Vor ein paar Jahren las J. M. Coetzee schon einmal in Zürich. Und weil ich dachte, Gelegenheiten, ihn zu sehen und zu hören, würden selten genug bleiben, reservierte ich einen Platz früh genug und machte mich am besagten Tag vom Bodensee auf nach Zürich mit einer Tasche voller Coetzee-Romane. Aber als ich zeitlich schon ziemlich knapp, aber meines Platzes sicher vor den Türen des Veranstaltungsortes stand und eine Frau mit Brille die Reservationsliste mit der Nase knapp über dem Papier durchging, entschuldigte sich diese und meinte, mein Name sei nicht zu finden. Ich müsse warten, vielleicht gäbe es kurz vor Beginn noch einen freien Platz, den man mir überlassen könne. Ich stand da wie ein nasser Pudel, liess mich abschütteln, wie einen kleinen Jungen, sass eine  Stunde später wieder im Zug und ärgerte mich nicht über den Veranstalter, sondern über mich, der sich so einfach abschütteln liess.
Aber nun tut es J. M. Coetzee wieder. Er liest am 4. Juli in Zürich am Openair Literatur Festival im Alten Botanischen Garten. Eigens für das Festival präsentiert Coetzee seinen bisher unveröffentlichten Text The Glass Abattoir (Das Glas-Schlachthaus), eine Mischung aus Erzählung, Essay und ethischem Plädoyer. Ausgangspunkt ist die Frage, wie sich ein guter Sohn verhalten soll, wenn ihn die Mutter in einer Spätlebenskrise mit einer Fülle von Materialien über das Verhältnis von Menschen und Tieren bombardiert – und zwar nicht nur mit wissenschaftlichen Texten, sondern auch mit Anklageschriften gegen umstrittene Praktiken wie Vivisektion und industrielle Viehzucht.

Beim S. Fischer Verlag erschien 2017 nun das schmucke Büchlein «Ein Haus in Spanien» mit drei Geschichten, die zwischen 2000 und 2003 zum ersten Mal in den USA veröffentlicht wurden. So wie ich J. M. Coetzee für seine brillanten Romane schätze, für seine Meisterschaft, der Willkür und Gier auf den Nerv zu drücken, grosse Themen mitzunehmen, so liebe ich ihn für sein Feingefühl, Unscheinbares ernst zu nehmen und mehr als nur lesbar zu machen.

Wie schnell geht einem etwas über die Lippen, unüberlegt, dahin geworfen. So wie den Satz: «Ich habe mich in dieses Haus verliebt.» Kann man Dinge lieben? Oder sind Gedanken um solche Aussagen eine altmodische Pedanterie, der Neid eines Mannes, der zu alt, zu unbeweglich geworden ist, sich noch einmal zu verlieben, sei es auch bloss in ein Ding. Aber es ist gleichermassen  subtil und erfrischend, dass sich der Mann der Sprache um Abnützungserscheinungen der Sprache kümmert. Grund zum Kummer darüber gäbe es genug: Sitze ich an meinem Arbeitsplatz bei offenem Fenster, dringen manchmal Gesprächsfetzen von Jugendlichen an mein Ohr. Sie hocken unter meinem Fenster, rauchen, kiffen, schlagen das Rad und übertreffen sich gegenseitig mit verbalen Grobheiten. Da ist dieser eine Satz, dem Coetzee nachhängt kein Hammerschlag. Aber Grund genug, sich über das Wesen und die Launen der Liebe Gedanken zu machen.

J. M. Coetzee, der 1940 in Kapstadt geboren ist und von 1972 bis 2002 als Literaturprofessor in seiner Heimatstadt lehrte, gehört zu den bedeutendsten Autoren der Gegenwart. Er wurde für seine Romane und sein umfangreiches essayistisches Werk mit vielen internationalen Preisen ausgezeichnet, u. a. zweimal mit dem Booker Prize, 1983 für ›Leben und Zeit des Michael K.‹ und 1999 für ›Schande‹. 2003 wurde ihm der Nobelpreis für Literatur verliehen. Coetzee lebt seit 2002 in Adelaide, Australien.

Titelfoto: «Himmel über Meran» ©️ Philipp Frei

literaturblatt.ch fragt, Teil 9, Reinhard Kaiser-Mühlecker antwortet

Ihr neuster Roman „Fremde Seele, dunkler Wald“ erzählt die Geschichte zweier Brüder, deren Biographie sich immer weiter voneinander trennt. Gleichzeitig ist es die Geschichte über den Schmerz des Verlustes; das Zerbrechen der Familie, das Verschwinden eines Ortes, an den man heimkehren kann. Leiden Sie mit, wenn Sie schreiben?
Leiden würde ich nicht sagen, aber so nah an den Dingen, wie man es beim Schreiben ist, ist man sonst kaum je einmal; und zugleich, seltsam, so fern auch den Worten.
     Da ist ein Hof, auf dem drei Generationen leben und leiden. Allen drei Generationen ist es nicht möglich, sich selbst zu retten; nicht dem Jüngsten Jakob, der den Hof sterben sieht, nicht dem Vater, der mit allen unmöglichsten Geschäftsideen Geld machen will und nicht der Grossvater, der wohl  einiges aus seiner Zeit vor Ende des Weltkrieges hinüberretten konnte. Die Familie als Urbühne aller Konflikte?
Als eine zentrale Bühne, ja; aber meine wichtigste bleibt doch der Einzelne («the human heart in conflict with itself», nannte W. Faulkner es) – ob es für das, was ich zeigen will, dann einen Familienzusammenhang braucht oder nicht, entscheidet das Schreiben. 
     Es gibt Schreibende, die Geschichten erzählen wollen, mit Spannung fesseln. Andere, die politische und gesellschaftskritische Inhalte und Meinungen in literarisches Schreiben verpacken. Was wollen Sie mit Ihrem Schreiben? Ganz ehrlich!
Etwas beschreiben, was außer mir keiner beschreiben kann; eine Wahrheit sagen, die außer mir keiner kennt. Aber ich will doch auch spannende Geschichten erzählen, und wenn mir einer sagt, was oft geschieht, er oder sie habe mein Buch wie einen Krimi verschlungen, ist mir das schon ein Lob. 
     Wo und wann liegen in ihrem Schreibprozess der schönste oder/und der schwierigste Moment? Gibt es gar Momente vor denen sie sich fürchten?
Das Schreiben selbst ist das Schönste. Quälendes, das einen Stunden oder Tage oder Wochen beschäftigen kann, gibt es zuhauf, aber Furcht kenne ich keine, höchstens die, keine oder zuwenig Zeit zu haben. 
     Lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen, verleiten, verführen? Spielen andere Autorinnen und Autoren, Bücher (nicht jene, die es zur Recherche braucht), Musik, besondere Aktivitäten eine entscheidende Rolle?
Im Grunde lese ich eher vorsichtig, wenn ich schreibe; aber ich lese immer. In  Zeiten der Schwermut oder der Ausweglosigkeit gehe ich dann zu gewissen Autoren, nicht immer zu den gleichen, wie eine kranke Kuh auf der Suche nach dem heilenden Kraut. 
     Inwiefern schärft Ihr Schreiben Sichtweisen, Bewusstsein und Einstellung?
Das Schreiben ist mir gemäß. Auch das Briefschreiben übrigens, das ich vernachlässige. Ich habe schon sehr schöne Briefe geschrieben in meinem Leben, bin oft Tage an einem Brief (= fast immer Mail) gesessen. Im Gespräch ist mit mir nicht viel anzufangen, immer weniger eigentlich, oder immer mehr fällt es mir auf; sehr oft will ich gar nicht sprechen. 
     Es gibt die viel zitierte Einsamkeit des Schreibens, jenen Ort, wo man ganz alleine ist mit sich und dem entstehenden Text. Muss man diese Einsamkeit als Schreibende(r) mögen oder tun Sie aktiv etwas dafür/dagegen?
Ohne Möglichkeit zum Rückzug kann ich nicht schreiben. Ich suche ihn, den Rückzug, und wenn ich ihn nicht finde, schreibe ich immer bloß Wetternotizen. – Ich gehöre aber nicht zu denen, die gerade sehr viel dagegen haben, Zeit alleine zu verbringen. 

  Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?

Im Augenblick lese ich Franz Tumler, den ich hoch schätze und der wegen seiner NS-Sympathisiererei – und wohl noch mehr, weil er sich hinterher nie so recht distanzieren oder rausreden wollte – ziemlich in der Versenkung verschwunden ist. Zum Glück macht der Innsbrucker Haymon Verlag seit einigen Jahren seine wichtigsten Bücher wieder zugänglich.  
     Frisch hätte wohl auch als Architekt sein Auskommen gefunden und Dürrenmatt kippte eine ganze Weile zwischen Malerei und dem Schreiben. Wären Sie nicht Schriftstellerin oder Schriftsteller, hätten sich die Bücher trotz vieler Versuche nicht verlegen lassen, hätte es eine Alternative gegeben? Gab es diesen Moment, der darüber entschied, ob Sie weiter schreiben wollen?
Ich hätte mir irgendetwas gesucht, wo man keinen Vorgesetzten hat. 
     Was tun Sie mit gekauften oder geschenkten Büchern, die Ihnen nicht gefallen?
Manchmal lasse ich eines auf einer Parkbank liegen.

 

Reinhard Kaiser-Mühlecker wurde 1982 in Kirchdorf an der Krems geboren und wuchs in Eberstalzell, Oberösterreich, auf. Er studierte Landwirtschaft, Geschichte und Internationale Entwicklung in Wien.
Sein Debütroman ›Der lange Gang über die Stationen‹ erschien 2008, es folgten die Romane ›Magdalenaberg‹ (2009), ›Wiedersehen in Fiumicino‹ (2011), ›Roter Flieder‹ (2012) und ›Schwarzer Flieder‹ (2014) sowie ›Zeichnungen. Drei Erzählungen‹ (2015). Für sein Werk wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, darunter dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Kunstpreis Berlin, dem Österreichischen Staatspreis und dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Zuletzt erschien der Roman ›Fremde Seele, dunkler Wald‹ (2016), der für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert wurde.

Anne Weber «Kirio», S. Fischer

Anne Weber fragt: «Wie kommt es, dass Literatur so sehr vom Bösen fasziniert ist? Wäre das Gute nicht viel rätselhafter? Gibt es für das Gute ebenso einleuchtende Erklärungen wie für das Böse; fehlende Liebe, Verletzungen und Enttäuschungen aller Art?» «Kirio», der dem neuen Roman der Schriftstellerin seinen Namen gibt, ist ein Mensch ohne Arg.

Was macht den Durchschnittsmenschen aus? Die massvolle Ansammlung aller möglichen Eigenschaften? Dass es Menschen gibt, die über besondere, nicht immer gute Eigenschaften verfügen, beweisen die Medien erschreckend. «Kirio» ist die Geschichte eines jungen Menschen, dem gewisse «Fähigkeiten» und Eigenschaften wie Machtstreben, Gier, Härte und Erfolgsstreben gänzlich fehlen. Der Urtypus Antiheld, dem alles fehlt, was den Menschen sonst antreibt, vielleicht sogar die Liebe. Kirio, der im Irrenhaus landet nach einem angeblich missglückten Kidnapping des französischen Präsidenten.

Erzählt wird die Geschichte von einer geheimnisvollen Stimme aus dem Äther, einer allgegenwärtigen, die sich selbst zu wundern scheint, dass die Spezies Mensch ein so rares Exemplar hervorbringen kann, eine Figur, die an den heiligen Franziskus erinnert, der mit Tieren sprach.
Kirios Leben verläuft schon im Bauch seiner Mutter nach anderen Regeln. Kirios Geburt wird von einer Stimme am Telefon angekündigt. Es wird eine ausnehmend leichte Geburt, eher Rückenwind verursachend. Die Geburt selbst vollzieht sich im Auto in einem Strassentunnel unter dem Druck der Berge über ihnen. Mit drei Jahren kann Kirio lesen und schreiben und mit sieben soll er in die Klavierklasse am Konservatorium angemeldet werden. Aber Kirio will lieber Flöte spielen, nach seiner Pfeife tanzen. Und noch zwei ganz spezielle Eigenschaften Kirios; er kümmert sich nicht um das Urteil anderer und ist nicht an Konventionen interessiert. Was Kirio jedoch am meisten auszeichnet, ist seine Fähigkeit «Wunder» auszulösen, ohne dass er es selbst bemerken würde. Er verhindert schon als kleines Kind einen Mord durch einen Schrei. Grosse und kleine Wirkungen, ohne dass Kirio sich dessen bewusst wäre. Und wenn er dann später in der Schule als Störefried gilt, dann nicht beabsichtigt oder aus Böswilligkeit, sondern nur schon deshalb, weil er sich im Handstand oder das Rad schlagend fortbewegt, selbst im Klassenzimmer. Sein wirkliches Gesicht aber zeigt Kirio, wenn man ihm begegnet, wenn Menschen nach einer Begegnung merken, wie ihnen unwillkürlich das Herz aufging. Kirio hört zu, allem und jedem, auch einem Tier oder einem Stein, ohne Misstrauen, ohne Hintergedanken, ohne Absicht.
Mit sechzehn haut er ab, geht weg, um irgendwann und irgendwo stehen zu bleiben. Menschen begegnen ihm, berichten von ihm, wundern sich, lieben ihn, ohne ihn zu verstehen, aber mit dem Gefühl, erkannt worden zu sein. «Durch Kirio erhielt die Menschheit Botschaft vom Mars oder von noch weiter weg, von der Herkules-Zwerggalaxie vielleicht, oder von der Kleinen Magellan’schen Wolke: aus einer unbekannten Welt.»

Obwohl in diese Welt geboren, ist Kirio nie wirklich Teil von ihr. Anne Weber interessiert sich für die Wellen, die dieses Leben verursacht, den Schweif, den es hinter sich herzieht. Der Roman klärt nicht auf, bringt mich als Leser kaum in die Nähe Kirios. Kirio bleibt unfassbar, ein Rätsel, unerklärbar für alle, die ihm begegnen auf seiner Odyssee durch eine immer neue Welt. Vielleicht ist Kirio ein Gegenentwurf zum modernen Menschen und der Roman eine Versuchsanordnung mit der Frage, was geschehen würde, wenn jemend ohne Arg nur nach seiner eigenen «Flöte» tanzt. Mit Sicherheit hatte Kirio laut einem Interview ein reales Vorbild, einen Menschen in der Umgebung der Autorin, der ihr ein Rätsel blieb.

Anne Weber interessiert sich für das, was den Menschen ausmachen würde, aber immer mehr zu verschwinden droht. Schon in ihrem vorletzten Roman «Tal der Herrlichkeiten» war es eine Liebesgeschichte der besonderen Art; die Liebesgeschichte zweier Verlorener, zweier verletzter Seelen, die sich treffen und wieder verlieren. So wie sich das Leben Kirios verliert. Anne Weber schreibt anders. So wie sich die Liebenden in «Tal der Herrlichkeiten» oder Kirio nicht um Konventionen scheren, so scheint sich ihr Erzählen nicht an Konventionen zu halten. «Kirio» scheint unbekümmert erzählt, vielleicht weil die Autorin selbst etwas von Kirios kindlich scheinenden Wesenszügen hinüberretten konnte. Kirio ist kein Heiliger, aber ein Mensch ohne Masken. Vielleicht zeichnet Anne Weber jenen Rest, der vom Paradies in den Menschen übrig geblieben ist. «Qui rit» heisst «der lacht», «Kyrios» «das Göttliche, Übermenschliche».

Anne Weber macht Lesen zum Abenteuer.

Anne Weber, geboren 1964 in Offenbach, lebt als Autorin und Übersetzerin in Paris. Zuletzt erschienen bei S. Fischer «Kirio», «Ahnen», «Tal der Herrlichkeiten», «August» und «Luft und Liebe». Ihr Werk wurde unter anderem mit dem Heimito-von-Doderer-Preis, dem 3sat-Preis, dem Kranichsteiner Literturpreis und dem Johann-Heinrich-Voß-Preis ausgezeichnet. Ihre Bücher schreibt Anne Weber auf Deutsch und Französisch.

Ein Interview mit Anna Weber über ihren Roman «Kirio» auf der Verlagswebseite

Titelbild: Sandra Kottonau

39. Solothurner Literaturtage: Manchmal heiss, manchmal lau

Freitag, erster Tag an den Solothurner Literaturtagen. Die Menschen strömen in Säle und Räume, obwohl draussen die Sonne scheint. Auch wenn dem Literaturfestival kein Thema voransteht, versucht man sich angestrengt, den drängenden Fragen der Zeit Raum zu geben; die aktuelle Flüchtlingskrise, wie viel Optimismus die Gegenwart erlaubt und was Fake-News, Populismus und Nationalismus mit der Welt anrichten.

Kathy Zarnegin, die mit ihrem ersten Roman «Chaya» die Geschichte eines jungen Mädchens erzählt, das Teheran verlässt, um in Zürich Schriftstellerin zu werden, sitzt zwischen Ilija Trojanow, dem engagierten Schriftsteller, Verleger und Sachbuchautor und Jonas Lüscher, der nicht erst mit seinem zweiten Roman «Kraft» in aller Munde ist. Ein Gespräch wie ein Paukenschlag zu Beginn der Literaturtage. Ein Gespräch, das klar macht, wie schmerzhaft die Position der Schreibenden sein kann, allein zwischen Geschehen, Fiktion und dem leeren Blatt Papier. Ilija Trojanow nimmt kein Blatt vor den Mund, gibt sich bissig und unnachgiebig, ist überzeugt davon, dass die meisten Politiker von den wahren Problemen der Menschheit ablenken, dass wir in einer Dauerhysterie leben, angestachelt von Politikern und Demagogen, die Ängste schüren. Ausgerechnet in Europa, einer Weltgegend, die sich wie keine andere in nie dagewesener Sicherheit und unanständigem Reichtum abschottet. Trojanow ist klar und unmissverständlich, versteckt sich nicht hinter Begriffen und geschliffenen Sätzen. Er sprudelt, ohne Gespenster an die Wand zu malen. In seinem Buch «Nach der Flucht» erzählt er aus der Perspektive eines ewig Flüchtenden. «Der Flüchtling ist meist ein Objekt. Ein Problem, das gelöst werden muss. Eine Zahl. Ein Kostenpunkt. Ein Punkt. Nie ein Komma. Weil er nicht mehr wegzudenken ist, muss er ein Ding bleiben. Es gibt ein Leben nach der Flucht. Doch die Flucht wirkt fort, ein Leben lang.»

Ebenso eindringlich und beeindruckend der Autritt von Dina Sikirić mit ihrem Debütroman «Was den Fluss bewegt». Dina Sikirić kam zusammen mit ihrer Mutter als kleines Kind von Zagreb nach Basel. In ihrem Roman schreibt sie aus der Sicht eines fünfjährigen Mädchens, äusserst behutsam. Sie schreibt vom schmerzhaften Pendeln zwischen Heimat und Aufenthaltsland. Sie zeichnet Träume und Gefühle, die Welt eines Kindes, das es schafft, sich nicht zu verlieren. Die Geschichte eines Kindes, dem das Fremdsein mehrfach auferlegt wird und aus dem Kampf dagegen, der Sehensucht nach Nähe und Freundschaft einen Lebensmut entwickelt, den ich bis tief im Schreiben der Autorin spüre. Der Saal war so voll, dass man Besucher wegschicken musste.

Dass es aber auch schwierig sein kann, fast unmöglich, bewies ein Gespräch zwischen Jonas Lüscher, der jungen deutschen Schriftstellerin Olga Grjasnowa, die mit ihrem Buch «Gott ist nicht schüchtern» das Schicksal zweier Flüchtenden aus Syrien erzählt, dem Journalisten und Korrespondenten Peter Voegeli und dem Literaturredaktor Hans Ulrich Probst. Das Thema eigentlich wäre spannend gewesen: «Die Macht der Geschichten». Aber ganz offensichtlich liess sich das Gespräch nicht in jene Bahnen lenken, die das Publikum 75 Minuten in den Bann hätte ziehen können. Ein Gespräch, das übel dümpelte, bei dem niemand das Steuer herumzureissen wagte, dafür bis zur Unerträglichkeit in Banalitäten waberte. Ein voller Landhaussaal wartete auf engagierte Statements, darüber, was sich jeder Schreibende erhofft, mit Sicherheit die drei Autoren auf der Bühne, die von ihren Geschichten leben, auch von der Macht ihrer eigenen Geschichte.

Mein ganz persönlicher Favorit des ersten Tages ist Martina Clavadetscher mit ihrem ersten Roman «Knochenlieder», eben besprochen auf literaturblatt.ch. Martina Clavadetscher ist eine Entdeckung, ihr Roman ein sprachliches Kunstwerk, ihr Auftritt erfrischend.